Er weiß sich so selten nicht „bei bestem Wohlsein“. Der Schriftsteller hebt sich als ein „von Gott langatmig geschaffener“ apollinischer Akteur hervor. Thomas Mann steht mit siebzig fest im Fleisch. In Kalifornien feiert er, nach lauter Bestätigungen seiner Ausnahmestellung, nicht bloß die Magie des Erzählens, sondern überdies sich als Magier.
Theodor W. Adorno/Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, Suhrkamp, 24.90 Euro
Im Doktor Faustus sei es ihm gelungen, so schallt es von europäischen Emporen des Feuilletons, einer erträumten Musik Romanrealität zu geben.
„Nach Noten bringt er uns bei – wahrhaftig nach Noten, wie der Tondichter sie setzt – was von der Welt zu halten ist.“ Das schreibt Alexander Moritz Frey 1947 in einer Schweizer Zeitung. Der Kritiker erkennt „profunde“ musikalische Kenntnisse des Autors.
Was aber ist die Wahrheit?
Thomas Mann schnorrte bei Adorno Spezialwissen.
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Aus der Ankündigung
Im Dezember 1945 schrieb Thomas Mann jenen berühmten Brief an Theodor W. Adorno über das Prinzip der Montage in seinem Roman Doktor Faustus, verbunden mit der Einladung, gemeinsam »darüber nachzudenken, wie das Werk – ich meine Leverkühns Werk – ungefähr ins Werk zu setzen wäre«. Die enge Zusammenarbeit an den Spätwerken Adrian Leverkühns – Adorno verfaßte detaillierte Entwürfe, die im Anhang des Bandes abgedruckt sind – wurde zur Grundlage dieser Korrespondenz, die in einer sehr ungewöhnlichen Begegnung von Tradition und Moderne entstand und in diesem Spannungsfeld bis zum Tode des Dichters andauerte.
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„Keineswegs gebe ich mich der Illusion hin, als könne ich an die Wurzeln der Erscheinungen dringen.“ Hans Magnus Enzensberger in einem Brief an Theodor W. Adorno 1965
„Geliehen“ nennt Enzensberger den von Adorno kreierten „Fond seiner Untersuchungen“. Das beschreibt ein Standardverfahren der Literaturproduktion. Enzensberger spielt den Trabanten im Kraftfeld einer pontifikalen Potenz. Der Ältere lässt sich die Artigkeiten des Pseudo-Adoranten gefallen.
Auch Thomas Mann schmeichelt Adorno zu seinem räuberischen Vorteil. Der begabte Laie lässt dem musikanalytischen Genie den Vortritt und amüsiert sich gekonnt über die eigenen Lücken. Doch bleibt er zielstrebig und hartnäckig, sobald es darum geht, das eigene Werk mit fremden Federn zu schmücken. Als Mythomane weiß Thomas Mann, dass die Ungerechtigkeit der Geschichte dafür sorgen wird, Adorno (als Sherpa einer literarischen Gipfelbesteigung) schließlich wie einen Wasserträger aussehen zu lassen.
Musikalisches Bildgebungsverfahren
Irgendwo erwähnt Adorno Heideggers Hölderlin-Deutung. Heidegger messe seinem Helden zwar „metaphysische Dignität“ zu, zeige sich aber dem „spezifisch Dichterisches (gegenüber) ... höchst gleichgültig“. Thomas Mann balanciert auf der Gegenschräge. Er begreift Sprache als musikalisches Bildgebungsverfahren.
„Was ich brauche“, erklärt Thomas Mann dem Überlegenen in einem Brief, „sind ein paar charakterisierende … Exaktheiten, die dem Leser ein … überzeugendes Bild geben“.
Thomas Mann lädt Adorno ein, mit ihm gemeinsam über etwas nachzudenken, dass allein Adorno zu denken vermag. Er fordert A. auf, ihm „ein oder das andere musikalische Merkmal zur Förderung der Illusion in die Hand zu geben“. Dem Schriftsteller schwebt „etwas Satanisch-Religiöses, Dämonisch-Frommes … und verbrecherisch Wirkendes“ vor.
Sie verehren sich und sind verliebt in den Esprit des Anderen. Als Agenten des beharrenden Fortschritts daran gewöhnt, dass ihnen kaum je ein(e) Zeitgenoss:in das Wasser reichen kann, genießen sie es, in der Gegenwart eines Gleichgroßen klein beizugeben. Thomas Mann diskutiert mit dem Kongenialen Produktionsfragen, die in die Ziselierungen reichen. Der Meister leidet unter seinem Eskapismus. Ihn reitet ein Teufel der Montage. Nun rechtfertigt er sich vor einem, der das Problem begreift.
Zweifellos finden beide es anstößig, zu montieren. Das Verfahren rangiert dich neben der Eskamotage, ein Wort, das ich zuerst bei Adorno fand. Auch Kolportage ist nicht weit weg von Montage.
Ein Thomas Mann kolportiert und kollaboriert nicht. Der Mann kooperiert kaum je. Hat er nicht nötig. Das gleiche solistische Trimmdich-Programm auf einem Hochparcours der geistigen Überlegenheit absolviert selbstverständlich der ins Vertrauen gezogene Adorno.
Heute besprechen wir einen Brief, den Thomas Mann am 30. Dezember 1945 am San Remo Drive* verfasst.
*„Das Thomas-Mann-Haus ... in Pacific Palisades, Los Angeles, im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien ist das ehemalige Wohnhaus des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, der darin mit seiner Familie während seines Exils von 1942 bis 1952 lebte. Das vom Architekten Julius Ralph Davidson entworfene Haus am San Remo Drive Nummer 1550 wurde in den Jahren 1941/42 erbaut.“ Wikipedia
Die im Fleisch vermiedene Geliebte
Nun zieht sich die Montage „durch das ganze (Manuskript*), ohne ein Hehl aus sich zu machen“. Thomas Mann kolportiert die Symptome Nietzsche’s (Originalschreibweise, sächsischer Genitiv), „wie sie in seinen Briefen vorkommen“.
Thomas Mann „benutzt das Motiv … der im Fleisch vermiedenen … Geliebten“. Die freundlich-zupackende Übernahme und geistige Anleihe bezieht sich auf ein berühmtes Arrangement. Die noble Witwe Nadeschda Filaretowna von Meck verabredete mit dem Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski einst die Vermeidung des leiblichen Kontakts unter den vollen Segeln eines regen geistigen Austauschs.
„Damit begann eine fast 14-jährige Korrespondenz, in deren Verlauf 1204 Briefe gewechselt wurden. Ungewöhnlich war die einvernehmliche Abmachung, auf persönliche Begegnungen zu verzichten.“ Wikipedia
Die Spezialität im Verhältnis einer mäzenatisch großzügigen Muse zu einem Musiker deklariert Thomas Mann als „mythisch-vogelfreies Thema“. Im Weiteren weidet er Shakespeare aus. Er gesteht:
„An dem unverfrorenen Diebstahl-Charakter der Uebernahme (Originalschreibweise) ändert das wenig.“
Thomas Mann spricht von einer „früh geübten Art des höheren Abschreibens“. Er unterscheidet den wie Aas im Feld liegenden, zur Ausschlachtung sich förmlich selbst einladenden Gebrauchstextabfall (Abfall im Sinn von etwas fällt ab) von den Fällen, „wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind“.
Gewöhnliche Genies
Adorno in einem Brief an Thomas Mann: „Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie mit mir sprächen.“
„Den Traum einer von Zwecken nicht entstellten Welt“ in den Prozessen der Desillusionierung nicht verloren zu haben. Auch das hält Adorno Thomas Mann zugute. Die Genies verehren sich mit viel intellektueller Myrrhe & Weihrauch auf den gediegenen Flächen des Edelexils. Sie schwärmen füreinander. Sie separieren sich und feiern ihre Sonderrollen. Denn sie sind anders als die gewöhnlichen Genies à la Feuchtwanger und Remarque. Sie sind ausführlich die guten Deutschen. Im Fall von Thomas Mann muss man das nicht ausführen, dieser Triumph des 19. Jahrhunderts, König der Biedermeier, Kaiser von Krähwinkel, erkannte rechtzeitig im Hitlerismus eine Abortvariante. Aber auch Adorno bringt es fertig zu sagen:
„Als ich Sie, hier an der entlegenen Westküste, treffen durfte, hatte ich das Gefühl, zum ersten und einzigen Mal jener deutschen Tradition leibhaft zu begegnen, von der ich alles empfangen haben: noch die Kraft, der Tradition zu widerstehen.“
Hier an der entlegenen Westküste - Adorno denkt die Welt snobistisch von Deutschland aus. Amerika ist ihm zu klein, hat keine Kultur, hat keinen Goethe und keinen Beethoven.
Selbstvergessene Produktion
Das Wort von der „ununterbrochenen Arbeit und selbstvergessenen Produktion“ findet sich in einem Brief von Adorno an Thomas Mann vom 3. Juni 1945. Mann schätzt Adorno nicht zuletzt als „erstaunlichen Kenner“. Adornos Einwände führen zu Bearbeitungen von Passagen. Das will uns selbstverständlicher erscheinen als es ist. Zwei Genies begegnen sich nicht nur zu herausragenden Anlässen im Exil. Vielmehr suchen sie sich und sind stets auf die gleiche Weise angenehm füreinander.
Der Mangel an Rivalität ist rar unter den „Großkopfeten“ … „Heute Abend bei Max (Horkheimer) mit ein paar Großkopfeten, darunter Thomas Mann.“ Da vernimmt man noch die Krise der Konkurrenz und die im Raum stehende Frage nach dem eigenen Rang.
Aus der Ankündigung
... Thomas Mann schrieb Adorno über die »faszinierende Lektüre« der Minima Moralia und kommentierte ausführlich den Versuch über Wagner, ein Buch, das er lesen wollte, »wie jemand in der Apokalypse ein Buch ißt, das ihm ›süß wie Honig schmeckt‹«. Adorno begleitete die letzten Werke Thomas Manns, den Erwählten, Die Betrogene und die Wiederaufnahme des Felix Krull, mit eingehenden Kommentaren und nicht selten mit begeistertem Zuspruch. Selbst sehr private Fragen von entscheidender persönlicher Bedeutung, wie die mit großer Aufrichtigkeit geführte Diskussion um die Rückkehr aus der Emigration, bleiben im Briefwechsel nicht ausgespart.