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2022-04-26 07:05:45, Jamal Tuschick

„Wir waren ganz heiter, fanden das so richtig sozialistisch, was wir da machten“

„Die Sprache wird zum ‚Nervensystem der Menschheit’.“ Horst Tiwald

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„Der Edle lässt das, was er nicht versteht, ... beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande.“ Konfuzius

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„Wir können nicht über die Kunst schreiben, ohne uns auf die Schönheit zu berufen.“ Adam Zagajewski

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In Anna Seghers’ „Umsiedlerin“ (1950) spielen die dürftigen Verhältnisse von Geflüchteten die Hauptrolle. Als Landsleute die Umsiedlerin Niet fragen, warum sie sich anstrenge, als sei sie „daheim“, antwortet sie: „Weil man gerecht war.“

Der Zugriff glückt im Text mit beiden Händen, die Gesellschaft und das Individuum ziehen an einem Strang. Niet bleibt nicht „Flüchtling“, sie findet einen Platz im Trubel ihrer Gegenwart. Heiner Müller zeigt sie in seiner „Umsiedlerin“ nicht übertrieben optimistisch. Doch ist er auf keinen Eklat gespannt:

„Wir waren ganz heiter, fanden das so richtig sozialistisch, was wir da machten.“

Noch in der Nacht der Premiere werden Schauspieler verhört. Man legt ihnen nah, sich mit „der verbrecherischen Regie“ herauszureden. Müller wirft man „Nihilismus“ und „Schwarzfärberei“ vor, sein Spezi BK Tragelehn fährt zur Bewährung in den Braunkohletagebau ein. „Die Umsiedlerin“ verschwindet in einem Futteral des Schweigens. Erst 1976 inszeniert Fritz Marquardt das Stück als Mumien-Schanz unter dem Titel „Die Bauern“ an der Berliner Volksbühne.

Jonna von Stellberg und Tillmann-Tecumseh von Kleist-Parsdorf am Ostsee-Weststrand von Tillwitz © Jamal Tuschick

Abgeklungene mediale Allgegenwart

Ein Sonntagvormittag im Flutlicht des Sommers. Das Vergnügen folgt einer altbackenen Brunch-Routine. Die Serviceleute tragen Piratenkopftücher. Dass gleich jeder sieht, dass der Bereitschaft, sich für den Job zu verkleiden, eine Grenze gesetzt ist; am Limes des guten Geschmacks aus der Sicht von Achtzehnjährigen.

Jonna von Stellberg sitzt vor ihrem Dell Precision 7540 auf der Terrasse des Cafés Boddenblick. Sie schreibt: Heiner Müller unterstellte der DDR seine Hoffnungen. Er wähnte sich in den Reihen und auf dem Stand der Sieger:innen. Er traute unserem Staat viel zu. Nach der ersten Aufführung der „Umsiedlerin“ am 30.9.1961 an einer Karlshorster Studierendenbühne setzte seine Stigmatisierung ein. Müller flog aus dem Schriftsteller:innenverband. Er wurde zum ungespielten Autor und blieb das zwölf Jahre.

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Jonna bemerkt Denis Scheck am Nebentisch. Hämisch fällt ihr dessen abgeklungene mediale Allgegenwart ein. Bis vor ein paar Jahren fand er ständig im Frühstücksfernsehen statt, man sah ihn in amerikanischen Serien. Er sprach mit Leichen über Literatur. Seine Ohren waren ein Ereignis. Den Ort eines Romangeschehens bezeichnete er als „Eroscenter des Geistes“. Der listige Schwabe bedient sich immer noch im Magazin der Verführungsrhetorik.

Du Stuttgarter Schwätzer, denkt Jonna. Ihr ist vollkommen klar, dass die TV-Nase sich gerade fragt, woher sie die interessante Person am Nebentisch kennt.

So wirkt sie nun mal. Von jeher. Auf alle. Ihre Selbstglorifizierung kollidiert mit Hein Hagrichs Wahrnehmung. Seit den Tagen des kameradschaftlichen Wettpinkels der Tillwitzer Fischer- und Bauernsöhne stellt Hein der Wohlgeborenen nach. Während er die längste Zeit auf eigene Rechnung stalkte, verdient er nun an seinem Laster als Spion der Nord-Stream-Mafia. Die Putinist:innen im Dunstkreis von Ex-HVA-Major Geronimo Mansfeld wissen Dinge, von denen keine Wessi auch nur das Leiseste ahnt. Die Sowjetunion so wie der ganze Ostblock existieren als tiefer KGB-Staatenbund fort. Ihre vollständige Restitution ist klandestines Staatsziel. Die westdeutsch-sozialdemokratische Wandel-durch-Handel-Macke wird perfide gegen den Klassenfeind eingesetzt.

Putin misst via Schröder ff. der Nato den Puls. Ich, die allwissende Erzählerin, melde das vorausschauend im Jahr 2014. Gerade wurde die Krim annektiert. Alle halten die Ukraine für eine Bananenrepublik. Den Balken im eigenen Auge sieht mal wieder keine.

Doch ist das jetzt nicht unser Thema. Jonnas amtliche Ausnahmestellung als „Schönste am Nordstrand“ denunzierte sich wie von selbst in der seelischen Dreckkiste des Onanisten Hein zur „ewig nackten Jonna“. Zig Maler steuerten ihren Senf zu einer letztlich überschaubaren Sache bei. Das Theater um ihre sportliche Figur bekam Jonna schlecht. Ihr reichte kein mit Gütern gesegneter, im Herkunftsgewissheitsrausch erheiterter Ole, Waldemar oder Otfried.

Otfried Vrunt hätte meines Erachtens besonders gut gepasst. Der Vrunt hat was an den Füßen und ist nicht auf den Kopf gefallen. Der Bauunternehmer, Bürgermeister und Busenfreund von Geronimo Mansfeld dreht das große Rad am Tillwitzer Bodden.

Der Vrunt hält seine Hand über die Stellberg. Hein ist bloß Laufbursche. Der darf sich in den Büschen entleeren. Niemand verbietet ihm, sich Tag und Nacht volllaufen zu lassen. Doch weiter reicht die Leine nicht, an der Hein jederzeit bis vor die Füße seiner Herren gezerrt werden kann.

Ich nenne das feudale Verhältnisse, und freue mich, wie gut es Jonna gelingt, nichts davon mitzukriegen. Sie hat ihre DDR- und FKK-Dramatik und so eine lustige Überheblichkeit.

Hessisches Genie

Tillmann-Tecumseh von Kleist-Parsdorf, Sie erinnern sich vielleicht an das hessische Genie, kreuzt auf, während Denis Scheck abgeht. Jonna hält dem Verehrer die Wange hin, klappt ihr Notebook zu und genießt im Verein mit zwei Dutzend Tourist:innen das vom Boddenblick-Management eingepreiste Panorama.

Kein Zweifel, Tillmann erkennt Jonnas schlanken Schick. Er sieht aber auch den erhungerten Schildkrötenhals. Im nächsten Durchgang stehen sie im Haus des Tillwitzer Kunstvereins vor Wassili Nikolajewitsch Jakowlews Porträt des Marschalls der Sowjetunion Georgij Schukow, und Jonna zitiert den Kunsthistoriker Boris Groys:

„Nach Stalins Tod und den Epochen der Ekstase (setzte) sofort eine allumfassende Langeweile ein.“

Die Ausstellung heißt „Traumfabrik Kommunismus“. Nach „Good Bye, Lenin“ kommt „Nackt für Stalin“. Jonna plädiert auch noch für „Genosse Gott“. Der Kommunismus glänzt im sozialistischen Realismus. Das muss man einordnen können.

„In Moskau aber erwartete der Diktator das Symbol des Sieges - so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.

Schukow soll sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen - seines Sieges.“

Aus dem SPIEGEL vom 28.04. 1969