„Zerstörung total. Nicht einmal Sachen sind übriggeblieben.“ Isaak Babel in der Ukraine im Sommer 1920
Emily Haber erklärt, „dass der Ukraine-Krieg deutsche … Grundannahmen ‚pulverisiert‘ habe.“ Aus der WELT vom 21.05. 2022, Quelle
Wie ein Kriegsberichterstatter unserer Tage schildert der sowjetische Propagandist Isaak Babel die Pulverisierung der Ukraine vor 102 Jahren im Sommer 1920 im Polnisch-Sowjetischen Krieg (1919 - 1921). Seelisch erfroren durchstreift der Chronist das Grauen. Ein privilegiertes, seinem Auftrag vollkommen entfremdetes, das eigene Überleben beklagende Gespenst verlangt von sich, Zeugnis abzulegen. Mit James Joyce könnte es sagen: “Write it, damn you, write it! What else are you good for?”
Es ruft sich zur sozialistischen Ordnung: „Bezaubernde, wenn auch herrschaftliche Einrichtung.“
Zaristisch sozialisierte Kavalleristen der Roten Armee treiben ihre Pferde in den Salon eines requirierten Schlosses, um die Tiere vor dem Regen zu schützen.
Lahmt sein Pferd, reitet Babel auf dem Pferd eines Divisionskommandeurs weiter. Er versäumt es nicht, die Pflaumenfülle an Bäumen in einem ausgestorbenen Dorf zu erwähnen. Das Obstaufkommen ist spektakulärer als eine Schießerei. Reguläre Marodeure sprengen einen Bienenstock. Sie säbeln die Rahmen heraus. Ein barbarisches „Bacchanal“.
Das ist dann nur noch eine läppische Feststellung:
„Pure Konfusion, das ist unsere Aufklärung.“
Debellatio
„Wir sind in einem merkwürdigen alten Haus, in dem es einmal alles gegeben hat.“
Isaak Babel notiert den hallenden Satz 28.8. 1920 in einem erst von Polen und dann von Russen überrannten und niedergemachten Weiler. Die Geschichte wiederholt sich. Doch nicht als Farce, siehe „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx, zitiert nach Wikipedia
Die Debellatio ist vollkommen. Trotzdem hört das Abschlachten nicht auf. Man fleddert Ermordete, stochert in Knochenhaufen und Ruinen. Soldaten entwenden sakrale Kultgegenstände, entschlossen, sich zu bereichern.
„Die erschlagene alte Frau, ein Kind mit abgehackten Fingern … (ein Mensch,) „zusammengerollt wie ein Kringel“.
Isaak Babel, „Wandernde Sterne. Dramen, Drehbücher, Selbstzeugnisse“, übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban, Hanser, 35,-
„Alle Frauen und Mädchen können kaum gehen.“
Jüdinnen unterwerfen sich weiterhin religiösen Vorschriften. Sie „(wollen) nicht kochen, bevor der Samstag vorbei (ist)“.
In diesem Inferno klappert Babel Stabsstellen und Befehlsstände der Roten Armee ab. Er ist mit der Macht und doch von ihr getrennt als ohnmächtig Mitleidender. Dem Großkrieger Iosif Apanasenko fehlen dafür die Antennen. Er schreit: „Wir lassen den Gegner immer wieder aus, verlieren die Fühlung, ohne Fühlung kein Schlag.“
Bolschaja Tschistka
In den 1930er Jahren geriet Isaak Babel (1894 - 1940) in das Mahlwerk der stalinistischen Säuberungen. Seiner Hinrichtung voraus gingen geheimpolizeiliche Konfiszierungen. Sie mündeten in der Vernichtung von Aufzeichnungen im Spektrum zwischen erzählender Prosa und Tagebucheintragungen. Durch die Maschen der Barbarei fielen Konvolute, die sich nicht im Besitz des Autors befanden. So erhielt sich ein Tagebuchfragment aus dem Jahr 1920. Übrigens wurde es in Kiew gesichert.
Vor Schreck erstarrt
Andrzej Stasiuk entdeckt in seinem Faktenthriller „Der Osten“ das Echo einer von Absichten kaum beschwerten, in Jahrhunderten selten unterbrochenen Expansion. Man erobert, um die Pferde in Gang und die Männer in Form zu halten, reitet Fleisch unter dem Sattel mürbe, zerstört, was den Weg verstellt, und stellt dann doch nur wieder eine Jurte zwischen rauchenden Ruinen auf. „Gleichgültige Blicke, reglose Gesichter. Genauso müssen die Mongolen vor siebenhundert Jahren ausgesehen haben, als sie von ihren Sätteln herab auf die vor Schreck erstarrten Bewohner der unterworfenen Gebiete blickten.“
Verschwiegene Fassungen/Mörderische Routinen
Babel eilt Stasiuk voraus durch den Szenenpark. Er nimmt Maß für eine literarische Verarbeitung mörderischer Routinen auf seiner Seite des Geschehens. Die kommunistische Kosaken-Kavallerie unter Semjon Budjonny bietet sich romantischen Verklärungen eher an als alle anderen Waffengattungen der Roten Armee. Man assoziiert das Pathos des 19. Jahrhunderts. Den Schneid grandios voranreitender Kommandeure. Husarenstücke mit Sprungakrobatik und Schwertkampfkunst. Die Schönheit aufopferungsvoller Krankenschwestern, die mit den Kämpfern „durch dick und dünn gehen“. Und schließlich Lagerfeuer und Gesang.
Auch bei Babel gibt es das „Rauschen (in) erhabener Finsternis“.
Der Autor halluziniert die Apotheose der Apokalypse im Morast unbeschreiblich roher Frontvorhöfe und heruntergeputzter Dörfer. Die Rote Armee mordet, vergewaltigt, zerschlägt und plündert nach oder vor anderen, ähnlich auftretenden Armeen. Was militärisch ins Feld gestellt wird, ob Mensch, ob Material, es formiert sich zu einer grauen, Läuse und Geschlechtskrankheiten austragenden Vernichtungsmaschine.
1926 erscheint die Erstausgabe des Zyklus Die Reiterarmee. Zehn Jahre später verschwindet der Titel aus dem sowjetischen Angebot. Ab 1957 sickern verschwiegene Fassungen durch die Filter institutioneller Vorbehalte auf den Ostblockmarkt.
In den Vorzeichnungen erwägt Babel, sich an Čechovs (Originalschreibweise) „Drei Schwestern“ zu orientieren. Er entwirft Charaktere zwischen stolz, elastisch und ergeben. Den Haushalt siedelt er in Demidovka an.
Dazu bald mehr.