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2022-03-26 07:37:02, Jamal Tuschick

Ein ergreifendes Dokument weiblicher Selbstermächtigung - Die Geschichte der achtzehnjährigen Rahaf Mohammed, die sich ihrer Familie entzog, um frei zu werden, ging um die Welt. Nun erzählt sie selbst.

Staatliche Frauenüberwachungs-App

„Es gibt eine (vom saudischen Innenministerium entwickelte, im Google Play Store oder im Apple App Store verfügbare) App, mit der Männer in Saudi-Arabien ihre Frauen überwachen.“

Rahaf Mohammed © Privat

#SaveRahaf

Sie stammt aus der von den Saudis überwundenen Herrscherdynastie der Schammar. Rahaf Mohammed wächst im vornehmsten Viertel von Ha’il, der Kapitale der Verdrängten, auf. Die besonders konservative Nachbarschaft zelebriert Spielarten der feudal-opulenten Gastfreundschaft in einem Überbietungswettbewerb im Schatten des Jibāl Shammar, mit Blick auf die poetisierten Gipfel Aja und Salma.

Rahaf Mohammed, „Rebellin. Rebellin: Meine Flucht aus Saudi-Arabien oder Wie ein Hashtag mein Leben rettete“, übersetzt von Katharina Martl, C. Bertelsmann, 18,-

Zwei Küchen, zehn Bäder, sechs Wohnzimmer und sechs Autos gehören zu Rahaf Mohammeds häuslicher Umgebung. Die Heranwachsende entwickelt nahezu ohne Referenzen ein kritisches Verhältnis zu der rigid-patriarchalen Stammesgesellschaft mit ihren frauenfeindlichen Normen.

„Lebenszeichen an der Wand (sind) nicht halal … das Gegenteil von halal ist haram – verboten.“

Täglich absolviert Mohammed einen Parcours der Verbote. Gleichzeitig verinnerlicht sie die mündlichen Überlieferungen ihrer weit- und hochgesteckten Herkunftsfamilie.

„Geschichten sind der Klebstoff, der eine Familie zusammenhält.“

Die Klan-Chronik initiiert den Nachwuchs und stimmt ihn ein auf ein Regime der doppelten Standards. Die institutionalisierte Heuchelei degradiert „die Frau zum Objekt einer männlichen Reinheitsobsession“.

Mohammed „sammelt Erinnerungen“, die niederschmetternden Erfahrungen eine folkloristische Aureole geben. Die Machtverhältnisse offenbaren sich nicht zuletzt in dem Umstand, dass Rahafs Vater Mohammed Mutlaq al-Qunun, Gouverneur von Al Sulaimi, nicht mit ihrer Mutter, sondern mit seiner viel jüngeren, dritten Frau zusammenlebt.

Mohammeds Mutter befindet sich in der peinlichen Lage einer Abgefundenen. Sie bewegt sich auf einem Luxusabstellgleis als standesgemäß Abgehängte. Mohammed verwirft alle vergleichbaren Arrangements für ihre eigene Zukunft. Sie will weg. Eine Reise nach Kuwait nutzt die Mutige, um sich Richtung Westen abzusetzen.

„Meinen Pass bewahrte mein ältester Bruder auf. Alles hing daran, an diesen Pass zu kommen und ihn zu verstecken, bis sich eine Möglichkeit zur Flucht bot. Ich gab mir alle Mühe, gelassen zu wirken, mimte die pflichtbewusste Tochter, die für die Ferien packt, und versuchte, die immer wieder aufwallende Panik in den Griff zu bekommen.“

*

Mohammed weiß, dass sie routinierten Jägern entkommen muss.

Sie bringt ihren Pass an sich, auf dessen verfügbaren Besitz sie als Frau keinen Anspruch hat, und vernichtet ihre SIM-Karte. Sie zeigt alle Qualitäten einer Digital Native. Mohammed bucht das Taxi zum Flughafen, den Flug nach Bangkok. Bereits auf den ersten Schritten in die Freiheit unterschreitet sie die orthodoxen Bekleidungsvorschriften. Sie orientiert sich an den Erfahrungen anderer saudischer „Ausreißerinnen“.

Sie fliegt ab mit einem Touristenvisum für Australien. Auf dem Suvarnabhumi International Airport pirscht sich ein saudischer Botschaftsmitarbeiter an. Ohne seine Identität preiszugeben, kassiert er - unter einem fadenscheinigen Vorwand - Mohammeds Papiere.

„Der Mann bat mich um die offiziellen Dokumente: das Rückflugticket, meinen Pass und die Hotelbuchung – alle Papiere, die man braucht, um ein Visum zu beantragen.“

Sicherheitskräfte setzen Mohammed im Miracle Transit Hotel fest.

“A transit hotel is a short-stay hotel that is situated in the transit zone of international airports, where passengers on extended waits between planes.” Wikipedia

„Ich begriff, dass das Böse über das Gute siegt“

In einer aufschlussreichen und herzzerreißenden Rückblende beleuchtet die Autorin ihre Kindheit und Jugend unter den Vorzeichen frauenfeindlicher Repression. Dazu bald mehr.

*

Mohammed empowert sich in ihrem Hotelzimmerarrest. Sie geht sofort online und berät sich mit anderen Freiheitskämpferinnen. Die Kombattantinnen raten ihr:

„Sag deinen Namen und zeig dein Gesicht, sonst bist du tot.“

Mohammed erklärt ihre Lage via Twitter. Der Hashtag #SaveRahaf kommt auf, zeitgleich mit jeder Menge islamistischer Verwünschungen. Die australische Reporterin Sophie McNeill kontaktiert für Mohammed Human Rights Watch International und Amnesty International in Bangkok und Sydney.

McNeill fliegt nach Bangkok und verbarrikadiert sich gemeinsam mit Mohammed.

„Die Tür war mit gestapelten Möbeln verstellt. Mein Appell an die Vereinten Nationen war abgeschickt. Er lautete: ‚Ich komme nicht heraus, bis das UNHCR hier ist. Ich fordere Asyl.‘“

McNeill erhöht professionell den Druck auf die Öffentlichkeit. Es geht darum, Mohammed nicht sang- und klanglos in den Verließen der saudischen Religionspolizei verschwinden zu lassen. Trotzdem ist ihre Abschiebung rasch beschlossene Sache. Am 7. Januar 2019 soll sie zurück nach Kuwait fliegen.

Bald mehr.

Aus der Ankündigung

Der Hashtag #SaveRahaf ging im Januar 2019 innerhalb von Stunden um die Welt. Die damals 18-jährige Rahaf Mohammed rief via Twitter um Hilfe, verschanzt in einem Hotelzimmer in Bangkok, auf der Flucht vor ihrem Leben in Saudi-Arabien und ihrer Familie, die sie körperlich wie seelisch misshandelt hat. Eine Abschiebung durch die thailändischen Behörden hätte ihren Tod bedeutet. Aber ihr verzweifelter Appell im Netz wird gehört und innerhalb kürzester Zeit geteilt. Die Vereinten Nationen nehmen sich ihrer an, und Rahaf bekommt in Kanada Asyl. In diesem Buch erzählt sie ihre dramatische Geschichte: von der Unterdrückung als Frau in Saudi-Arabien, der Bedrohung durch ihre Familie, ihrer riskanten Flucht, ihren Ängsten, ihren Träumen und Idealen und ihrem Neuanfang in Freiheit.

Rahaf Mohammed wurde 2000 als Tochter eines hochrangigen Politikers in Saudi-Arabien geboren und gemäß einer sehr strengen Auslegung des Islam erzogen. Mit achtzehn beschloss sie, dem Leben in Unterdrückung, das Frauen in ihrem Heimatland zugedacht ist, zu entkommen, setzte sich während eines Familienausflugs ab und floh nach Bangkok. Hier wurde sie von den thailändischen Behörden festgehalten, schaffte es aber, mithilfe ihres frisch eröffneten Twitter-Accounts die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und so Asyl in Kanada zu erhalten. Heute engagiert sie sich von dort aus als Aktivistin für die Rechte von Mädchen und Frauen in Saudi-Arabien.