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2022-06-11 08:19:49, Jamal Tuschick

Mit Horst Brasch, der nach England exiliert war, teilte er das Schicksal der „falschen Emigration“. Stefan Heym kam aus dem großen Amerika in die kleine DDR. Da belebte er den sozialistischen Realismus mit Hollywood-Stilmitteln. Er spielte in der Brecht-Liga, geschützt von einem Idealismus, der ihm ständig Gründe gab, auf seiner unergründlichen Linie zu bleiben. Heym war weder Dissident noch SED-Sprachrohr. Was ihm die realsozialistische Ernüchterung nahm, holte er sich aus der Bibel zurück.

Sozialistischer Sandalenriemen

Gaius Marius (158/157 - 86 v. u. Z.) Feldherr, Heeresreformator, Staatsmann, sieben Mal Konsul (gegen das Gesetz), Vater des Vaterlandes, übrigens ein im römischen Herrschaftskontext kaum bedeutender Titel, bietet sich Stefan Heym als Held einer Geschichte mit dem Titel „Zwei Diktatoren“ an. Im Establishment Shot des Sandalenriemens nutzt Marius, deklassiert von einer befleckten Toga, die Freizeit im Kerker, um in Aufwallungen zu schwelgen, die ihm das Memorieren der Niedrigkeit seiner Feinde bescheren. Keinen hasst er mehr als den von ihm bis zur Staatsspitze angehobenen „Zaunkönig“ Lucius Cornelius Sulla. Doch Marius‘ Hass kommt gegen Sullas Neidverachtung nicht an. Auch bei dieser Olympiade siegt Sulla. Er wird die Leiche des Rivalen exhumieren lassen, um Marius die Totenruhe und seinem Grab die Denkmalwürde zu rauben. Sullas Schergen werden die sterblichen Überreste in einen Nebenfluss des Tiber, den Aniene, kippen.

Damnatio memoriae - Verdammung des Andenkens. Affektkontrolle gehörte zu Marius‘ und Sullas Zeiten noch nicht zum bürgerlichen Standardprogramm. Zumal für Marius war Selbstbeherrschung keine Tugend. Mit seiner Zügellosigkeit prahlte er bei Blutbädern und Abschlachtorgien.

Stefan Heym, „Gesammelte Erzählungen“, btb, 619 Seiten, 10,-

Der „Dritte Gründer Roms“ unterschritt mutwillig die patrizischen Distinktionsmarken. Er schmähte das Griechische, indem er es vermied. Er rülpste wohl auch gern nach Landknechtsart. Deshalb dichtete ihm Plutarch eine unbedeutende Herkunft an.

Sieben Mal Konsul, wie gesagt. In Heyms Geschichte steht das siebte Mal noch aus. Marius kommt frei, da man ihn für einen Krieg braucht.

Heym schildert den Tribun als einen Mann, der seine germanischen Feinde mehr liebt als seine römischen Freunde. Honi soit qui mal y pense. Heym hält der heimischen Herrschaft verdeckt den Spiegel vor. Zu allen Zeit verkleideten Schriftsteller:innen Kritik an ihren Verhältnissen mit historischen Kostümen. Nach dem Canceln seines Schauspiels „Die Umsiedlerin“ (die Uraufführung fand auf einer Karlshorster Studierendenbühne statt) erklärte Heiner Müller im kleinen Kreis:

„Mit Realismus geht es nicht.“

Auch Müller wählte den Umweg der Antike und einer mythisch-homöopathischen Gesellschaftsanalyse. Mit Heym teilte er die Grundsätzlichkeit des Einverständnisses mit dem Großen und Ganzen der kleinen DDR. Für beide blieb die DDR das bessere Deutschland über den Zeitraum der Republik hinaus.

Am Ende stellt „der Bauer Marius“ für Sulla keinen Gegner mehr dar. Marius stirbt vermutlich an einer Rippenfellentzündung, kurz nach einem fürchterlichen Massaker, dass er als (nach Rom zurückgekehrter) Verbannter initiiert.

„(Das) Verlangen nach Rache hatte Marius (so stark) ergriffen, dass er, nachdem die meisten seiner anwesenden Gegner erschlagen worden waren und ihm, im Chaos verständlich, zunächst keine weiteren Namen mehr einfielen, den Soldaten befahl, einfach jeden zu töten, dem er beim Herantreten nicht die Hand gab ... das Morden dauerte volle fünf Tage und Nächte.“ Wikipedia

Sulla beerbt Marius. Auf den Schultern des Titanen gelangt er auf den Thron. Einer immer noch gerissener als du. (Frei nach Robert Gernhardt) Darum geht es Heym. Er stellt Marius‘ mörderische Leidenschaften über den Intriganten-Hochmut des historischen Siegers. Er schreckt nicht vor misogynen Vergleichen zurück.

„Ich (Sulla) war wie eine Frau, die einen Mann quält … um sich an seinem Hass zu ergötzen.“

Aus der Ankündigung

Diese Zusammenstellung der Erzählungen von Stefan Heym gibt einen repräsentativen Querschnitt durch ein einzigartiges Schriftstellerleben. Wie kaum ein anderer musste Heym Unrecht, diktatorische Gewaltanmaßung und Verfolgung erleben. Er floh vor den Nazis, vor McCarthy, und auch in der DDR war er den Machthabern immer unbehaglich. Die Erzählungen geben allein durch die Orte, an denen sie entstanden sind, ein Abbild seiner Biographie. Sie zeugen zudem von der Entwicklung des Autors Heym, eines Sich-Vergewisserns der schriftstellerischen Mittel. Und nicht zuletzt ist in seinen Texten der menschliche Blick jenseits ideologischer Gewissheiten Diese Zusammenstellung der Erzählungen von Stefan Heym spiegeln ein einzigartiges Schriftstellerleben. Wie kaum ein anderer musste Heym Unrecht, diktatorische Gewaltanmaßung eigen, den Heym sich allen Widrigkeiten zum Trotz bewahrt hat.

Diese Ausgabe wurde um die bisher unveröffentlichten Erzählungen »Bericht über eine Literaturkonferenz« und »Der Urenkel« erweitert.

Zum Autor

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte über Prag in die USA, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt.1994 eröffnete er als Alterspräsident mit einem engagierten Plädoyer für Toleranz den deutschen Bundestag. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 während einer Vortragsreise in Israel.