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2022-06-04 07:43:42, Jamal Tuschick

Zustimmungsaplomb

Während Thomas Mann auf Adornos Kritik mit bedienendem Zustimmungsaplomb reagiert, zeigt sich der Zauberer im Weiteren reserviert. Aufsätze liest er mit „nachdenklicher Zurückhaltung“. Er reagiert aber begeistert auf die von Adorno in der Zeitschrift für Sozialforschung publizierte Analyse Spengler Today. Mann teilt mit Adorno eine Abneigung gegen Oswald Spenglers „kindische Romantik der Raubtier-Bewunderung“. In der Ableitung Goethe – Schopenhauer – böser Oberlehrer erkennen die Titanen eine Litanei.

Böse Hoffnung

„Eigentümlich amorph“ seien die Darstellungen der in Nürnberg vor Gericht gestellten Täter:innen, schreibt Adorno 1949 in einem Brief an Thomas Mann

Bereits im Dezember 1949 beschreibt Adorno in einem Brief an Thomas Mann, was seither das Gedächtnistheater als einer deutschen Veranstaltung bestimmt. „Eigentümlich amorph“ seien die Darstellungen der in Nürnberg vor Gericht gestellten Täter:innen. Die Schuld rinne „ins Wesenlose“. Der Vorgang wiederhole sich bis zum Stadium des Unscheinbaren. Der wahnsinnig machende Irrsinn fände da seinen „drastischsten Ausdruck: Ich habe, außer ein paar rührend marionettenhaften Schurken von altem Schrot und Korn, noch keinen Nazi gesehen“; nicht nur nicht in einem ironischen Sinn, „sondern in dem weit unheimlicheren, dass sie glauben, es nicht gewesen zu sein“.

Theodor W. Adorno/Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, Suhrkamp

Adorno konstatiert ohne besondere Apostrophierung die Vollkommenheit der Verdrängung, in der sich Emanationen der Vernichtung aus den gesellschaftlichen Kulissen zurückziehen wie unerwünschte Besucher:innen.

Adorno bemerkt dann etwas, dass für die geschlagenen Täter:innen wie ein Rettungsseil funktioniert hätte, wären sie denn imstande gewesen, zu den Quellen vorzudringen. Sie könnten schuldig „insofern wirklich nicht (geworden sein), als angesichts des dem Menschen entfremdeten Unwesens der Diktatur diese nie … zugeeignet wurde wie ein bürgerliches System, sondern fremd … als eine böse Chance und Hoffnung außerhalb der Identifikation blieb“.

Zum Glück geriet das exkulpierende Argument nicht in die Diskussion, zumal man leicht daran zweifeln kann, dass konsequente Bürgerlichkeit einen staatsverbrecherischen Antrieb ausschließt. Außerdem spricht Adorno an anderer Stelle von jener Kultur, die den Holocaust gebar.

Aus der Ankündigung

Im Dezember 1945 schrieb Thomas Mann jenen berühmten Brief an Theodor W. Adorno über das Prinzip der Montage in seinem Roman Doktor Faustus, verbunden mit der Einladung, gemeinsam »darüber nachzudenken, wie das Werk – ich meine Leverkühns Werk – ungefähr ins Werk zu setzen wäre«. Die enge Zusammenarbeit an den Spätwerken Adrian Leverkühns – Adorno verfaßte detaillierte Entwürfe, die im Anhang des Bandes abgedruckt sind – wurde zur Grundlage dieser Korrespondenz, die in einer sehr ungewöhnlichen Begegnung von Tradition und Moderne entstand und in diesem Spannungsfeld bis zum Tode des Dichters andauerte.

Gewöhnliche Genies

Sie verehren sich und sind verliebt in den Esprit des Anderen. Als Agenten des beharrenden Fortschritts daran gewöhnt, dass ihnen kaum je ein(e) Zeitgenoss:in das Wasser reichen kann, genießen sie es, in der Gegenwart eines Gleichgroßen klein beizugeben. Thomas Mann diskutiert mit dem Kongenialen Produktionsfragen. Der Meister leidet unter Eskapismus. Ihn reitet ein Teufel der Montage. Nun rechtfertigt er sich vor einem, der das Problem begreift.

Zweifellos finden beide es anstößig, zu montieren. Das Verfahren rangiert dich neben der Eskamotage, ein Wort, das ich zuerst bei Adorno fand. Auch Kolportage ist nicht weit weg von Montage.

Ein Thomas Mann kolportiert und kollaboriert nicht. Der Mann kooperiert kaum je. Hat er nicht nötig. Das gleiche solistische Trimmdich-Programm auf einem Hochparcours der geistigen Überlegenheit absolviert selbstverständlich der ins Vertrauen gezogene Adorno.

Heute besprechen wir einen Brief, den Thomas Mann am 30. Dezember 1945 am San Remo Drive* verfasst.

*„Das Thomas-Mann-Haus ... in Pacific Palisades, Los Angeles, im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien ist das ehemalige Wohnhaus des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, der darin mit seiner Familie während seines Exils von 1942 bis 1952 lebte. Das vom Architekten Julius Ralph Davidson entworfene Haus am San Remo Drive Nummer 1550 wurde in den Jahren 1941/42 erbaut.“ Wikipedia

Die im Fleisch vermiedene Geliebte

Nun zieht sich die Montage „durch das ganze (Manuskript), ohne ein Hehl aus sich zu machen“. Thomas Mann kolportiert die Symptome Nietzsche’s (Originalschreibweise, sächsischer Genitiv), „wie sie in seinen Briefen vorkommen“.

Thomas Mann „benutzt das Motiv … der im Fleisch vermiedenen … Geliebten“. Die freundlich-zupackende Übernahme und geistige Anleihe bezieht sich auf ein berühmtes Arrangement. Die noble Witwe Nadeschda Filaretowna von Meck verabredete mit dem Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski einst die Vermeidung des leiblichen Kontakts unter den vollen Segeln eines regen geistigen Austauschs.

„Damit begann eine fast 14-jährige Korrespondenz, in deren Verlauf 1204 Briefe gewechselt wurden. Ungewöhnlich war die einvernehmliche Abmachung, auf persönliche Begegnungen zu verzichten.“ Wikipedia

Die Spezialität im Verhältnis einer mäzenatisch großzügigen Muse zu einem Musiker deklariert Thomas Mann als „mythisch-vogelfreies Thema“. Im Weiteren weidet er Shakespeare aus. Er gesteht:

„An dem unverfrorenen Diebstahl-Charakter der Uebernahme (Originalschreibweise) ändert das wenig.“

Thomas Mann spricht von einer „früh geübten Art des höheren Abschreibens“. Er unterscheidet den wie Aas im Feld liegenden, zur Ausschlachtung sich förmlich selbst einladenden Gebrauchstextabfall (Abfall im Sinn von etwas fällt ab) von den Fällen, „wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind“.

Gewöhnliche Genies

Adorno in einem Brief an Thomas Mann: „Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie mit mir sprächen.“

„Den Traum einer von Zwecken nicht entstellten Welt“ in den Prozessen der Desillusionierung nicht verloren zu haben. Auch das hält Adorno Thomas Mann zugute. Die Genies verehren sich mit viel intellektueller Myrrhe & Weihrauch auf den gediegenen Flächen des Edelexils. Sie schwärmen füreinander. Sie separieren sich und feiern ihre Sonderrollen. Denn sie sind anders als die gewöhnlichen Genies à la Feuchtwanger und Remarque. Sie sind ausführlich die guten Deutschen. Im Fall von Thomas Mann muss man das nicht ausführen, dieser Triumph des 19. Jahrhunderts, König der Biedermeier, Kaiser von Krähwinkel, erkannte rechtzeitig im Hitlerismus eine Abortvariante. Aber auch Adorno bringt es fertig zu sagen:

„Als ich Sie, hier an der entlegenen Westküste, treffen durfte, hatte ich das Gefühl, zum ersten und einzigen Mal jener deutschen Tradition leibhaft zu begegnen, von der ich alles empfangen haben: noch die Kraft, der Tradition zu widerstehen.“

Hier an der entlegenen Westküste - Adorno denkt die Welt snobistisch von Deutschland aus. Amerika ist ihm zu klein, hat keine Kultur, hat keinen Goethe und keinen Beethoven.

Selbstvergessene Produktion

Das Wort von der „ununterbrochenen Arbeit und selbstvergessenen Produktion“ findet sich in einem Brief von Adorno an Thomas Mann vom 3. Juni 1945. Mann schätzt Adorno nicht zuletzt als „erstaunlichen Kenner“. Adornos Einwände führen zu Bearbeitungen von Passagen. Das will uns selbstverständlicher erscheinen als es ist. Zwei Genies begegnen sich nicht nur zu herausragenden Anlässen im Exil. Vielmehr suchen sie sich und sind stets auf die gleiche Weise angenehm füreinander.

Der Mangel an Rivalität ist rar unter den „Großkopfeten“ … „Heute Abend bei Max (Horkheimer) mit ein paar Großkopfeten, darunter Thomas Mann.“ Da vernimmt man noch die Krise der Konkurrenz und die im Raum stehende Frage nach dem eigenen Rang.

Aus der Ankündigung

... Thomas Mann schrieb Adorno über die »faszinierende Lektüre« der Minima Moralia und kommentierte ausführlich den Versuch über Wagner, ein Buch, das er lesen wollte, »wie jemand in der Apokalypse ein Buch ißt, das ihm ›süß wie Honig schmeckt‹«. Adorno begleitete die letzten Werke Thomas Manns, den Erwählten, Die Betrogene und die Wiederaufnahme des Felix Krull, mit eingehenden Kommentaren und nicht selten mit begeistertem Zuspruch. Selbst sehr private Fragen von entscheidender persönlicher Bedeutung, wie die mit großer Aufrichtigkeit geführte Diskussion um die Rückkehr aus der Emigration, bleiben im Briefwechsel nicht ausgespart.