„Alles ist bösartig, kraftlos, unbegabt und erstaunlich wenig überzeugend.“ Isaak Babel 1920
Die Ukraine als Hauptschauplatz eines weitgehend vergessenen Krieges. Als Diarist und sowjetisch-akkreditierter Berichterstatter schildert Babel eine geschundene und verschlissene Bevölkerung in einem zugrunde gerichteten Land. Das hätte ich im Januar 2022 noch anders gelesen. Der aktuelle Krieg illustriert den alten.
Auf dem Vorhof seines Weltruhms bemerkt der Autor „rote Gesichter (und) graue Seelen“.
In den 1930er Jahren geriet Isaak Babel (1894 - 1940) in das Mahlwerk der stalinistischen Säuberungen. Seiner Hinrichtung voraus gingen geheimpolizeiliche Konfiszierungen. Sie mündeten in der Vernichtung von Aufzeichnungen im Spektrum zwischen erzählender Prosa und Tagebucheintragungen. Durch die Maschen der Barbarei fielen Konvolute, die sich nicht im Besitz des Autors befanden. So erhielt sich ein Tagebuchfragment aus dem Jahr 1920. Übrigens wurde es in Kiew gesichert.
Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach, Peter Urban, Hanser, 35,-
Im Juni startet der Fünfundzwanzigjährige seine Odyssee durch die zerschlagene Ukraine. Als sowjetischer Berichterstatter im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919 - 1921) reist er zunächst von Odessa (Babels Geburtsstadt) nach Žitomir (Originalschreibweise). Gebräuchlich ist Schytomyr.
Russische Restauration, polnischer Imperialismus, Klassenkampf der Bolschewiki - Zur politischen Großwetterlage von 1920
In den Stadien der nie offiziell erklärten Auseinandersetzung werden einzelne Ergebnisse des Ersten Weltkriegs konsolidiert, andere aufgehoben. Die mit (imperialen Erwartungen verknüpften) polnischen Raumgewinne unter Marschall Józef Piłsudski sind flüchtig.
Für Rzeczpospolita stirbt man seit Jahrhunderten.
Die sowjetische Idee von der permanenten Revolution übersteht den Elchtest der Realität so wenig wie der zaristische Trotz der Weißgardisten unter Anton Iwanowitsch Denikin.
Als Piłsudskis und Denikins Gegenspieler verewigt sich der unglücklich agierende Befehlshaber der kommunistischen Kavallerie Semjon Budjonny. Ideologische Welten liegen zwischen den Anführern. Doch eint sie der Antisemitismus. Es sieht so aus, als seien verfeindete Parteien gemeinsam an Pogromen beteiligt gewesen.
„Das alte Lied, die Juden sind ausgeplündert, Misstrauen, sie hatten die Sowjetmacht als Befreierin erwartet, und dann auf einmal Gebrüll, Peitschenhiebe, Saujuden.“
Im Juni 1920 steht Piłsudski im Zenit. Polnische Truppen konnten Wilna, die Stadt seiner Jugend, und Minsk erobern. Gerade schicken sie sich an, Lemberg und Chełm, kurz ganz Galizien, einzunehmen. Babel badet im Teteriv (Originalschreibweise) und beobachtet idyllische Uferszenen mit Wäscherinnen.
Schytomyr nennt er eine „verstummte Stadt“. Die „alte Architektur“ der Synagogen überwältigt den Betrachter.
„Der Pogrom von Žitomir, von den Polen veranstaltet, danach, natürlich, von den Kosaken.“
Babel bezieht sich auf den Pogrom vom 7./8. Mai 1905.
Schytomyr ist ein chassidischer Hotspot. Bis ins ausgehenden 19. Jahrhundert war ein Drittel der städtischen Bevölkerung jüdisch. Es gab ein von der russischen Zentralgewalt etabliertes Rabbinerseminar.
Babel skizziert und schraffiert. Appelativ nimmt er sich vor, Figurenzeichnungen gelegentlich weiter auszuführen.
Der Chronist befleißigt sich der Simplifikation, stereotyper Darstellungen und physiognomischer Grobschnitte mit erstaunlicher Tiefenschärfe. Das Aufgeschnappte gewinnt poetische Kraft in unprätentiösen Transformationen.
Die Urteile sind harsch. Der soziale Untergrund erscheint stets brüchig. Die Geschichte schreitet in Prozessen voran, die nur mit Mühe und am Rand historisch werden.
Babel verwendet ein außer Gebrauch geratenes Wort: Pincenez.
Amtlicher Hohn
In einem aus den Beständen des weißrussischen Generals Denikin erbeuteten Thornycroft fährt Babel weiter nach Novograd. Er kommt kaum je aus seinen Klamotten. Er streift den Schaum seines Begehrens, so als stünde der Auftrieb unter Kuratel. Neben einem Lichtblick bemerkt Babel tausend Lügen.
Er beschreibt ruchloses Requirieren, das Aufstöbern versteckter Lebensmittel, und den amtlichen Hohn der Beschlagnahmungen. Ein Bauer zeigt einen Haufen Quittungen.
Babel unterscheidet zwischen halbstädtisch-sauberen tschechischen Dörfern und weniger ordentlichen Einheiten. Mich erinnert das an eine zeitlich in den Rahmen passende Schilderung von Alexander Solschenizyn.
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.
Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen.
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Einen bolschewistisch gewendeten Ortsvorsteher bezeichnet Babel als „gewesenen Menschen“ und als „Aristokratenratte“.
Babel registriert die „unglaubliche Müdigkeit der Einheiten, darüber, dass die heftigen Attacken unserer Brigaden nicht die früheren Ergebnisse zeitigen, ununterbrochene Kämpfe seit …“
Er rückt an Semyon Timoshenko heran. Der Divisionskommandeur aus der lange bildbestimmenden, von Stalin durchgängig gestützten Kavallerie-Clique um Budjonny und Kliment Jefremowitsch Woroschilow zählt zu jenen, die sowohl mit als auch gegen Nestor Machno gekämpft haben. Der ukrainische Anarchist und seine Schwarze Armee aka Machnowschtschina wechseln ihre Verbündeten so wie der König von Navarra seine Religion wählte.
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Timošenko (Originalschreibweise) „ist … eine farbige Figur. Ein Koloss, rote halblederne Hosen, rote Mütze, gut gebaut“. Babel schildert einen Haudegen. Die rote Reiterarmee rückt wie ein Körper vor.
Budjonny war Stalins Pferdeflüsterer
Budjonny hat gerade seinen historischen Augenblick. Er versemmelt ihn als scheiternder Rittmeister. Er wird auch im Zweiten Weltkrieg nicht zu den Kriegern mit Fortune aufrücken. Trotzdem fällt er nie in Ungnade. Stalin liebt den Kosaken.
Aus dem Spiegel vom 28.04. 1969:
„In Moskau aber erwartete der Diktator das Symbol des Sieges - so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.
Schukow soll sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen - seines Sieges.“
„Immer wieder ist es ein Glück Isaak Babel zu lesen.“ Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung
Isaak Babel ist ein hinreißender Erzähler von Weltrang; menschenfreundlich und liebenswürdig, und doch auf unbestechliche Weise der Wahrheit verpflichtet. Er wurde in finstere Zeiten hineingeboren, geprägt von Kriegen, politischen Umstürzen und antisemitischer Verfolgung. Diesen setzte er ein Werk entgegen, das durch seine menschliche Aufrichtigkeit und seinen künstlerischen Rang besticht. Die hier versammelten Dramen, Drehbücher, Reiseberichte, Erzählungen und sein Tagebuch von 1920 beschreiben Isaak Babels Weg vom gefeierten Autor der „Reiterarmee“ bis zu seinem Ende unter Stalins Terror. Eine zeitlos bewegende Lektüre.
Isaak Babel (1894 –1940) wuchs in Odessa auf und zog 1920 mit der Roten Kavallerie des Generals Budjonnyj als Reporter in den Russisch-Polnischen Krieg. Mit dem 1926 veröffentlichten Erzählband „Die Reiterarmee“ wurde er zum gefeierten Schriftsteller; dem stalinistischen Terror entkam er dennoch nicht. 1940 wurde er als Staatsfeind erschossen, 1954 rehabilitiert. Bei Hanser erschien „Mein Taubenschlag“ (Sämtliche Erzählungen, 2014).