Geboren am 2. Februar 1882, machte James Joyce mit der Veröffentlichung des „Ulysses“ seinen vierzigsten Geburtstag 1922 zum Meilenstein der Literaturgeschichte. Suhrkamp nimmt den Geburtstag und das Jubiläum eines Großmeisters der Moderne zum Anlass für eine weitere Ausgabe der sagenhaften Wollschläger-Übersetzung aus dem Jahr 1975. Hans Wollschlägers Auftritt als Übersetzer evozierte das Kolossal einer postumen Kollaboration, wenn nicht sogar einer Transition aus der anderen Welt; so als sei Joyce wegen Wollschläger noch einmal vom Olymp gestiegen, um dem einsamen Titanen im Zwergenland BRD mit Eingebungen auf die Sprünge zu helfen und ihm die richtigen Deutungsnoten zu soufflieren.
„Der Tag war bezaubernd“, heißt es lapidar am Morgen des 16. Junis 1904. Leopold Bloom erforscht sein Revier und denkt sich seinen Teil zu jedem Detail des Alltagsparcours. Er bemerkt die dünnen Socken und schiefen Knöchel eines Geistlichen, von dem ihn das Glaubensbekenntnis vor allem trennt. Trotzdem kennt Bloom die Formeln, die im katholischen Irland so beiläufig aufgeblasen werden wie Kaugummis. Die Liturgie als Litanei.
James Joyce, „Ulysses“, Roman, auf Deutsch von Hans Wollschläger, Suhrkamp, 18,-
Man muss den „Ulysses“ begehen wie einen Kontinent. Den Mehrwert der tausend Querverweise als Prisen der Aufmerksamkeit streicht ein, wer sich in dem Werk so erinnert wie im eigenen Leben.
Zweihundertfünfzig Seiten vor dem heutigen Einstieg spreizt sich der Privatschulimpresario Mr Daisy mit ein paar akademisch aufgerüschten blumigen Binsen. Er fühlt dem Hilfslehrer Stephen Dedalus auf den Zahn mit bizarren Fragen.
Woher kommt der Stolz „des Engländers“? Warum kann sich Irland, „die Sau, die ihre Ferkel frisst“, rühmen nie Schauplatz eines antisemitischen Pogroms gewesen zu sein?
Daisy beantwortet sich hämisch die eigenen Fragen, angesichts eines Gegenübers, das mit den Achseln so zuckt wie man mit den Händen ringt vor Verzweiflung.
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Blooms Signatur ist die Mittelmäßigkeit, gepaart mit einer erotischen Neigung zur Unterwerfung. Die Wissenschaft weist ihn als eine vulgarisiert-gealterte Ausgabe seines juvenilen Gegenspielers Stephen Dedalus aus. Dessen Wesen bestimmt der Hochmut und das Leiden an den mediokren Zeitgenossen, zumal in der Spielart von Angehörigen.
In einen Bruder investierte James Joyce nebenbuhlerische Phantasien. Stanislaus schwang sich temperamentvoll zu des Bruders Hüter auf.
Kein Zweifel besteht daran, dass sich Joyce seinen Hauptprotagonisten so eingeprägte wie ein Münzprofil. Auf der Schmuckseite stromert Stephen D. angestochen und übersteuert durch Dublin. Auf der Speckseite erliegt der träge L. Bloom seiner Indolenz.
Tatsächlich habe ich das Wort Indolenz zum ersten Mal in diesem Kontext kennengelernt, gemeinsam mit dem Begriff Idiosynkrasie. Stephens (ich kann ihn nur mit seinem Vornamen ansprechen) angeblich angeborene Überempfindlichkeiten treffen auf Blooms bräsigen, leise vor sich hin gerülpsten Schwall ins All. Die Rede ist vom berühmtesten Soliloquium der Literaturgeschichte. Erfunden wurde der Stream of consciousness als Monologue interiéur von Édouard Dujardin; so wie eben auch die Montagetechnik Cut-up von Brion Gysin zu William S. Burroughs nach oben weitergereicht wurde.
Maultaschen des Ungenügens
Stephens ontologische Sicherheit erscheint unverbürgt, während Blooms Selbstbegriffe mit lauter Trivialitäten gefüllt sind. Joyce wird nicht müde, die Rouladen der Dummheit auseinander zu zupfen. Das ist der Witz des „Ulysses“. Das unbefestigte Selbst des Genies begegnet dem hermetischen Quatsch des Gedankendiscounters Bloom.
Bald mehr.
Obwohl ich beinah ein Kind noch war, blickte ich der „neuen Übersetzung“ des „Ulysses“ mit den hochgespannten Erwartungen eines erfahrenen Lesers entgegen. Die vor ihrem (mehrmals herausgeschobenen) Erscheinen in den Himmel gelobte Publikation trumpfte mit einer marktschreierischen Ankündigungsgeschichte auf. Sie gebar ihr eigenes Gerücht. Angeblich sei es Hans Wollschläger in seiner Eigenschaft als Übersetzer gelungen, dem Jahrhundertwerk nicht bloß kongenial gerecht zu werden, sondern überdies mehr Bedeutungsebenen herauszuschlagen als in dem hyperträchtigen Text bisher ins Gespräch gebracht worden waren. Wollschläger kursierte als einäugiger Solist unter lauter blinden Elfenbeinturmbewohner:innen. Sein Adel rührte von Arno Schmidt persönlich. Ehrfürchtig sprach die Gemeinde von der „Wollschläger-Ausgabe“.
Arno Schmidt erhob nicht nur Hans Wollschläger in den Adelsstand. Er hatte sich auch selbst ein Denkmal von Bismarck’schen Dimensionen mit der schlichten Feststellung errichtet: dass es in Deutschland keine hundert Leser:innen gäbe, die sein Billet fürs Pantheon, namentlich Zettel’s Traum, zu würdigen die Intelligenz besäßen.
Ich glaubte das so gewisslich, wie ich einst an den Weihnachtsmann geglaubt hatte. Was von Suhrkamp kam, war sowieso heilig. Joyce, ich vernahm den Namen so wie den vorgestellten Bond, mein Name ist Bond, James Bond, erschien mir als das erreichbare Genie (der erweiterten Gegenwart); dies im Vergleich und Gegensatz zu Kafka, Proust, Musil.
Das war Instinkt. Es konnte gar nichts anderes sein. Ich war vierzehn. Frei von Anhaltspunkten wusste ich, was für mich funktionierte. Jeder literarische Debütant braucht seinen Kafka. Mein Kafka hieß Joyce.
Der „Ulysses“ beginnt mit einer Kaskade von Herabsetzungen. Joyce‘ jugendlicher Stellvertreter, der flüchtige Stephen Dedalus, erleidet seine Deklassierung.
Der Autor baut einen einfachen Gegensatz auf. Der von Haus aus insolvente, mörderisch hochfahrende, grundfeige, von allem Heroischen abgestoßene Stephen lässt sich von dem tüchtigen und zynischen Famulus Buck Mulligan heimleuchten. Die beiden bilden (gemeinsam mit dem Engländer Haines) eine Wohngemeinschaft in einem Wehrturm*.
*„Dem „Martello-Turm in Sandycove, Dublin“. Wikipedia
Joyce historisiert nicht. Es gibt keinen gälischen Akzent in seiner Prosa. Das Personal wirkt seltsam ungerührt in nationalen Belangen. Bedenkt man die blutige Geschichte Irlands, sowie jene antibritische Militanz, deren Begriffe geprägt wurden, während Joyce schrieb, erkennt man eine Position des Autors, die in der Rezeption kaum je Beachtung fand.
Von Hochmut getränkte Defizite
„Komm rauf, Kinch! Komm rauf, du feiger Jesuit!“
Das ist die erste Ansprache des Helden. Zwar wurde er jesuitisch erzogen, doch hat sich Stephen vom Glauben weit entfernt. So weit, dass er seiner Mutter an ihrem Sterbebett das gemeinsame Gebet verweigerte.
Buck kommt auch darauf zu sprechen. Er tritt als Herold auf, der Stephens von Hochmut getränkte Defizite verkündet. Trotzdem wirkt der strotzende Student fahrlässig grob im Vergleich mit dem eigensinnigen Schwächling, der von einem unerklärlichen Gefühl der eigenen Bedeutung angehoben wird.
„Ein freundliches Lächeln brach gelassen über seine Lippen - A pleasant smile broke quietly over his lips.“
Über wessen Lippen? Von wem ist gerade die Rede?
Joyce schildert Stephen als intransigent zurückweichenden Charakter. Zwar duckt er sich vor dem überschäumenden Großmaul, aber stets nur unter dem Vorbehalt der Ranküne.
Stephen lauert Buck gedanklich auf. Er verharrt auf der „Kante des Geschützlagers gestützt, still weiter beobachtend“. Die olle Militärarchitektur ist aus „schartigem Granit“.
Der 2. Februar 1922 hat Literaturgeschichte geschrieben: An diesem Tag, dem 40. Geburtstag von James Joyce, erschien in einer Auflage von 1 000 nummerierten Exemplaren die Erstausgabe des Ulysses, verlegt durch Sylvia Beach, Besitzerin der Buchhandlung Shakespeare and Company, in Paris. Die Publikation des Romans war ein Skandalon: als blasphemisches und pornografisches Machwerk verdammt, wurde es bald in mehreren Ländern zensiert oder verboten. Dies hat den epochalen Erfolg des Ulysses nicht aufhalten können: Längst gilt es als einer der einflussreichsten Romane der Moderne, als ein Jahrhundertwerk. Und es ist ein Buch, das man wieder und immer wieder lesen kann und das mit jedem neuen Lesen weitere Geheimnisse preisgibt. Wer es noch nie gelesen hat oder es wiederlesen möchte, hat nun die Wahl: Anlässlich des 100. Jahrestags seiner ersten Publikation wird der Ulysses in vier schön gestalteten Ausgaben mit jeweils verschiedenfarbiger Prägung vorgelegt – zum Verschenken und Sich-selber-schenken.
James Joyce wurde am 2. Februar 1882 in Dublin geboren, wo er in schwierigen und ärmlichen Familienverhältnissen aufwuchs. Joyce studierte am University College von Dublin moderne Sprachen, u.a. Englisch, Französisch und Italienisch. 1902 ging er nach Paris, um ein Medizinstudium zu beginnen. Er wandte sich dort aber dem Schreiben zu und führte einen ausschweifenden Lebensstil. 1903 kehrte er nach Dublin zurück, konnte dort jedoch nicht Fuß fassen. Mit seiner Geliebten und späteren Ehefrau Nora Barnacle siedelte er 1904 auf den Kontinent über und lebte hauptsächlich in Triest. Er schrieb Kurzgeschichten und überarbeitete seinen ersten Roman Stephen Hero, der später als A Portrait of the Artist as a Young Man (Porträt des Künstlers als junger Mann) veröffentlicht wurde. 1914 erschien Joyces erste Kurzgeschichtensammlung Dubliners. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zog er mit seiner Familie nach Zürich, wo sein bekanntestes Werk Ulysses entstand. Der Roman wurde 1918-1920 in Auszügen in der amerikanischen Zeitschrift »The Little Review« abgedruckt; 1921 wurde er wegen obszöner Inhalte verboten. 1922 erschien Ulysses schließlich in (zensierter) Buchform in der Pariser Buchhandlung »Shakespeare and Company«. 1920 zog Joyce auf Einladung seines Freundes Ezra Pound nach Paris, wo er bis zu Frankreichs Besetzung im Zweiten Weltkrieg lebte. Dort entstand sein letzter Roman Finnegan’s Wake (Finnegans Totenwache), der 1939 veröffentlicht wurde. James Joyce starb am 13. Januar 1941 in Zürich.