„Mittelmäßige ... verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit.“
In Gary Shteyngarts Brave New World sind Flughäfen, „so schön wie Korallenriffe“, und die Fitnesswerte sämtlicher Verkehrsteilnehmerinnen eine öffentliche Angelegenheit. Via seines „Äppäräts“ erhält jeder Zugang zu verlässlichen Informationen über den sozialen Status von jedem. Die Gesundheits- und Attraktivitätsnormen deklassieren alle über Fünfundzwanzig. Im Gegenzug haben Fünfzigjährige einen Global Teens Account.
Gary Shteyngart, „Super Sad True Love Story“, Roman, aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke, Penguin Verlag, 464 Seiten, 12,-
Wenig erscheint grauenhafter als das Prä-Greisengrau der Ü-Dreißigjährigen.
Irgendwo bezeichnet sich Shteyngarts trostloser Held Leonard ‚Lenny‘ Abramov als „Posthumaner“. Das bezieht sich noch nicht auf seine individuelle Verfassung, sondern lediglich auf seinen Job in der „Kreativwirtschaft“. Trotzdem trifft posthuman den Nagel auf den Kopf.
„Posthumane Dienstleistungen aka unbeschränkte Lebensverlängerungen“ bietet das Unternehmen an, bei dem sich Lenny mit Müh und Not hält. Ein Königstiger der Branche schützt den „Rhesus“.
„Du erinnerst sie an eine … ältere Version unserer Gattung“, erklärt ein Überwinder der Alterssegregation.
Alpha-Akteure nachfolgender Generationen reagieren auf Lenny mit einem Unbehagen, von dem sie sich aggressiv erlösen.
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Uns trennt wenig von jener dystopisch-globalen Überwachungs- und Bewertungsgesellschaft, die Shteyngart schildert. Als rat- und rastloser Hamster im New Yorker Lebenslaufrad erscheint Lenny als einer von uns. Von Tschechows Novelle Drei Jahre erhofft er Ratschläge, wie er die sommersprossige US-Koreanerin Eunice Park für sich einnehmen kann. Er will sie überlisten, so dass „ihre Jugend und seine Hinfälligkeit unter einen Hut“ passen.
Eunice „digitaler Fußabdruck“ ist niedlich klein. Die Tochter eines gewalttätigen Fußtherapeuten „textet“ unter EUNI-DIOTIN auf dem Zentralorgan der ewigen Jugend. Lenny ist für sie zunächst nur jemand, der ihr „unbegrenzt“ einen Wohnort in New York bietet.
Obwohl beide Nachkommen von Migrant:innen sind, wirkt nur Lenny so, als habe er eine nicht-amerikanische Vorgeschichte. Sein Vater stammt aus Moskau, die Mutter aus Minsk. Beiden zu eigen ist ein sowjetisch-gusseiserner Aufstiegswille. Sie schafften es aus dem Nichts in die entlegensten Ausläufer des Mittelstandes. Lenny hievte sich weiter nach oben. Nun droht der Absturz.
Lennys Bewertung sind allezeit erbärmlich. Er ist so sehr ein Mensch von gestern. Eunice studiert die antike Patina. Sie ekelt sich vor ihrem Gastgeber. Er betet sie an.
„Errege ich dich so sehr?“ fragt sie ungläubig.
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Bisher brachte noch niemand die Folie ins Spiel, die Shteyngart seiner Satire unterlegt haben könnte. Ich rede von George Bernard Shaws am 16. Oktober 1913 am Wiener Burgtheater uraufgeführten Komödie „Pygmalion“.
Der akademisch ordinierte Philologe Higgins wettet, dass er die Straßenhändlerin Eliza Doolittle nach einem Sprachkurs als Aristokratin auftreten lassen könne. Bei Shteyngart übernimmt Eunice den Higgins-Part. Sie lehrt Lenny die Codes und Abkürzungsbandwürmer der Äppärät-Avantgarde. Eunice liftet ihn auf ein Niveau beinah positiver Bewertungen. Das ist schon das Beste, was Lenny passieren kann.
„Bei (Lenny) läuft so vieles falsch und ich habe den Eindruck, ich muss das alles in Ordnung bringen.“
Die Dystopie ist perfekt. Das Repressionsregime einer „Restaurationsregierung“ setzt die Spielregeln der amerikanischen Freiheit mit einem Mix aus Emoji-Regression und Terror außer Kraft. Die Auflösung der US-Verfassung vollzieht sich in Prozessen, die als „Erneuerungen“ deklariert sind. Die Transparenz der Camouflage lässt nichts zu wünschen übrig. Jeder weiß Bescheid. Alle fügen sich. Die Gangster an der Staatsspitze spielen mit offenen Karten.
Zur „Erneuerung“ gehört, dass „Einwanderer mit schwacher Bonität deportiert werden“. Wer länger als ein Jahr im Ausland lebt, dem droht eine Anklage wegen „Landesverrat“. Das erfährt der expatriierte New Yorker Leonard ‚Lenny‘ Abramov in Rom zu seiner Bestürzung. Der Sohn eines Hausmeisters und einer Sekretärin mit Moskauer Migrationshintergrund, scheitert bei dem Versuch einer günstigen Vorfeldabklärung seines Falls in der amerikanischen Botschaft.
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Lennys Eltern hängen einem post-sowjetischen Konservatismus an. Das sektenförmige Phänomen taucht in Gary Shteyngarts autobiografischen Abklärungen immer wieder auf. Auf Anhieb, so der Autor, fühlen sich die russischen Einwanderinnen und Einwanderer anderen Minderheiten überlegen. Beim Einstiegsniveau von Lennys Eltern zielte der Ehrgeiz auf einen Aufstieg in „die untere Mittelklasse“. Dafür gingen die Abramovs über die Leichen ihres Wohlbefindens. Ebenso rücksichts- wie bedenkenlos überschritten sie die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Lenny erwähnt, wie seine Mutter, des Englischen kaum mächtig, sich mit schierer Willenskraft beruflich verbesserte. Die „Tippse“ sprengte den Rahmen ihrer Qualifikation, besessen von der Vorstellung, am Rand der mehrheitsgesellschaftlichen Mitte Halt zu finden. Am Wochenende fuhren die Eltern mit Lenny in PoC-Quartieren spazieren, wo eine sozial lethargische Bevölkerung die Kehrseite des A-Dream illustrierte. Die Ausflüge dienten der herabsetzenden Unterhaltung nicht nur. Zugleich waren sie eine ständige Warnung. Das konkludent zirkulierende Familienmotto lautete: Das darf uns nicht passieren.
In der Romangegenwart erfüllt Lenny die in ihn gesetzten Erwartungen unter bizarren, aber keineswegs unrealistischen Vorzeichen. Die Vereinigten Staaten sind von China abhängig. Der alten Monroedoktrin genügen sie mit Waffengewalt in Venezuela. Jede Lebensäußerung wird mit einem Gerät namens „Äppärät“ dem kontrollierenden Daten-Nil zugeführt.
Lenny ist 39, ledig, biblioman; beschäftigt in der Kreativwirtschaft. Der manische Diarist dreht „vermögenden Privatpersonen“ Unsterblichkeitspolicen an. Die Trennung von Arbeit und Leben verflüchtigt sich auf Partys exzentrischer Römerinnen, deren Gäste oft zur Kategorie der „nicht Konservierbaren“ zählen. Die Exzessiven schließen sich mit selbstschädigenden Daseinsweisen von einer extraterrestrischen Existenz aus. Ja, es geht in Lennys Sphäre nicht bloß darum, bis zum planetarischen Kollaps durchzuhalten.
Von einem Künstler, der nebenbei die Orwell-Reverenz „1984“ ins Spiel bringt, muss sich Lenny sagen lassen:
„Mittelmäßige wie du verdienen nichts Besseres als Unsterblichkeit.“
Fellinis Visionen im TV-Enddarm/Der Abstieg vom Film zum Fernsehen
Das Gros der Festaioli rekrutiert sich aus einer Verliererinnen-Generation. Die Eltern waren zur Hochzeit des Cinecittà-Hypes Großakteure im Fellini-Tross. Der Nachwuchs sortierte sich automatisch in die einschlägigen Fächer, um da künstlerisch zu verkümmern. In einer summarischen Betrachtung wurde er zur Dauerlieferantin nie realisierter Filmideen. Er stieg so lange ab, bis ihm die tristen Verliese der Vorabendserien und Castingshows verheißungsvoll erschienen.
Wie kann man ausbrennen, wenn man nie Feuer gefangen hat?
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An seinem letzten Abend in der ewigen Stadt lernt Lenny im Haus seiner italienischen Geliebten die Koreanerin Eunice Park kennen. Sie sieht aus wie eine „asiatische Audrey Hepburn … mit einer ungewöhnlichen Prise Sommersprossen“. Sie stammt aus Fort Lee, New Jersey, und besuchte das (fiktive) Elderbird College in Massachusetts.
Auf Niederländisch liest sich das so:
„Een lief Koreaans meisje, afgestudeerd aan Elderbird College, Massachusetts. Wat verlangde ik ernaar die volle lippen zelf te kussen en dat frêle lijfje in ...“
Der Erzähler charakterisiert sich selbst als „eingefallene … Festung“. Eunice verkörpert das blühende Leben. Sie gewährt Lenny ihre Gunst gleich in der ersten, (seiner letzten römischen) Nacht. Während der fadenscheinige Liebhaber Eunices Jugendfrische in seinen Aufzeichnungen verherrlicht, zieht Eunice im Asphalttenor vom Leder.
Aus der Ankündigung
Eine witzig-schräge Erzählung über das Amerika der Zukunft - und über den großen Wert der Menschlichkeit in allen Zeiten
Amerika, in einer nahen Zukunft: Das Land steht vor dem finanziellen Kollaps und die eigentlich doch so geduldigen chinesischen Gläubiger sind kurz davor, den Laden endgültig dichtzumachen. Lenny Abramov, Sohn einer russischen Einwandererfamilie aus Queens, kommt das äußerst ungelegen. Denn erstens besteht sein Job in der Abteilung für »Unbeschränkte Lebensverlängerung« darin, Superreichen nichts weniger als das Versprechen auf Unsterblichkeit zu verkaufen, und zweitens hat er sich gerade in Eunice Park verliebt, eine schöne, aber grausame Vierundzwanzigjährige mit koreanischen Wurzeln. Als in New York Unruhen ausbrechen und Panzer in den Straßen stehen, schwört sich Lenny, seiner unberechenbaren Geliebten zu zeigen, dass es sich auch in einer Welt ohne Werte und Stabilität auszahlt, ein Mensch zu sein.
»Gary Shteyngart gilt als Spezialist des liebevoll Absurden, als ein Meister der Satire, der sich in überbordendem erzählerischem Einfallsreichtum austobt.« Die Zeit
Zum Autor
Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und kam im Alter von sieben Jahren in die USA. Er legte 2002 mit »Handbuch für den russischen Debütanten« seinen Erstling vor, ein New-York-Times-Bestseller, der u.a. mit dem National Jewish Book Award for Fiction geehrt wurde. Es folgten die vielfach ausgezeichneten Erfolgsromane »Absurdistan« und »Super Sad True Love Story« sowie zuletzt sein autobiografisches Buch »Kleiner Versager«. »Willkommen in Lake Success« ist der vierte Roman des New Yorker Kultautors, er wurde mehrfach zu einem der besten Bücher des Jahres 2018 gekürt und wird von HBO als Serie mit Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle verfilmt.