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2022-06-13 07:50:47, Jamal Tuschick

Die Zerstörung der Tempel

Das religiöse Zentrum des eisenzeitlichen Königreichs Jehūdāh war der 965 v. u. Z. auf dem höchsten Punkt Jerusalems (auf der Spitze der Stadt) erbaute Salomonische Tempel. Mit seiner Zerstörung 587/586 v. u. Z. ging die Deportation eines Bevölkerungsgroßteils nach Babylon einher. Nach der Rückkehr aus dem Exil um 515 v. u. Z. entstand der Herodianische Tempel zuerst unter der Ägide von Serubbabel. Der von Kyros eingesetzte Statthalter war von königlichem Geblüt und der letzte israelische Staatschef aus dem Haus David. Im Neuen Testament erscheint Serubbabel als Jesu von Nazareths Ahnherr. Auf ihn richteten sich bereits messianische Erwartungen.

Im Jahr 70 u. Z. zerlegten römische Usurpatoren die Glaubensburg. So nahmen sie der Tempelaristokratie den architektonischen Rahmen ihrer Distinktion. Das leitete einen Bedeutungsschwund der alten Elite ein, mit gravierenden Folgen für die soziale und politische Ordnung. „Eine rabbinisch-synagogale ‚Bourgeoisie‘“ trat auf den Plan und etablierte sich in Konkurrenz zu den traditionellen Exegeten.

Michael Wolffsohn registriert an dieser historischen, aber eben auch topografischen Stelle das Ende einer Standesgesellschaft.

„Leistung und nicht mehr durch Geburt bestimmte Vorrechte entscheiden (fortan) über Auf- und Abstieg des Einzelnen.“

Der Autor zieht den Prozess in die Klammer einer bürgerlichen Gesellschaft beinah zweitausend Jahre vor der Französischen Revolution.

Das Buch als prekäre Heimstatt

Tragbare Heimat

Der „jüdische Zusammenhalt“ braucht(e) einen sakralen Raum. Die Bedrohungen, denen sich Juden als religiös selbstbestimmte Minderheit in der polytheistisch-römischen Herrschaftssphäre ausgesetzt sahen, legten die Entwicklung mobiler Formate (für eine nomadische Praxis als Second Best Solution) nah. Wolffsohn beschreibt die Notwendigkeit einer „‚portativen‘, (sprich) tragbaren Heimat“.

„Das portative Vaterland“ (Heinrich Heine) koinzidierte mit Formeln der inneren Einkehr im Zug einer erzwungenen Abkehr von der Monumentalität des sakralen Mauerwerks. Nach dem Verlust der Tempelgravitation trat, so Wolffsohn, das Wort an die Stelle der Tat. Man substituierte aufwändige Gottesdienstleistungen. Der Talmud lieferte als Erläuterungs- und Ermutigungsgrundlage eine Voraussetzung für den Export.

Michael Wolffsohn, „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“, Herder Verlag, 364 Seiten, 28,-

„Die Dopplung von (kleinen) Synagogen und dem religiösen Wort verwandelte die einst … (lokal gebundene) … auf judäische ‚Vaterland‘ bezogene … Religion in einen global ‚anwendbare‘ Religion.“

Auf Dauer gestellte Erinnerungen

In seinem Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki ordnete Rainer Metzger 2013 das „portative Vaterland“ dem gerade Verstorbenen als Wortschöpfung zu, und deutete es an allen historisch-triftigen Deutungen vorbei.

„Sein Patriotismus nämlich, und das ist einer seiner schönsten Begriffe, galt allein dem ‚portativen Vaterland‘, das man in Gestalt der deutschen Literatur bei sich tragen konnte. Quelle

An dieser bodenlosen Stelle sollten wir bei Gelegenheit ausführlich werden.

Um bei Wolffsohn zu bleiben: Es bietet sich eine doppelte Ansteuerung des Paradigmenwechsels an.

„Mit der Schrift aber - so der französische, algerische und jüdische Philosoph Jacques Derrida - veränderte sich das Wesen der menschlichen Kultur grundlegend. Erinnerung wurde jetzt auf Dauer gestellt.“ Micha Brumlik, Quelle

Das Buch als prekäre Heimstatt

„Sogar G-tt lebt seitdem in der Halacha, in der Schrift, ‚in jener prekären Heimstatt‘ wie Emmanuel Levinas sie nannte.“ Zitiert nach Liliana Ruth Feierstein.

Die Kulturwissenschaftlerin greift das Wort vom „Portativen Vaterland“ hier auf. Sie ergänzt es mit der Unterzeile „Das Buch als Territorium“ und versieht den Zusatz mit einem Hinweis auf Walter Benjamin, der sich, nach einer jüdischen Gedächtnistradition, mit der Absicht trug, lauter Zitate zu einem Buch zusammenzutragen. Dazu Bernd Witte: „Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka, Benjamin“.

Erinnerungspraxis

Feierstein nennt die Tempelzerstörung im Jahr 70 der gemeinsamen Zeitrechnung „eine offene Wunde im kulturellen Gedächtnis des Judentums“. Es gab/gibt ein Gebot, sich zu erinnern. Die einschlägige Praxis ließ „ein neues Konzept des Judentums (entstehen). Rabbi Jochanan ben Sakkai bat den römischen Kaiser, in Javne* eine Schule für das Studium der Thora eröffnen zu dürfen, die niemals geschlossen werden sollte, nicht einmal für den Wiederaufbau des Tempels. Sigmund Freud erkannte die Bedeutung dieser Geste: Seitdem, so schrieb er einmal, konnte das unsichtbare Gebäude erbaut werden. Das Buch anstelle eines Territoriums: Von diesem Moment an begann das jüdische Volk in der Schrift zu leben.“

*Erinnern Sie sich? In Javne waren wir unlängst.

Im Jahr der Glücksfunde von Javne ließen sich Aram und Rivka scheiden. Ja, Javne, Sie Einfaltspinsel. Denken Sie an die Synode von Javne gleich nach dem Tempelschleif. In Javne brachen Schriftgelehrte so radikal wie epochal mit dem Judenchristentum, obwohl Judenchristen die Mehrheitsgesellschaft bildeten.

In der Perspektive vergangenheitsvergessener Armleuchterinnen liegt Javne zwanzig Kilometer südlich von Tel Aviv. 2002 streichelten da Archäologinnen unter der Leitung von Raz Kletter Kultsachen aus dem 3. Jahrtausend (nach der richtigen Zeitrechnung) aus der Erde. Seither gehen Aram und Rivka getrennte Wege. Dabei haben sie einen gemeinsamen Herkunftstext. Ihre Stimmen gehören der arabisch-jüdischen Mizrahi-Movement. Sie sind Stars der orientalischen Diaspora syrisch-iranisch-jüdischer Provenienz. Lange konnten sie sich ein kulturelles Unbehagen nicht erklären, das ihnen eine aschkenasisch ausdifferenzierte Mehrheitsgesellschaft eingab. Ihre persönlichen Spannungen und Spaltungen so wie die Spannungen und Spaltungen ihrer Minderheit fanden sie bei Weitem nicht ausreichend repräsentiert.

Aus der Ankündigung

Fakten statt Ideologien

Michael Wolffsohn, der Meister der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung, erzählt die Historie der Juden von den Anfängen bis heute. Präzise, vielschichtig und spannend berichtet er von einem Volk und einer Religion, die Weltgeschichte und Weltkultur prägen. Er beleuchtet die Theologie ebenso wie die Geografie jüdischer Geschichte. Er stellt zentrale Persönlichkeiten vor und schreibt über jüdische Kultur und Wirtschaft sowie jüdisches Sozialleben – auch in der islamischen Welt. So entsteht eine Universalgeschichte des Judentums aus der Feder eines großen Kenners und Erzählers, die Schulweisheiten entkräftet und antisemitische Ideologien durch Fakten entlarvt.

Michael Wolffsohns Ziel: unterhaltsam und fundiert neue Einsichten und Zusammenhänge vermitteln, Informationen statt Moralpredigten transportieren und alte Vorurteile unaufgeregt widerlegen. Eine allgemeinverständliche Einführung, die Lust auf mehr Wissen über Juden und Judentum macht.

Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.