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2018-11-11 09:39:33, Jamal Tuschick

Als Lebensform ist Eskapismus anstrengend - „Female Shit“ und „Feygele“ - Zwei Produktionen des Studio Я im Berliner Maxim Gorki Theater an einem Abend.

Der Körper als Arena

Tobias Herzberg

Die Werkzeuge der Desintegration

Der Erzähler sitzt in der ersten Reihe so angezogen wie in einer Sauna. Mit einem Handapparat verbreitet er Kunstnebel zum Ersatz für den Dampf in einer Sauna. Er stellt fest:

„In einer Sauna zu sein, bedeutet bewertet zu werden.“

Zwei Blicke ermöglichen eine Begegnung. Geht der Blick des einen am anderen vorbei, fällt die Begegnung in der Konsequenz einer negativen Bewertung aus. Mit erotischer Ansprache soll, so will es die Spielanordnung, trotzdem noch rechnen können, wer berechtigte Zweifel an seiner Attraktivität hegt und dafür schon lange kein fremdes Urteil mehr braucht. Solche sind Objekte des Begehrens eines jungen Mannes. Er steht auf Graurücken, besonders auf russische Juden in ihren Fünfzigern. Sich selbst versteht er als Ultraverlockung, vielleicht sogar als Erlöser eines alten Sacks, der in ihm noch mal aus sich herausgehen darf – selbstverständlich ungeschützt. Denn, so sagt es der Erzähler, Safersex Kampagnen ordnen der Homosexualität den Tod zu. Auf diesem Umweg läuft die Diskriminierung weiter – im Stück in der Begegnung des Erzählers mit einer dreißigjährigen Ärztin, „die alles richtig gemacht hat“ und nun glaubt, es sich erlauben zu können, die „Fratze der Freundlichkeit“ fallenzulassen.

Promiskuität ist ein Lebensstil, den Monogame nicht begreifen. Der Preis für Vielsex ist die Sicherheit auf allen Stufen. Eskapismus strengt an und birgt Risiken. Von den Strapazen dieser Daseinsform erzählt Tobias Herzberg in dem illustrierten Monolog „Feygele“. Der Titel exponiert ein jiddisches Slangwort für das englische Slangwort Faggot.

Der bis eben vom Vater alimentierte Erzähler will sich gerade in der Schweiz etablieren, als ihm der Geldhahn abgedreht wird. Der letzte Tipp vom Vater: „Du hast doch ein halbes Theaterstück in der Schublade. Bewirb dich damit beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES), vielleicht helfen die dir da mit einem Stipendium aus.

Der Erzähler ist religiös ungebildet und unbeschnitten. Auch hat er keine jüdische Mutter. Trotzdem landet er als ELES-Stipendiat in Israel, wo ihn die großen Gefühle nicht auf dem heiligen Boden der Vorväter, sondern in den Darkrooms von Tel Aviv erreichen. Hinter ihm liegt eine offene Beziehung, deren Scheitern ihm nachgeht. Er resümiert: Gangbang ist kein Problem, aber man darf kein Eis essen oder in den Zoo gehen mit der Affäre. Intimität verbindet sich mit Freizeitbeschäftigungen, deren Muster sich in der Kindheit eingeprägt haben.

Das Theater schafft geschlossene Räume der Intensität, wie Max Czollek gestern im Studio Я sagte, und in einem weiteren Sinn, schafft es Orte der konspirativen Kommunikation. Hätten die subversiven Ladungen die Potenz den öffentlichen Raum zu erreichen, gäbe es Erschütterungen. So dient die invertierte Confession der Selbstvergewisserung einer Klientel, die mich an die FDP der Neunzigerjahre erinnert. Es steckt etwas Degoutantes in der exakten Beachtung hyper-aktueller Standards bei gleichzeitiger Ironisierung und Ironieproblematisierung. Das Desintegrationsding, das den Sockel bildet, auf dem sich im Gorki zurzeit die Welt dreht, ist erst einmal nur der letzte Modeschrei – so schick wie Orit Nahmia in ihrer Stand-up Performance „Female Shit“, die den sexdiskursiven Double Whammy auf der Bühne perfekt macht. Nahmia spielt eine Person am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie bringt all das zur Sprache, was in den Debatten über Schwangerschaft, Geburt, Liebe, Drogenhandel und die Beschneidung des männlichen Glieds im Zustand kindlicher Wehrlosigkeit normalerweise unter den Tisch fällt. Sie versteht sich als Sexsymbol im Stoffwechselfuror. Ihre Schwangerschaft schildert sie als Inflatio-Inferno – als ein Dauerfeuer aus farting and shitting. Sie führt einen Kulturkampf gegen die Beschneidung, insbesondere gegen die Beschneidung ihres Kindes, vorsätzlich ohne Kenntnis des Geschlechts. Der/die Fruchtblasenschwimmer*in ist sowieso willkommen, die Auseinandersetzung zielt am konkreten Fall vorbei auf das Grundsätzliche. Dann kommt das Kind männlich zur Welt und entbehrt bereits der Vorhaut. Das Wunder ereignet sich in der Gegenwart des Vaters, bis ihn ein Schmerz übermannt, der seiner Frau gehört. Sie gebärt, er brüllt sich in eine Ohnmacht.