Der Autor variiert einen Höhepunkt der Renaissance. Gary Shteyngart bezieht sich auf die Novellensammlung „Decamerone“. Giovanni Boccaccio erklärte ein Landhaus (das noch steht) vor Florenz zum Schauplatz einer Begegnung Heimgesuchter anno 1348. Sieben Frauen und drei Männer sind vor der Pest in die toskanischen Highlands geflüchtet. Angehoben von Sommerfrische-Empfindungen und gedämpft von Angst stellen sie die Gegenwärtigkeit eines schrecklichen Todes in den Glanzschatten der Erzählkunst.
Shteyngarts Protagonist:innen scharen sich im März 2020 um den einfallsreichen Asthmatiker Alexander Borisovich Levin-Senderovsky. Gerade wurde der pandemische Charakter eines Virus ruchbar, dessen epidemiologischer Steckbrief noch in der Pipeline steckt. Die Welt diskutiert über Abschottung und andere Sicherheitsvorkehrungen. In diesem Klima pfeifen Sashas Gäste (gegen den rasch erlahmenden und schließlich vollkommen eingestellten Widerstand der Gastgeberin Masha) nicht nur auf alle Abstandregeln. Vielmehr zieht ein Mann, der aus dem letzten Loch pfeift, weil er nur noch einen Lungenflügel hat, an einem Joint, der von Mund zu Mund geht.
Im Handstreich stürzen die Akteure Mashas postsowjetisch-rigides Coronaregime.
Sashas „natürlicher Zustand“ ist es, angetrunken zu irrlichtern. Shteyngart schildert einen grotesk unzulänglichen Autofahrer.
Gary Shteyngart, „Landpartie“, Roman, aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl, Penguin, 25,-
Betreutes Duschen
Spricht der aus Sankt Petersburg gebürtige, in Putins Nachbarschaft aufgewachsene Ex-Dozent von der City, meint er New York. Jetzt versucht er, schlagartig viel Geld mit einem Drehbuchdeal zu machen. Der Idee entgegen steht die Ablehnung eines Schauspielers mit osmanischem Sexappeal, der anscheinend namenlos durch den Roman geistert. Jemand nennt ihn Amberson. Er erscheint glanzvoll überlegen und ominös. Masha, eine mitunter „panische Psychiaterin“, stachelt er zu einer dienstleistenden, buchstäblich handreichenden Sex-Praxis („betreutes Duschen“) auf, während die aufstrebende Autorin Dee Cameron, „eine Tochter … des reizlos-hartgesottenen“ US-Südens, den Glamourösen in (ihm bis eben unbekannte) Nöte bringt.
Schuld an der Klemme ist Karen Cho. Die Amerikanerin mit koreanischen Eltern gelang als Software-Entwicklerin erst spät der Durchbruch mit der Tröö-Emotions-App, die ein beliebiges Verlieben hervorruft.
Karen zählt zu den ältesten Freundinnen des Gastgebers. Natasha/Nat, die achtjährige, von einer Koreanerin zur Welt gebrachte Adoptivtochter der Levin-Senderovskys, fixiert sich auf die kinderlose US-Koreanerin.
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Zunächst sind alle Gäste in Bruchbuden untergebracht, die hinter dem Haupt- und Herrenhaus buckeln. Dee logiert im ‚Writer’s Cottage‘. Sieben Schreibmaschinen illustrieren die Butzenzuschreibung in lächerlich klischeehafter, Sashas durchtriebene Seite auf den Punkt der Phantasielosigkeit bringende Weise. Hat Sasha die erfolgreiche Debütantin nur deshalb aus der City nach Hawaii in seine - im Geist der Mangelwirtschaft postsowjetisch dysfunktionale - sogenannte Bungalowkolonie gelockt, um mit ihr den Schauspieler zu ködern/um ihr den Schauspieler zum Fraß vorzuwerfen? Soll der - an der Leine einer beinah bizarr-plötzlichen, erst einmal unwirsch-unerwiderten Liebe laufende - Narzisst seine professionelle Reserve gegenüber Sashas TV-Erzählungen dem Begehren opfern?
Über eine weitere Infamie des Gastgebers reden wir später.
Dem Schauspieler in die Parade fährt Karens persönlicher Gegenspieler und gebürtiger Seouler Edward ‚Ed‘ Sungjoon Kim, ein gewandter, in jeder Hinsicht unabhängiger Weltmann, mit drei Staatsbürgerschaften, einer Abneigung gegen den sozialen Eintopf der koreanischen US-Migration, und einer sublimationsabholden Neigung für Southern Belles vom Schlag der freimütig-unabhängigen Dee.
Im Ensemble fehlt nur noch der seit Jahrzehnten Karen anbetende, aus Ahmedabad eingewanderte Vinod Mehta.
„Sogar sein Lachen hat einen Akzent.“
Vinod verkörpert den schwer beschädigten Verlierer unter Virtuosen. Von Sasha einst tückisch entmutigt und dauerhaft außer Kraft gesetzt, verfehlte er eine Laufbahn auf der Höhe seiner schriftstellerischen Begabung.
„Du hättest ein anderes Leben haben können.“
Das sagt Karen. Sasha zeigt sich zerknirscht und verspricht Vinod, ein vor dreißig Jahren schlecht geredetes Manuskript (mit dem Titel „Hotel Solitaire“) in einen effektiven verlegerischen Umlauf zu bringen.
Morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Ein Haus auf dem Land, acht Freunde, vier Romanzen – und sechs Monate in Isolation: Der gefeierte Autor Gary Shteyngart meldet sich zurück mit einem großen Amerika-Roman über unsere Zeit
Es ist März 2020, und eine uns wohlvertraute Katastrophe zieht am Horizont auf. In einem idyllischen Landhaus außerhalb von New York versammelt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde und loser Bekanntschaften, um die Pandemie bei gutem Essen und anregenden Gesprächen auszusitzen. Über die nächsten Monate wachsen neue Freund- und Liebschaften, während sich längst vergessen geglaubte Kränkungen mit frischer Kraft manifestieren. Doch mit der Ankunft eines mythenumwobenen Hollywoodstars gerät das mühsam konstruierte Gleichgewicht dieser Wahlfamilie gefährlich ins Wanken ...
Eine ungemein zeitgenössische Geschichte, erzählt mit der Haltung eines großen Romanciers: Shteyngart dokumentiert die singuläre Gefühls- und Erlebniswelt des Jahres 2020 und verpackt sie in einen süffig-intelligenten Roman, der Erinnerungen an Boccaccios »Dekameron« und die großen Klassiker der russischen Literatur durchscheinen lässt – versetzt ins Amerika der Gegenwart.
»Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloß vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen – oder dass Ihnen die Tränen kommen.« Jonathan Safran Foer
»Dieser Roman verkörpert all das Gute, Wahre und Schöne der Literatur.«
New York Times (27. Oktober 2021)
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Der Autor liest am:
Mo. 20.6. | ZÜRICH (CH), Kaufleuten, 20 Uhr (Mod.: Mikael Krogerus, dt. Stimme: Wanda Wylowa)
Di. 21.6. | MÜNCHEN, Literaturhaus, 20 Uhr, Saal & Stream, (Mod.: Knut Cordsen, dt. Stimme: Benito Bause)
Mi. 22.6. | BERLIN, Pfefferberg Theater, 20 Uhr (Mod.: Joachim Scholl, dt. Stimme: Heikko Deutschmann)
Do. 23.6. | KÖLN, Kunstverein, Hahnenstr. 6, 19:30 Uhr, VA: Literaturhaus, (Mod.: Kristian Lutze, dt. Stimme: Stefko Hanushevsky)
Zum Autor
Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und kam im Alter von sieben Jahren in die USA. Er legte 2002 mit »Handbuch für den russischen Debütanten« seinen Erstling vor, ein New-York-Times-Bestseller, der u.a. mit dem National Jewish Book Award for Fiction geehrt wurde. Es folgten die vielfach ausgezeichneten Erfolgsromane »Absurdistan« und »Super Sad True Love Story« sowie zuletzt sein autobiografisches Buch »Kleiner Versager«. »Willkommen in Lake Success« ist der vierte Roman des New Yorker Kultautors, er wurde mehrfach zu einem der besten Bücher des Jahres 2018 gekürt und wird von HBO als Serie mit Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle verfilmt.