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2022-05-10 06:36:01, Jamal Tuschick

Epochenbruch-Elegie

Da der Bundespräsident gerade von Putins „Epochenbruch“ sprach: Sich auf Norbert Elias‘ „Prozesse der Zivilisation“ beziehend, meldet Oliver Nachtwey erstaunliche Entzivilisierungsprozesse. Etablierte (Russland) reagieren auf aufsteigende Außenseiter (Ukraine) mit der Preisgabe der eigenen Moralstandards an gröbere Formate. Bei Restaurationsversuchen ihrer Ordnung werden sie zu jenen Barbaren, die sie vor sich zu haben glauben. Sie verwechseln sich mit dem Gegner nicht grundlos. Heiner Müller sagt ungefähr: Wenn man keinen Feind mehr hat, dann trifft man ihn im Spiegel.

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Andrzej Stasiuk entdeckt in seiner Marcopologie „Der Osten“ das Echo einer von Absichten kaum beschwerten Expansion. Man eroberte, um die Pferde in Gang und die Männer in Form zu halten, ritt Fleisch unter dem Sattel mürbe, zerstörte, was den Weg verstellte, und stellte dann doch nur wieder eine Jurte zwischen rauchenden Ruinen auf. „Gleichgültige Blicke, reglose Gesichter. Genauso müssen die Mongolen vor siebenhundert Jahren ausgesehen haben, als sie von ihren Sätteln herab auf die vor Schreck erstarrten Bewohner der unterworfenen Gebiete blickten.“

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Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Alexander Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.

„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“

Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.

Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen.

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„Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein.“

So knackig beginnt August Bebels hunderttausend Auflagen starkes Grundlagenwerk „Die Frau und der Sozialismus“.

Bebel untersucht das Wesen und die Ursachen der Unterdrückung. Er erklärt, dass „naturgemäß“ erscheint, was „immer schon so war“. Er räumt mit dem Aberglauben von den ewigen Werten auf.

„Ewig ist nur der Wechsel.“

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„Was die Genetik anbetrifft, sind Individuen und Gruppen wie Wolken am Himmel.“ Richard Dawkins

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„In der Erinnerung blühen die Bilder mit der Macht ihrer Abwesenheit.“ Heiner Müller

© Jamal Tuschick

Verzögerte Reaktionen

Jumbo hat ständig eine Hand in der Hose, als würde ihm da sonst was fehlen. Luciano Moravias ältester Sohn will bestimmt nicht unmanierlich erscheinen. Seine Posen sind ihm nicht bewusst. Er steht im Zentrum großfamiliärer Obhut wie ein Mastochse angepflockt vor einem Nahrungsüberangebot.

Jumbo ist nicht nur fett und faul, er stinkt auch vor Gleichgültigkeit. Man hat ihn bis zur Formlosigkeit verwöhnt und seiner Eigenständigkeit beraubt. Er verschluckt Laute, sodass die Leute raten müssen, was er gesagt haben könnte, bevor er es selbst vergisst. Nora stört das nicht. Die älteste Tochter des Tillwitzer Bürgermeisters geht bei den Moravias ein und aus.

Jumbo spürt Suchtdruck. Er braucht einen Schuss TV. Nicht, dass Sendungen im Nachmittagsprogramm ihn von Langeweile befreien könnten. Er ruft Luca, seinen jüngsten Bruder, er ist zu reduziert, selbst nach der Fernbedienung zu angeln. Lucas peilt die Lage mit einem Blick, der Nora die Knochen poliert.

Luca erkennt das Potential seiner Eltern. Geld findet man in ihrem Haus in jeder Ritze. Eis gibt es rund um die Uhr. Luca amüsiert der träge Sack, den Gott zu seinem ältesten Bruder gemacht hat.

Otfried Vrunt betritt die Trattoria, gerade als Nora an allen vorbei rauschend, sich freiläuft für den nächsten Punkt auf der Agenda des Tages. Sie spricht noch mit ihrem Vater, zumindest erwidert sie seinen Gruß, anders als Ella, die verstummt, sobald „der Erzeuger“ ihr begegnet. Jeder Versuch, sie einzuspinnen ins Vertraute und die ursprüngliche Gemeinschaft wieder aufleben zu lassen, schlägt fehl. Ella sucht den Skandal. Angeblich belastet sie die Schande, von Otfried abzustammen.

Sorge ist Otfrieds stärkste Empfindung seinen Kindern gegenüber. Er greift in einen Beutel Erdnüsse aus dem Familienvorrat der Moravias. Luciano schlurft pantoffelheldisch an und empfiehlt Spinatgnocchi in Rahmpilzsoße.

Die Isola Bella ist der rotweiß eingedeckte Lieblingsitaliener aller Tillwitzer. Die von Plastikkrebsen bevölkerten Fischernetze an der Schankraumdecke suggerieren schwelgerisch einen Stillstand der Zeit und bieten sich an, als letzter Hinweis auf die Capri Fischer Ära gelesen zu werden.

Ab vier steht die Isola Bella allen offen. Maike & Manfred bilden die Vorhut. Sie sind gut als Paar. Da Maike mehr verdient, macht Manfred mehr im Haushalt. Er grübelt auch mehr. Er leidet unter Panikattacken, deren Ursachen unergründet in der Kindheit liegen, als nie diagnostizierte Belastungsstörung. Seine Selbstzweifel und die verzögerten psychischen Reaktionen bekämpft er mit Sport.

Maike und Manfred praktizieren Familie mit zwei Kindern. Bis vorgestern waren sie im Urlaub auf Lanzarote. Manfred hat sich da auf dem Rad an seine Grenzen gebracht und jeden Tag ein paar Stunden aus dem System genommen. Während die Familienarbeit ruhte, bedachte er sein Leben. Seine Ressourcen reichen nicht aus. Das weiß er jetzt.

Er verkleckert kalte Suppe. Seine Frau betrachtet ihn skeptisch.

Er ist der Mann, hinter dem man her wischen müsste, würde man denn wischen. Sie ist eine Tillwitzerin, die es geschafft hat. Maike war Charttechnikerin der Deutschen Bank in London.

„Gewinne sind immer möglich - es kommt einfach nur auf den richtigen Einstiegszeitpunkt und die passende Strategie an.“ Charttechnikerinnen-Binse

Ein Markt ist entweder oversold oder overbought, nach der ersten Million stieg Maike aus. Jetzt managt sie die Superseniorenresidenz Schlapperschapp in Dändorf.

Manfred erinnert einen fadenscheinigen Moment der Freiheit auf dem Rad am Berg auf Lanzarote im Kampf mit den Elementen wie ein Kapitän auf hoher See. Zu Fuß wäre er schneller gewesen, als Wurst in der Plastikpelle.

Manfred denkt daran, wie losgelöst seine Frau mit einem Franzosen tanzte: ganz anders als je mit dem unzulänglichen Gatten. Maike setzt Manfred mit zwanghaftem Optimismus zu. Nur im Gespräch mit ihren Eltern hört sie auf, aus allem das Beste zu machen und verliert sich in kindlicher Klage.

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Seit zehn Minuten steckt Ivy von Höckelheim in einer Konspiration mit ihrer Lieblingstante Gunda von Tillwitz-Höckelheim vor dem Café Arkana auf dem Rathausvorplatz. Aus einem mit Kopfsteinpflaster verniedlichten Oval ragt eine Stele. Ein Protegé von Madeleine Venda-Steinfurt hat das Werk verbrochen. Die Künstlerin ist in der weiten Welt vollkommen unbekannt.

Interessanterweise fordert der Beitrag zur Moderne im öffentlichen Raum keinen Bürgerinnenunmut oder jugendlichen Vandalismus heraus. Madeleine residiert als Flüchtlings- und stellvertretende Fremdenverkehrskoordinatorin im Rathaus auf der Chefetage. Gemeinsam mit Michaela von Hallweg organisiert sie die Festspiele und kuratiert die Ausstellungen in einem zur Galerie hochgejazzten, ehemaligen Sauf- und Spukloch namens „Drehscheibe“.

Ihr Hochmut fragt nicht nach den Erwartungen der Steuerzahlerinnen. Zurzeit mutet Madeleine Tillwitz Arte Povera von Michelangelo Pistoletto zu. Ivy und Gunda möchten gar nicht wissen, was das kostet, einschließlich der Versicherungen. Sie trauen der Wessi alles zu, auch dass Madeleine Kunst abgreift und in der Besenkammer neben dem Heimatmuseum hortet, dass der Opa des amtierenden Vrunt unter dem Rathausdach einrichten ließ.

Der Vrunt-Klan hält das Rathaus besetzt. Politische Differenzen sind Dekor, sobald sich die Machtfrage stellt. Ein unverbrüchlicher, von Einfallsreichtum getunter Familiensinn, bestimmt die Vrunts von jeher. Das ist wie Keschern im Aquarium. Man hat alles in einer Pfütze.