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2022-05-07 06:01:02, Jamal Tuschick

„Das Gemeinsame ist wahr, das Ähnliche ist falsch.“ Georges Braque

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Treibt die Skifahrerin Angst vor der eigenen Courage in eine nur gefühlt bremsende, tatsächlich destabilisierende Zurückhaltung, verliert sie erst den Schwung und dann das Gleichgewicht.

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„Sicherheit ist ein trügerisches Konzept.“ Paul Bowles.

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„Eine große Krise sollte man niemals ungenutzt vorüberziehen lassen.“ Winston Churchill

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Eishaie erreichen ihre Geschlechtsreife im Alter von hundertfünfzig Jahren. Im Schneckentempo wachsen sie bis zu der Größe Weißer Haie. Es kursiert die Vermutung, dass sich im Arktischen Ozean Exemplare der Erforschung verweigern, die schon in der Kolumbusära existierten. In einem Grönlandwal, den man in diesem Jahrtausend gewaltsam aufs Eis legte, fand man Harpunenspitzen, die verrieten, dass das Tier im 19. Jahrhundert seinen Jägern entgangen war. Obwohl Grönlandwale kaum natürliche Feinde haben, „bleibt ihr Überlebensprogramm immer in Alarmbereitschaft“ (David A. Sinclair).

© Jamal Tuschick

Schmerzloses Bedauern

Nach dem Frieden von Tilsit (1807) machte Napoleon Bonaparte Kassel zur Hauptstadt des neu geschaffenen Königreichs Westphalen und setzte da seinen Bruder Jérôme auf den Thron. Als König nannte sich Jérôme Hieronymus Napoleon. Er war ein zwölftes Kind und nicht vornehmer als der königliche Leibwächter Ludger von Höckelheim. Jérôme, der ein Volk regierte, das ihn nicht verstand, gab Ludger einen Batzen, um sich der Loyalität des Feldjägers zu vergewissern. Er wusste, dass keiner für ihn war und die meisten Vornehmen der Landgrafschaft Hessen, in der seine Hauptstadt lag, sich an Ludgers Stelle für kompromittiert gehalten hätten.

Die königliche Jägerschar setzte sich aus unzufriedenen Männern zusammen. Zu Jérôme hielten lediglich solche, die unter seinem Vorgänger abgerutscht waren. Der König erfuhr bald von einem Komplott, und zwar von Ludger, der seinen Verrat mit Gnade vergolten haben wollte. Jérôme versprach, ihn zu schonen. Er sollte nur erst im Verein mit den Loyalen gegen die Aufständischen vorrücken. Ludger steckte dem König, dass der ranghöchste Leibwächter, Wilhelm von Dörnberg, sein größter Widersacher sei und mit den Hofjägern gegen Jérôme losschlagen wolle. Der Aufgeflogene wurde gewarnt, bevor man ihn festsetzen konnte. Er ritt nach Homberg (Efze) und sammelte das Fußvolk ein. Der Bauernhaufen rückte am 22. April 1809 mit mehr Schwung als Kriegskunst vor und scheiterte an Jérômes Jägern. Dörnberg glückte die Flucht mit einem Husarenritt.

Jérôme bestellte die Hochgestellten von Kassel ein und schlug ihnen einen Deal vor. Jedem, dem er missfiel, sollte keine ärgere Last für die Wahrheit auferlegt sein als dessen Kündigung. Prompt versprachen alle ihre Treue einem Potentaten, den keiner gern sah.

Um die Homburger zu strafen, legte Jérôme Militär in die Stadt. Er kam selbst und nahm dem am Aufstand beteiligten Stift Wallenstein die Pfründe. Es ergab sich ein Tête-à-Tête des Königs mit Ludgers Frau. Später behauptete Pauline, es sei bloß ein Plausch unter vier Augen gewesen. Sie sei nur ihrem prekären Mann zuliebe aufgeschlossen gewesen, selbstverständlich in den Grenzen der Schicklichkeit. Dagegen spricht, dass sie in ihren intimen Aufzeichnungen ein körperliches Vergnügen an der königlichen Gesellschaft überliefert. Jérôme habe zu ihrer Belustigung in den Champagner gepinkelt, der ihm als Badewasser gereicht worden war.

Die Stiftsdamen ließen kein gutes Haar an Pauline. Insbesondere die Äbtissin Marianne vom und zum Stein, eine Schwester des Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, verurteilte die Frau des Verräters.

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Nicht viel mehr als zweihundert Jahre später badet Ivy von Höckelheim in einer Boddenbucht nahe Tillwitz. Ihre herausgehobene Rolle im Seebad- und Hafenkneipengefüge ergibt sich aus der verwandtschaftlichen Nähe zu Gräfin Gunda von Tillwitz-Höckelheim. Die exzentrische Tante rangiert an erster Stelle des baltisch-pommerschen Adels im Grenzland zwischen Mecklenburg und Vorpommern. Dem aristokratischen Chapter setzt Ivy eine kurhessisch-napoleonische Prise zu. Dem Publikum erscheint die Bon-Aparte aber auch nur als eine von denen, die nichts Besseres zu tun haben, als bei jedem Wetter ins Wasser zu hüpfen.

Be sure to wear flowers in your hair - Der Putsch als Pop-Festival

„Nie habe ich so gründlich einen Olivenbaum betrachtet.“ Helga Novak als Revolutionstouristin in Portugal 1975

Ivy ist ein Kind der Nelkenrevolution. Ihre 1979 tödlich verunglückte Mutter entstammte dem zweiten Kreis der alten Macht in Portugal. Sie zählte zum Caetano-Klan, der Salazar beerbte. Lourdes‘ Sympathien gehörten aber der Umsturzgarde. Sie begeisterte jene „fast beunruhigende Leichtigkeit“ (Arnold Hottinger), die den Putsch zu einer europäischen Party machte. Das war Pop. Lourdes wollte die Welt umarmen. Sie beschränkte sich vielleicht nicht nur auf den 1942 in Ribnitz-Damgarten geborenen KGB- und HVA-Agenten Wieland von Höckelheim. Getarnt als Korrespondent des Allgemeine Deutsche Nachrichtendienstes (ADN), sondierte Wieland die Lage in Lissabon. Eines Nachmittags zeugte er Ivy auf einer Couchlehne, die kurz zuvor von Horst Karasek belegt worden war. Hingerissen von einer wild um sich greifenden Euphorie wurde Lourdes zur Aktivistin der Alphabetisierungskampagne ab 1974.

Sozialistischer Olymp

Damals forderten alle das Ende der Kolonialkriege, die zu teuer geworden waren, und nach einer Analyse der portugiesischen Armeeführung gar nicht gewonnen werden konnten. Als Ehepaar bereisten Lourdes und Wieland Mosambik und Angola. Nach ihrer Rückkehr empfing Mario Soares die Höckelheims. Die abtrünnige Aristokratin und der Kundschafter des Friedens waren ganz oben im sozialistischen Olymp angekommen.

Um das Weitere zu verstehen, müssen wir weit zurückgehen in der Zeit

1500 „entdeckte“ Pedro Álvares Cabral Brasilien. Er nannte seine Entdeckung Vera Cruz und nahm sie für die portugiesische Krone in Besitz. Das lernte Ivy in der Schule. In ihrem Fado-Jahr erfuhr sie, wie gleichgültig dem fernen König Manuel das amerikanische Neuland gewesen war. Brasilien war nicht mehr als ein Abstecher auf der (von Cabral angeführten) Grand Tour zu Indiens Höfen.

Keine Sau interessierte sich für Brasilien, die Brasilianer:innen wussten gar nicht, dass sie Brasilianer:innen waren. Die dachten sonst was, wenn überhaupt. Alvares entging dem Schicksal seiner Gefährten, die sich mit der Bevölkerung am Amazonas nicht zu arrangieren wussten.

Jeck des Jähzorns

Ein iberischer Edelmann des 16. Jahrhunderts war ein Jeck des Jähzorns. Der sprang aus der Haut, wenn einer bloß auf seinen Schatten trat. Diplomatie konnte der nicht. Er begriff auch nicht wirklich den Unterschied zwischen diesen Waldmenschen da und anderen Primaten.

Scham und Stolz

„Niemand beachtete den Amazonas“, schrieb Ivy. Sie wollte Marineschriftstellerin werden. Befasste sie sich mit der Kolonialgeschichte ging es stets auch um ihre Familie. Sie stand am vorläufigen Ende einer Reihe unglaublich fieser Verbrecher:innen. Das erfüllt die Elevin mit Scham und Stolz.

Nautische Journale

Viele Formen der Mimikry bleiben im Verborgenen. Wir übersehen Abläufe, die das Geschäft der Natur stetig vorantreiben, so wie von Täuschungen stimulierte Bestäubungsakte in Interaktionen zwischen Orchideen und Insekten. Essbare Arten imitieren die Signale ungenießbarer Arten, um Fressfeindinnen zu täuschen. So erwerben sie einen ökonomischen Vorsprung gegenüber jenen Strateginnen, die auf Gift setzen, das erst einmal produziert werden muss. Die Anverwandlungen distanzieren sie von den Erscheinungsformen ihrer Verwandten bis zu einer bizarren Unähnlichkeit. Sie tragen fremde Kleider, die sie wie gefälschte Pässe zu Pseudobürgerinnen gattungsferner Republiken machen. Die Koevolution der Imitatorinnen von Eigenschaften treibt phantastische Blüten.

Ivy kommt gern mit einer Himbeertorte oder einer Tüte Lakritz zum Dienst in das Tillwitzer Seefahrtmuseum. Die Herrin über eine sagenhafte Unterwelt, sprich Archiv, kaschiert den unüberbrückbaren Abstand zum Volk mit volkstümlichen Gebärden. Sie täuscht alle mit vorgetäuschter Zugänglichkeit. Als Marineschriftstellerin befasst sich Ivy mit dem Herrschaftswissen vergangener Zeiten. Die nautischen Journale, die sie sichtet, informierten Königinnen. Seekarten waren Staatsgeheimnisse.

Man findet Ivy bescheiden und kollegial. Sie gleicht einem gefärbten Weißling (Dismorphia), der in einem Verband prächtiger Falter unter falscher Flagge fliegt. Ich (die Allwissende) frage mich, wann sie auffliegt.

Ivy hat ein altes Wort in einer Aufzählung gräflicher Exponate entdeckt: Noahschulpe. Daran beißt sich das Internet die Zähne aus.

Auf Ivys Liste erlesener Wörter steht ferner das Creditiv eines persischen Gesandten, der 1600 am Hof des Herzogs zu Mecklenburg-Güstrow vorstellig wurde. Damals herrschte Karl I. Er besaß sechzigtausend Bücher, darunter zweihundert wertvolle Bibeln so wie „die arabische Geschichte eines Muhamed“.