„Ein halbzerstörtes Städtchen. Die Russen haben hier ziemlich übel gehaust.“ Isaak Babel 1920
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„Die Ukraine in Flammen. Vrangel ist nicht liquidiert. Machno* unternimmt Raubüberfälle in den Gouvernements Jekaterinoslav und Poltava. Neue Banden sind aufgetaucht, in der Gegend um Cherson - ein Aufstand. Aufstand warum, passt ihnen das kommunistische Jackett nicht?“ IB
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*Nestor Machno - „Ein Mann, in dem der Revolutionär und der Bandit eine organische Verbindung eingegangen sind - wurde auf der Woge des ungezügelt tobenden Bürgerkrieges weit nach oben getragen.“ Alexander Solschenizyn, Zweihundert Jahre zusammen: Die russisch-jüdische Geschichte 1795-1916.
Auf dem Vorhof seines Weltruhms dient Isaak Babel (1894 - 1940) dem Propagandaapparat der blutjungen Sowjetunion. Der Aktivist aus Odessa hält sich für ideologisch feuerfest und wähnt sich zugleich auf einem betonharten Plateau des Zynismus. Babel will der Welt sein naives Gesicht nicht zeigen. Das abgedankte zaristische Personal präsentiert er als Panoptikum „gewesener Menschen (und) Aristokratenratten“.
Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban, Hanser, 35,-
Ehemalige Fürstenbüttel wissen nicht mehr, wie man die Knute hält. Oft gehen sie selbst im Joch der verschleierten Leibeigenschaft. Auf der Verwalterebene heruntergekommene, fadenscheinig-gewendete, zigfach überrannte, grauenhaft mediokre social Survivor spuken in Ruinenweilern.
Manche Verwerfungen überlebt man besser nicht.
Gewalttaten, die nicht stattfinden, weil plötzlich zwanzig Nachbarinnen an den Rockschößen betrunkener Kosaken zerren. Die sich gar nicht wundern. Sich nicht wundern können, aus einem Mangel an Phantasie und Bildung. Sie lassen sich abschleppen und zurückführen wie ein Kindergarten.
„Frauen, die wie Soldaten leben. Wo bleibt die Zärtlichkeit?“, fragt Babel. Im Tross der Roten Armee jagt er hinter den Ereignissen her und erfindet seine eigene Eisenstein-Ästhetik.
Die Tochter eines Geistlichen besitzt in seinen Augen „Ähnlichkeit mit der Plewizkaja oder einem fröhlichen Skelett … ich erzähle meine Märchen, sie kann sich nicht losreißen“.
Babels atemloser Stil … in Demidovka mischen Gardisten morgens um vier jüdische Haushalte auf.
„Halbnackt und zerzaust laufen die Mädchen durch die nassen Gärten, Priščepa packt immer wieder die Geilheit, er fällt die Braut des Sohnes des krummen Alten an.“
Der indolente Chronist beschreibt die Not der Bedrängten, indem er schreibt: „Ihr Gesicht.“
Und so ist es beschrieben, ohne Adjektiv.
Babel überliefert vehementen Widerstand. Jede Menge Staub wird routiniert aufgewirbelt. Die Akteure bleiben in ihren Rollen. Sie gehorchen unterschiedlichen Regieanweisungen.
Ob Babel überhaupt bemerkt, dass sein Blick ständig am Jüdischen hängenbleibt, während der Blick doch auf das Sowjetische gerichtet sein sollte. Der neue Mensch überwindet die Bollwerke der Reaktion mit ideologischen Tauchwälzern.
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Zur politischen Großwetterlage von 1920
Im Nachgang des Ersten Weltkriegs wurde die Ukraine zum Hauptschauplatz eines seit Jahrzehnten vergessenen Krieges. Gegnerschaft ergab sich aus russisch-feudaler Restauration, polnischem Imperialismus, ukrainischem Nationalismus und aus dem Klassenkampf der Bolschewiki.
In den Stadien der nie offiziell erklärten Auseinandersetzung werden einzelne Ergebnisse des Ersten Weltkriegs konsolidiert, andere aufgehoben. Die mit (imperialen Erwartungen verknüpften) polnischen Raumgewinne unter Marschall Józef Piłsudski sind flüchtig.
Für Rzeczpospolita stirbt man seit Jahrhunderten.
Die sowjetische Idee von der permanenten Revolution übersteht den Elchtest der Realität so wenig wie der zaristische Trotz der Weißgardisten unter Anton Iwanowitsch Denikin.
Als Piłsudskis und Denikins Gegenspieler verewigt sich der unglücklich agierende Befehlshaber der kommunistischen Kavallerie Semjon Budjonny.
Im Juni 1920 steht Piłsudski im Zenit. Polnische Truppen konnten Wilna, die Stadt seiner Jugend, und Minsk erobern. Gerade schicken sie sich an, Lemberg und Chełm, kurz ganz Galizien, einzunehmen. Babel denkt über die Kavalleriekommandeure nach, die Budjonny gegen die Polen anreiten lässt.
Sind sie Condottieri oder Usurpatoren?
Ohne Ausnahme kommen sie „aus dem Kosakenmilieu“. Sie halten ihre Truppen zusammen, auch gegen sowjetische Spielregeln. Das eine Million Köpfe zählende, um 1570 gegründete Kosakenheer, besteht nach einem Dekret von 1918 in aufgelöster Form.
Es existiert nicht mehr als formale Einheit und wirkt sich doch militärtechnisch wie ein geschlossener Verband aus. Seelenruhig gehen die Reitersoldaten einer „schweren Arbeit“ nach. Von den Gemetzeln auf dem Schlachtfeld tragen sie keine Sporen der Aufregung in den rückwärtigen Raum.
Babel nennt sie „Professionals“. Er versucht, die schier somnambule Ruhe der Krieger in Worte zu fassen.
Mit ihren Vorgesetzten verkehren sie leger. Ihre Pferdeliebe übertrifft die Liebe zu den Leuten. Beinah prahlerisch leben sie im Bewusstsein ihrer „Besonderheit“.
„Krankenschwestern auf Pferden … ein Žgučij-Panzerwagen (rumpelt vorbei). Uns gegenüber - die Villa des Grafen Ledochowski“.
Babel registriert einen in seiner architektonischen Zurückhaltung noblen Bau. Da tränt das Ästhetenauge, während der Bolschewik in Babel auf die herrschaftliche Herrlichkeit einschlagen sollte.
„Immer wieder ist es ein Glück Isaak Babel zu lesen.“ Manfred Papst, Neue Zürcher Zeitung
Isaak Babel ist ein hinreißender Erzähler von Weltrang; menschenfreundlich und liebenswürdig, und doch auf unbestechliche Weise der Wahrheit verpflichtet. Er wurde in finstere Zeiten hineingeboren, geprägt von Kriegen, politischen Umstürzen und antisemitischer Verfolgung. Diesen setzte er ein Werk entgegen, das durch seine menschliche Aufrichtigkeit und seinen künstlerischen Rang besticht. Die hier versammelten Dramen, Drehbücher, Reiseberichte, Erzählungen und sein Tagebuch von 1920 beschreiben Isaak Babels Weg vom gefeierten Autor der „Reiterarmee“ bis zu seinem Ende unter Stalins Terror. Eine zeitlos bewegende Lektüre.