Tillmann sitzt im Auslug, neben dem Schlupfwinkel. So nennt er die beiden Dachkammern. Sie gehören ihm in aller Heimlichkeit. Weder die allenfalls halbherzig polyamoröse Karolin noch die offensiv promiske und deshalb mit der Ménage-à-trois gut versorgte Marie ahnen etwas von dem Refugium. Je weiter sie bei ihm einsteigen, desto stärker wird Tillmanns Bedürfnis, Dinge zurückzuhalten. Er befolgt antike Ratschläge. Ihm wurde eingetrichtert, nichts preiszugeben ohne Not. Die erste Garde jener, die im Nordend etwas an den Füßen hatten und deshalb vor niemandem buckeln mussten, würfelten in Tillmanns Kindheitsdamals ab nachmittags am Tresen der Schankwirtschaft Schneider, da gab es schon lange keinen Schneider-Wirt mehr. Das Geschäft führte die Ukrainerin Kateryna, kurz Kati. Um sich abzuheben von den Bankschnöseln trugen die Haus- wahlweise Bürgermeister von Frühjahr bis Spätsommer nur Schiesser Feinripp Unterhemden und, als zweites unverzichtbares Erkennungsmerkmal, Hosenträger. Der Statusmelder für die Unbedarften war das Ding am Gelenk, in jedem Fall eine Magnum unter Uhren.
Wem was gehört: das war die entscheidende Frage im alten Nordend. Das entschied, wer wen heiratete. Ja, es ging bei uns zu wie im Orient. Wir waren Protestanten und diskriminierten die Katholiken, die aber über eigene Bastionen verfügten.
Tillmann unterscheidet sich von vielen auch deshalb, weil er den Plan noch kennt, auf dem die ursprünglichen Eigentumsverhältnisse verzeichnet waren. Der König (des Nordends, bürgerlich Otto Wundersamen) kam zu dem Wisch in der Todesstunde seines Vaters, des alten Königs und Gebieters über drei erhebliche Sachen im Quartier. Wie Tillmann daran kam, ist eine andere Geschichte. Vielleicht erzähle ich sie nächste Woche.
Der alte König beherrschte das Territorium zur Zeit der Spanier. Man nannte ihn Diamant-Otto, da seine Dynastie in den schwächeren Phasen nach großen Kriegen ihren Teil aus Schwarzmärkten zog, Teppiche und Schmuck nicht zuletzt, das Edelsteinchen für eine Stiege Kohlen und nein sagen, konnte auch keiner. Diamant-Otto rühmte sich, unter Abgefeimten der Abgefeimteste zu sein. Ihm zur Seite stand die stille Hand des Nordends. Tillmann kannte Willi Urban persönlich mit Recht auf Begrüßung. Willi hatte sich seinen Stil bei den Amerikanern abgeguckt und fuhr auch solche Autos. Wenn es darauf ankam, dann zählte er noch nicht mal bis drei. Er hasste Verschwendung so sehr, dass er einen Mann aus der Kaste der Unberührbaren beschäftigte, der nachts die Mülltonnen abklapperte. Willis Sohn wurde von Otto gezeugt, es hätte deswegen beinah Tote gegeben. Respect your barrio. Es gab noch einen anderen Otto, den Polizisten-Otto aus dem Revier an der Eisernen Hand. Er kannte Hinz und Kunzelmann und die meisten Häuser im Viertel von den illegalen Brennbuden im Keller bis zu den Dachböden der Bordsteinschwalben. Nach dem Krieg war das Nordend Trümmerland, der Aufbau ging dann Hand in Hand. Wer nicht spurte, wurde renoviert, die Sexarbeiterinnen hießen alle Hildegard. Ja, die menschliche Spezies ist praktisch veranlagt und groß nur in ihrem Opportunismus und bei der Schlechtbabbelei. Die Gangster um Otto Wundersamen und Willi Urban respektierten den Polizisten-Otto, weil er sich nicht schmieren ließ. Sie steckten ihm die Konkurrenz, diese ..., gezeugt in undichten Mansarden. Sie redeten immer noch wie das Dritte Reich, dachten aber wie die Southside und handelten wie die Spanier. Die Spanier waren mexikanische Amerikaner, die der Krieg zu Weltmännern gemacht hatte. Sie kamen aus nomadischen Erntehelferstämmen, die in den 1930iger Jahren „im Valley“ sesshaft geworden und ganz allmählich in Los Angeles eingesickert waren. In der Presse rassistischer Verhältnisse organisierten sie sich in Nachbarschaftsverbänden, die nach den stärksten Familien benannt wurden. Soweit sie englisch konnten, sagten sie „blood in, blood out“. Wie alle Southerner lebten sie mit einem unbändigen Stolz, der in den kalifornischen Barrios ständig Tote produzierte. Mit diesem Konzept tauchten sie als Besatzer im Nordend auf und stießen da auf die wundersame Korona. Ganz wie daheim in LA, klärten sie erst einmal untereinander, welche Familie das Sagen hatte und dann besprachen sie mit Otto Wundersamen und Willi Urban das Weitere. Die alten Frankfurter Buben erkannten die Gunst der Stunde, das heißt ein gewaltiges Drohpotential. Fortan ging kein Taschendieb mehr über die Straße, ohne seine Steuer zu entrichten, und keine Hildegard wäre in ihrer Lenaustraße auf die Idee gekommen, „spanische“ Beteuerungen nicht für bare Münze zu nehmen und auch noch was drauf zu legen für ein Jackett aus Haifischflossen. Getagt wurde nachts in der Burg. Da sahen Mäuse zu, wie die großen alten Männer des Nordends so einem mickrigen Spanier die Hand küssten. Das kann man sich heute alles nicht mehr vorstellen, blood in, blood out, was das bedeutet, mit Leuten im Geschäft zu sein, die unruhig werden, wenn es mal keine Toten gibt. Gleichzeitig ging der übrige Betrieb so verschlafen über die Bühne, dass der Polizisten-Otto seine Verhaftungen grundsätzlich ohne Waffe ausführte. Wenn zum Beispiel ein Eierdieb aus der Koselstraße dem Haftrichter vorgeführt werden sollte, sagte ein Laufbursche der alten Frau im Haus Bescheid und die schleppte dann ihre mürben Kriegerwitwenknochen in den dritten Stock, um dem Eierdieb zu verkünden, dass gleich der Polizisten-Otto erscheinen würde. Der Eierdieb wusste, was von ihm erwartet wurde, nämlich, sich die Zähne zu putzen, die Bürste einzustecken und im Treppenhaus auf Otto zu warten - und bei seinem Erscheinen umgehend die Handgelenke der eisernen Acht anzuvertrauen. Ohne Faxen zu machen.
*
In dem aufgeheizten Versteck streicht Tillmann Silhouetten, Schemen und die ganze ephemere Wahrnehmung aus seinen Aufzeichnungen. Eine neue Nachbarin haust im Schlupfwinkel, sie weiß noch nicht, wie dünn die Wände ihres Mansardenverschlags sind. Ihre Vorgängerin hat Tillmann kaum mitbekommen. Katharina hat sich aber eingerichtet, die Auslegeware entfernt und Bohlen frei gelegt.
Tillmanns Ausguck wird zum Horchposten.