„Ich glaube an den Konflikt. Sonst glaube ich an nichts.“ Heiner Müller in einem Gespräch mit Sylvere Lotringer
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„Man nimmt die Konfrontation nicht da an, wo sie einem angeboten wird.“ Heiner Müller in einem Gespräch mit Andre Müller
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Die jüdische Einwanderung in die Niederlande ging von Portugal aus und erfolgte unter dem Druck der Inquisition. Die uneingeschränkt mit allen Bürgerrechten schaltenden sephardischen Familien bildeten schließlich einen eigenen Patrizieradel. In der napoleonischen Zeit nutzten niederländische Juden den Registrierungszwang zu einer Christianisierung ihrer Namen. Diese gut aufgehobenen Juden portugiesischer Provenienz freuten sich nicht über den Zuzug aschkenasischer Habenichtse aus Osteuropa, „deren Muttersprache jiddisch war und nicht hebräisch“ (Bart van Es).
Es gibt die Feststellung: „Bis ‘61 waren die Konflikte unmittelbarer.“
Die Gedichte aus dem Nachlass, die bis einundsechzig entstehen, soweit Heiner Müllers eigenwillige Datierungspolitik korrekte Zeitangaben zulässt, stehen im Zeichen des sozialistischen Realismus. An klingt der expressionistische Benn, ein Klingelton der vorletzten Epoche, dominant jedoch ist die Auseinandersetzung mit den Geburtsschmerzen der neuen Gesellschaft. Dafür zum Beispiel „Die Bauern“ aus dem Jahr 1948. Müller erzählt den Kollektivierungsverdruss in der Landwirtschaft. Steifnackig halten es die Hofherren mit dem Grafen, bis er ihnen einen neuen Krieg verspricht:
„Es wird nicht lang mehr dauern / Dann wird marschiert“.
Das reicht für eine Bekehrung der Bauern zur Republik. Müllers blauäugige Darstellung verweigert dem Sozialismus den Realismus, um den Preis der Poesie, wie Wolfgang Weyrauch die westdeutsche Trümmerliteratur zusammenfasste. In einer Ära abklingenden Verheerungen klingt der hohe Ton wie Blech. Keine Gedichte nach Auschwitz, es sei denn solche, die im Erschrecken ihrer Urheber wie Sohlen am Tal der Tränen kleben. „Mondlicht“ schminkt „schmale“ Städter, während eine Flut sich Bauernhäuser greift. Nichts ist urban in diesem Kosmos, Deutschland erscheint als Dorf in den Gedichten des erwachenden Müller.
In „Bruchstedt“, der Name spricht, ruft der Dichter: „Mann auf dem Traktor /…/ Ein Dorf braucht deine Hilfe“.
Die Bauern liegen am Boden, der Boden gibt nichts her. Nach Müller beschreibt das einen verlangsamten Geschichtsprozess, in dem der Abstand des Autors zur Geschichte gering und die Geschichte gegenständlich erscheint. Das erlebt Müller als Chance. Er weist ex negativo darauf hin, wenn er am Ende des Jahrtausends sagt: „Hamletmaschine meldet doch nur noch die Unmöglichkeit: ein Stück zu schreiben.“
Im Jetzt von Neunundvierzig ist die Geschichte zum Greifen nah und Müller greift zu, weit weg von der Hypertrophie des Bühnenbildes, der Entpolitisierung des Theaters und des Dekorationswahn als einem Dekadenzphänomen.
Kein Striptease von Ophelia/Hamlet kommt nicht als Hermaphrodit auf die Bühne.
Nicht lange her, dass Müller Drehbänke entrostete und noch eine Weile hin bis zu „Lohndrücker“ (1958), dem ersten Stück.
Später wird Müller Gedichte schreiben, wenn ihm zu seiner dramatischen Produktion der Atem fehlt. Jetzt bringt er sich mit Gedichten in Form. Er positioniert sich in der Einsicht:
„Die antike Tragödie ist mit der Entstehung der Klassengesellschaft entstanden.“
Ihr Ende geht vom Theater aus.
Nach Sainte-Beuve ist das der Ort, wo dem Beifall geklatscht wird, „was sie (die Herren einer Zeit) zugrunde richtet“.
Der Mythos lädt die Stücke auf, Prometheus könnte auch Otto heißen, meint Müller. Die anekdotische Selbstdarstellung hat noch nicht angefangen. 1952 schmiedet Müller mit Aufforderungscharakter einen besseren Kinderreim:
„Wer noch ein Gesicht hat / Sieht ihre Armeen. / Wers nicht verlieren will / Läßt es nicht beim Sehen!“