„Der Spuk ist nicht vorbei … Aus allen Winkeln kriechen die Gespenster … (Und auf den Straßen regieren) Hass und Hohn: die Massen auf der Flucht vor der Befreiung.“ Heiner Müller
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Zwischen Gulag und Guillotine - Jedes Land hat viele Vergangenheiten und Traditionen, die sich oft widersprechen.
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In Umkehrung eines Wortes von La Rochefoucauld sind alle Kopien schlecht, die von einem guten Original abgezogen wurden.
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Heute gibt es mehr Grenzen als zu den Zeiten der Deutschen Teilung. Der Optimismus des Westens lahmt. Das Vertrauen in die Demokratie sinkt. Der Liberalismus erscheint als kranker Mann am Potomac nicht anders als an der Themse oder Seine oder Spree. Keine Erwartung wurde gründlicher enttäuscht als die Vorstellung, der (ab Neunundachtzig) eingenommene Osten verhielte sich wie das arme, aber willige Blumenmädchen Eliza Doolittle in G.B. Shaws Lehrstück „Pygmalion“ und übe gegenüber dem selbstherrlichen Professors Henry Higgins aka Mister Wild West Ergebenheit. Stattdessen bekommt „die Welt eine Bühnenfassung von Mary Shelleys Roman Frankenstein zu sehen“ (Ivan Krastev, Stephen Holmes). Während sich der Osten in langen Linien als anti-neoliberales Bollwerk etabliert und auf unerwartete Weise angreift, rennt der globale Süden wie von der Tarantel gestochen auf die Hotspots des westlichen Wohlstands zu. Ihn agitiert keine Kritik so sehr wie die Aussicht auf Teilhabe an den Resterampe-Angeboten der Überflussgesellschaften.
Neunundachtzig, als alle glaubten, der Kalte Krieg sei mit einem Sieg des Liberalismus zu Ende gegangen, ging er erst richtig los, wenn auch so verschleiert, dass noch nicht mal Regierungschefs die Lage erkennen konnten.
Vanessa Ehrlich lebt in einer artifiziell leeren Luxuseigentumswohnung am Weg zum Hohen Ufer. Wie kann sich eine „kleine Physiotherapeutin“ so eine Wohnung in dieser Lage leisten?
Die Fotos an den Wänden sind vorbildlich konturscharf-schwarzweiß und zeigen das Maximum Mapplethorpe’scher Female Masculinity. Vanessas Weightlifting-Weiblichkeit spiegelt sich darin nicht.
Nach dem Laufen sind die Frauen vielmehr angeregt als erschöpft. Selig baden sie im Schweiß. Ivy geht eine Zusatzbedeutung des Wortes zusammengeschweißt auf. Untersuchungen weisen auf Kontaktstellen zwischen sozialen Komponenten und Hormonausschüttungen hin. Athletinnen, die kollaborativ an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gehen, erleben im besten Fall ein Gemeinschaftshoch. Die Neurobiologin weiß, dass nicht Endorphine für die Euphorie verantwortlich sind, sondern Endocannabinoide.
Aber da ist auch noch etwas anderes. Während Ivy von Höckelheim bei Männern leptosome Zurückhaltung lockt, reizt sie bei Frauen die definiert-bramarbasierende Muskulatur. Das bildhauerisch Herausgemeißelte, gewissermaßen Herausposaunte. Der eitle Sporn.
Vanessa Ehrlich zeigt sich ansprechend herausfordernd und aufreizend. Verhielte sich ein Mann so, Ivy fände den Balzstolz lächerlich. Sie kann sich aber gegen „das Bodden Beauty“ (O-Ton Gunda von Tillwitz) kaum wehren. „Unsere Schokoperle“ (O-Toni Otfried Vrunt) aka „eine Frau wie ein Roundhousekick“ (O-Ton Geronimo Mansfeld) bringt das Gespräch in ihrem avant-kargen Apartment auf Phantasien, ohne selbst viel preiszugeben. Die Physiotherapeutin mit dem rätselhaften Upper-Class-Portfolio und einer vielversprechenden Ostseebad-Schmonzetten-Produktion dominiert das Verhältnis. Ivy patzt selten in der Rolle der Verehrenden, Anschmachtenden und (in einer ausufernd-sinnlichen Prozesshaftigkeit) auf den Thron der Dominanz Nachfolgenden. Sie weiß, was von ihr erwartet wird. Verkürzt gesagt, Abstand zu ihrer aristokratischen und akademischen Attitüde.
Doppelter Verhaltensboden
„Gesellschaft ist Nachahmung“, erkannte der französische Kriminologe Gabriel Tarde im 19. Jahrhundert. Er sprach von „ansteckender Nachahmung“ und von Nachahmungssomnambulismus. Ivy erlöst sich in der Freiheit unter Tage. Sie tanzt den Tango der Mimikry-Vampire, die wissenschaftlichen Prisen bereits im Forschungsvisier.
Durchschaut Vanessa den doppelten Verhaltensboden?
Erotische Beichte und Putins Payroll
An einem Sonntag im Mai. Ivy läuft hinter Vanessa. Sie nimmt die aus der Anziehungskraft gewonnene Energie ihrer Vorläuferin so absaugend wie mit einem Rüssel auf. Auf Kommando überholt sie die Schönere und Schnellere und mimt einen Ansporn, unter Läuferinnen Hase genannt. Sie gibt die Häsin, begierig darauf, dass Vanessa in jedem Fall bestimmend bleibt.
Das ist gar nicht so einfach. Ivys Suprematie durchbricht wie ein Dinosaurierküken die Schale der Travestie. Gunda von Tillwitz‘ jüngste Nichte zählt zu den Erbinnen am Bodden. Sie gehört zum alten Geld. Geschützt von einem HVA-, NVA- und Stasi-Stahlnetzwerk.
Sie würden den Komplex grammatisch in die Vergangenheit setzen. Ich nehme Ihnen Ihre Naivität nicht übel. Die Wüste lebt, egal, was Sie glauben.
Wir schreiben das Jahr 2014. Knallharte Putin-Prätorianer treiben das Nord-Stream-Business voran. Jede „Boddenperle“, die eine Wumme halten kann, wird gerade Millionärin, wenn sie es nicht schon ist. Und das ist das Kleingeld, das verteilt wird.
Vanessa verkörpert lediglich das neue Geld.
Die Frauen machen Liegestütze bis zur totalen Erschöpfung.
Als sich Ivy später die erotische Beichte abnehmen lässt, imaginiert sie eine Luxushotelszene mit einem Bad en Suite, einer Nightliner-Liege und einer besonders kostspieligen, im Zimmer servierten Mahlzeit. Der Liebhaber taucht in diesem Text bloß am Rand auf. Eine einzige Bemerkung speist ihn ab. Ivys Sakrileg: sie wagt es in Vanessas Aura einen Mann einsetzen. Obwohl auch Vanessa mit Männern ins Bett geht.
Zu gleichen Stunden an einem anderen Boddenort
Jonna von Stellberg und Otfried Vrunt feilen im Skipperhus an einem Grußwort. In zwei Wochen erwarten sie von Putin bei einem U-Bootgeheimtreffen in der Ostsee wahrgenommen zu werden. Jonna soll dann in ihrer alten Uniform auftreten und sich ansprechend äußern, und zwar im Namen der Nord-Stream-Gang um Geronimo Mansfeld und eben Oti, unserem Tillwitzer Bürgermeister und Großgrundbesitzer, der seit Jahrzehnten Jonna gewissenhaft umgibt. Er bildet eine eigene Umgebung für sie, mit einer eigenen Atmosphäre sogar. Ab und zu verschwinden die beiden in einem Zeitloch und tauchen wie aus der Frischhaltefolie geschlagen wieder auf.
Oti wünscht sich mehr Pathos. Er bittet Jonna um eine Deklamation von erhöhter Warte. Jonna trägt vor:
1992 zerfiel ein Riese zu Staub. Die glorreiche Sowjetunion hörte einfach auf zu existieren und gab dabei zwei Positionen kampflos preis: den Sozialismus und die Union. Im nächsten Schritt begann eine Nachahmung des Westens. Kurz schien es so, als sei der Weltgeist liberaler Demokrat mit planetarischem Alleinvertretungsanspruch. Für viele Beobachter der Siegermächte von Neunundachtzig sah es so aus, als würde die Geschichte gut ausgehen. Aus dem völlig unerwarteten Ende des Kalten Krieges leiteten sie die hemmungslos naive Vorstellung einer gradlinigen Entwicklung im Sinne einer Verwestlichung der Welt ab.
Aus dem Off
Wir wissen es alle. Russland begann in den 1990er Jahren mit einer Simulation demokratischer Institutionen. In der zweiten Phase spiegelte es die Kehrseiten der liberalen Demokratie. Es lieferte verätzende Parodien. Vor allem verwahrte es sich den lächerlichen Anspruch des Westens, das Gute zu repräsentieren.
Reaktionäre Nativistinnen vom Schlag einer Jonna glauben, dass die Entleihung technischer Mittel sich auf die Identität nicht auswirkt. Sie erhält nicht nur sich, sondern auch Oti das Ostgefühl 2.0.