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2022-06-10 07:24:08, Jamal Tuschick

© Jamal Tuschick

“Hope is Action“ (Amos Oz)

Die dreitausendjährige Geschichte der Jüdinnen und Juden verankert sich geografisch in Israel über einen Zeitraum von elfhundert Jahren. Das erklärt Michael Wolffsohn in seiner Übersicht „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“.

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Obwohl er 1967 im Sechstagekrieg und 1973 im Jom-Kippur-Krieg an Kampfhandlungen beteiligt war, gelang Amos Oz nie eine Schlachtbeschreibung. Er behauptet, die Größten müssen sich Versager:innen nennen lassen, wo es um gewaltige Treffen geht. Niemand habe je ein Vokabular für den Schlachtfeldgestank gehabt. Die Emissionen des Todes ergeben sich in einem toxischen Cocktail aus Kot und Schmauch. Explodierende Munition, leerlaufende Motoren. In einer Angriffsformation auf dem Golan fehlt dem späteren Hauptmann der israelischen Friedensbewegung die musikalische Untermalung wie in Kriegsfilmen.

Oz war ein typischer, zugleich überragender Vertreter der israelischen Aufbaugeneration. Versessen auf alles Neue sowie auf Stärke - in einer Gemeinschaft vom Grauen beflügelter, so leidensfähiger wie lebensfroher Frontiers. Aber natürlich überflügelte Oz seine Kohorte. Er wusste vom Lachen der Steine in der Negev und konnte sogar die Wüste lachen hören.

Geboren 1939 als Sohn des Literaturwissenschaftlers Yehuda Klausner, verweigerte er früh und entschlossen die Gelehrtenexistenz. Er suchte das tätige Dasein in einem Kibbuz.

„Der Kibbuz … ist die vielleicht beste Universität, um die Natur des Menschen zu studieren.“

Oz zog das Land der Stadt vor und wählte seinen Kampfnamen in der Hoffnung, zu Lebzeiten niemals aus der Gnade der Kraft entlassen zu werden. Eine seiner Devisen lautete:

Hoffnung ist Aktion.

Oz war ein extremer Frühaufsteher. Er kultivierte den Spaziergang vor Anbruch des Tages. Jahrzehnte begleitete ihn die Dauerglut des Ketterauchens. Zu schreiben, ohne zu rauchen, schien undenkbar.

Mit sechzehn liest Oz das Neue Testament, um die Renaissance besser zu verstehen. Er betrachtet Bilder, auf denen die Jünger wie Musterarier erscheinen, mit einer Ausnahme. Judas sah „vierhundert Jahre vor Goebbels schon aus wie eine Stürmer-Karikatur“. Oz begreift, dass die jüdische Katastrophe einen Ankerpunkt an der Stelle hat, wo man nicht in der Lage war, „Jesus als jüdischen Reformer“ gleichsam laufen zu lassen. Oz kürzt den Zusammenhang in der Ableitung: Ohne die Vergöttlichung Jesus‘ kein Christentum, ohne Christentum keine Kirche und keine Verfolgung der Juden.

Er beschreibt Judas als wohlhabenden Gesandten der Jerusalemer Priesterschaft, der ursprünglich einen „affektierten Schwindler“ entlarven sollte, und für den Gegenwert eines Sklaven keinen Verrat nötig hatte.

Das gelobte Land war ein Eldorado des Wahnsinns. Es wimmelten Charismatiker aller Schattierungen.

Nachrichten aus den verfestigten Grauzonen

Vater und Tochter fuhren zu Anna’s Bottom, so wie sie es sich in Al Jeromes Wetterauer Wahlheimat ausgemalt hatten. Al und Amos hatten manches gemeinsam erledigt. Dazu bald mehr.

Anna’s Bottom war Schwemmland im Fruchtmantel des ursprünglichen Mississippi-Verlaufs. Es war Baumwollland unter bewaldeten Hügeln. Aristokratische Weiler mit ihren von der Gegenwart erniedrigten Herrenhäusern säumten die Strecke. Die Paläste sahen nach einer Nacht im Casino aus und ein bisschen auch wie ein wahrhaft verwunschenes Heidelberg. Wie etwas, das man für die Erinnerung stehengelassen hatte und dann war es doch vergessen worden in zig Durchgängen von Jetzt.
„Habe ich zu viel versprochen?“ fragte der Vater seine bildschöne und blitzgescheite Tochter. Zwar war Al Texaner, aber es gab Gründe die Wurzeln der Familie im Delta zu suchen. Das schwarze Gold des Erdöls war dem weißen Gold der Baumwolle als Gegenstand der Exploitation im Mündungsdelta gefolgt. Arme Weiße hatten den Siedlungsgrund gentrifiziert. Bis dahin hatte es Herren und Knechte nach Schema F gegeben. Fortan gab es jede Kreuzung, und der Country nahm genauso Fahrt auf wie der Blues. Lale liebte beides, Country und Blues, das Delta war ihr Babylon am Highway 61.

Al steuerte den gemieteten Chevy auf einen mit Muscheln geschotterten Parkplatz vor Albert’s Juke Point. Es roch viehisch nach Schwein und Kloake. Die Gerüche konkurrierten wie fettsteife Schwergewichtlerinnen. B.B. King, Big Mama Thornton, Wilson Pickett und Muddy Waters hatten im Albert’s auf der Bühne gestanden. Die Tische trugen bayrisch blau-weiße Decken. Es gab den Landhauskamin im französischen Stil und die Jagdtrophäen; einen europäischen Mix wie von Walt Disney. Wie wenig Realität die Alte Welt in Amerika besaß. Auf den Tellern dampften Fleischvulkane, sie waren fast so hoch wie die Müllberge hinter dem Haus. Dazu bald mehr.

Unterschlagene Siege

Vier Tage später. Die schießgeile Förstertochter und Ugly-Casting-Agenturchefin Lale Jerome begeht ihr Wetterauer Jagdrevier.

Der Revierboden versiegelt ein antikes Gefechtsfeld voller Nägel und Beschläge. Die Artefakte aus der Zeit der Domitian‘schen Grenzneuordung Germaniens bezeugen unterschlagene Siege der ersten Hess:innen.

Im Präsens von Damals

Um seine Glücklosigkeit zu überspielen, zettelt Domitian im Jahr Dreiundachtzig unserer Zeitrechnung einen Krieg gegen Lale Geromes Ahnen mütterlicherseits an. Domitian erreicht die chattische Sohle, wo hessische Verbände die römische Marine (Legio I Adiutrix) empfangen. Eine der großen Unterschlagungen der akademischen Geschichtsschreibung verweigert den Chattensiegen die Überlieferung. Geschmäht auf die würzigste Weise, verbirgt sich der schwer gekränkte Domitian hinter Stacheldraht und Selbstschussanlagen in der Wetterau.

Weiter in der Gegenwart des ewigen Sommers Neunundneunzig

Auf einem Geländesporn endet der südlichste Zipfel jener Hessischen Senke, die Kräften des Jungpaläozoikums nachgab. Wikipedia sagt dem Sinn nach: Die Wetterau gehört zu einer Schwächezone, die im Tertiär einknickte. Sedimentschichten des Tertiärs sammelten sich mächtig an. Sie bestehen aus schluffigem Staub, der seiner landwirtschaftlichen Nutzung entgegenfiebert. Das Forstschloss der Jeromes ordnet sich postalisch einem Ortsteil von Schlierberg zu. Der übergeordnete Name erinnert Informierte an eine Festung des 1497 erloschenen Grafengeschlechts Cattimelibocus vulgo Katzenelnbogen. In diesem Namen finden wir wieder einen Hinweis auf die Chatten (lat. Catti).

Ein Blick in Lales Kindheit

Lale praktizierte mit Schwertern und chinesischen Hellebarden. Ihr bärbeißiger Förstervater wollte, dass die Tochter jene Scheu und Fremdheit verliert, die Nicht-Initiierte von den Möglichkeiten, sich selbst zu schützen, trennt.

In Als Angebote flossen Ansichten aus Sue Tses „Kunst des Krieges“. Das gehörte so sehr zu dem Texaner, dass Lale erst als Erwachsene ganz begriff, dass ihr Ausbilder nicht Sue Tse ist. Sie lernte auch Reiten, Ringen, Crawlen, Kegeln und Square Dance in der väterlichen Obhut. Polizistinnen, die das Gesetz verachteten, diskutierten auf dem Schlosshof die Lagerfeuerfrage: Wie bombt man mit Semtex ein Zwiebelmuster in die Rabatte?

Die adoleszente Lale fuhr in einem Zug zum Höheren. Sie interessierte sich für Geschichte, Geografie und Petrographie. Sie pauste Landkarten ab und lernte französische Wendungen.