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2022-07-19 08:53:26, Jamal

#Lob

Lieber Jamal Tuschick,

haben Sie herzlichen Dank für Ihre Besprechungen von Dirk von Petersdorffs „Gewittergäste“. Wir freuen uns sehr darüber!

Herzliche Grüße, Tanja Warter

Tanja Warter │ Presse- und Lizenzabteilung │ Verlag C.H.Beck │ Literatur – Sachbuch – Wissenschaft

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Das Lob bezieht sich auf zwei Besprechungen. Siehe hier und hier

Nachnotieren

„Ob man es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.“  

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„Späte Rosen. Frühe Fröste.“

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„Was rachitische Rosen und ein brüchiges Teerdach erzählen.“

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„Den Möbeln eine Stimme geben, damit sie endlich erzählen können.“

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„Wenig hat sich geändert, aber nichts (ist) mehr, wie es war.“

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„Zitate warten daß die Erinnerung sie hervorholt.“

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Sehen Sie auch hier.

Die Corvette vor dem Bungalow im Sechzigerjahre-Stil sah ich im Berliner Westend. Dann fuhr auch noch die S-Bahn einen Saum ins Bild. Eine Ansicht des alten Westens wie gemalt. © Jamal Tuschick  

Besuch mit Bienenstich

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Beinah jeder Satz von Jürgen Becker taugt als Motto. Das Herausragende bildet eine Linie ohne Gefälle. Und doch geht es immer nur um den philosophischen Blattschuss am heimischen Herd. Um die Sottise, Quintessenz und Binse aus Kombinationen von Discount-Informationen mit Genie im Qualm einer anachronistischen Lebensweise.

Becker gründete eine „Schule des schnellen Sehens“. Er sichtet „das Inventar der Umgebung“. Er beobachtet die sich anschleichende Gleichzeitigkeit der Dinge. Er beweist poetische Schlagfertigkeit.

Er neigt zu direkten Äußerungen. Sein Ich heißt Jürgen Becker.

Jürgen Becker, „Die Rückkehr der Gewohnheiten“, Journalgedichte, Suhrkamp, 20,-

Rührei mit Tomaten zum Frühstück evoziert eine Café-Szene in Toronto. Ein ablandiger Moment. Abgebrochene, mehrsprachige Verständigungen, deren Spurenverlauf im Jetzt der Niederschrift den Chronisten zum Text führt. Was klingt an? Was hallt nach?

„Vergessen den Wortlaut der Gespräche.“

Zwischen den Polen Persilschein und Rutschgefahr liegt eine Welt. Dem verlorenen Gedächtnis eilt die Imagination zur Hilfe. Die Gehhilfe der Phantasie bricht bald ab. „Ein Ensemble der Widersprüche, Täuschungen und Möglichkeiten“ wiegt endlich auch nicht schwerer als Krümel auf dem Tisch. Man fegt sie zusammen und nimmt sie an der Kante auf. Ob man sie isst oder in die Spüle streut … die Konturen der Differenz sind schon lange unscharf.

„Besuch … bringt Bienenstich mit.“

„Die hohlweghaften Routen nachwacher Tiere.“

Becker begeht die Auen seines Lebens, erinnert den Begabtenaufenthalt 1965/66 in der Villa Massimo. Damals malte Peter Berndt „die ersten Bilder, in denen man Tankstellen im Rückspiegel des VW-Käfers sah“.

Vergessenes Erleben, aber man kann sicher sein, 

daß es mitgewirkt hat, später, wenn wieder einmal

eine Situation entstanden war, bei der man nicht wußte,

ob nach der Dämmerung die Nacht kommt oder der Morgen.“

„Der Fähnleinführer der auf einmal im Blauhemd übern Anger stolzierte.“

Das wird variiert: Nur die Pfanne bleibt an ihrem Wandnagel hängen, über wechselnden Symbolen vulgo „neben Hammer und Sichel, zuvor ein Ährenkranz mit Hakenkreuz“. Und in den Vorgärten marodiert Schwarzwild.

„Die halbe Kindheit fällt (Becker auf ein Radiowort hin) … ein, mit Sondermeldungen, Wunschkonzert, Feindsender.“ Gegen das Grauen kann er sich nicht mehr richtig abdichten. Er denkt an Adam Zagajewski.  

Jürgen Becker und Adam Zagajewski und dazwischen Michael Krüger im Februar 2013 in der Berliner Akademie der Künste © Jamal Tuschick

Texttopografie

„Im Inneren nagen die Zweifel, aber der Sog der Drehtür läßt kein Innehalten zu.“

Meine Annäherung verläuft nicht chronologisch. Ich halte mich nicht an die Texttopografie. Stattdessen kehre ich immer wieder zum Ausgangspunkt zurück; als hätte ich etwas zu meinem Nachteil überflogen.

Aus Versehen kauft Becker an der Tankstelle next door eine Zeitung von gestern. Kein Mensch assoziiert mit dem Fehlkauf den Spruch:

Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern.

Der funkelnde Aktualitätsanspruch, das Versprechen der Druckerschwärze, der Geruch von Newspaper: kalter Kaffee und Schnee von gestern. Die Zeitung von heute rotiert veraltet aus der Presse.

Becker springt vom Deutschlandfunk, der keine Verkehrsmeldungen mehr bringt, zur „Maginot-Linie … im Februar 40“ und, fünf Seiten später, zu „Napoleon am Stadtrand unterwegs nach Rußland“. Er schreibt am Küchentisch, ohne zu googlen. Seit vierzig Jahren produziert Becker im Dunstkreis des Herdes, mit einer Orthografie nach bestem Wissen; das ph in der Biographie.

Niemand bestreitet dem Überlebenden vergangener Generationen das Recht, nicht zu wissen, wovon die Rede in den sozialen Medien ist. Becker memoriert einen kryptischen Moment aus der Zeit vor der Bundesliga/ im „Schweigen der Spätheimkehrer“, während sich zwei Leute vor dem Fenster auf der Straße unterhalten.

„Mehr sollen es nicht sein“, nach einer pandemischen Anweisung.

Der archivarische Charakter von Beckers alltagsepischer Poesie; der Dichter bewegt sich auf den unterspülten Rändern seiner verlorenen Zeit. 

In meiner Kindheit repräsentierten alte Leute das 19. Jahrhundert. Meine Urgroßmutter Dorothea war in Ostpreußen Kind in einem Rahmen zwischen Leibeigenschaft und Analphabetentum gewesen. Der nun greise Becker wichtelte achtzig Jahre später im II. Weltkrieg. Die einschlägigen Erfahrungen verlängern sich bis in die „Manöverheide … Holzkanzeln, Lagerrelikte bis zum Bahndamm hinter den Kiefern“ … zu den Gasmasken, „im Regal unter der Hausapotheke“ … dem Schnippschnapp der Bäckersfrau, wenn sie die Brotmarken abschnitt. Dann wurde gehamstert. Die „eisige Ostfront“ zieht sich zeitlich hin. Man muss nur lange genug am Leben bleiben, um die Blutbäder-Namen kontextgerecht wiederauftauchen zu sehen. Ich nenne nur die Schlachten um Kiew 1941/43.

Ich befinde mich im Zitierrausch.

„Wenn man nicht aufhören kann zu zitieren, geht das Zitierte ins eigene Repertoire ein.“

Becker formuliert so traumhaft treffend, dass ich mich davor hüten muss, wild zu assoziieren. Ich stelle mir Becker in einem Rahmen zwischen Heimat- und Autorenfilm vor und nehme, wie nach einem Rezept, dazu die Wellershoff-Heißenbüttel’sche Performance der Sechzigerjahre. Höllerer erscheint als Aufsicht. Nach Becker als früh erkannter und gepflegter Massimo-Stipendiat kamen jede Menge wütender Schriftsteller, Brinkmann, Born, Chotjewitz, die vor ihm starben. Trotzdem sie zum Kleingedruckten der Bundesrepublik gehören, sind sie wie in Großbuchstaben tot. Sie sind die alten weißen Männer, wie sie im Buche stehen. Brinkmann, der gern aus der Haut fuhr, schrie einst dem Betrieb ins wachsweiche Gesicht:

„Ich hasse alte Dichter.“

Das Gefühl kennt kein Verfallsdatum.

Aus der Ankündigung

In diesem Buch, entstanden 2020/21, versammeln sich Gedichte, Notate, Satzreihen, Prosastücke zu einem Journal, in dem das tägliche Geschehen, die Erfahrung von Krise, das Fortwirken der Vergangenheit Seite für Seite mitgeschrieben haben. »Augenblicke entscheiden, wo es langgeht, wohin sich das Geschehen bewegt … Sätze aus einem Früher, das nicht aufgehört hat, im Hier und Heute mitzusprechen.«
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das »hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten«, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. »Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.«
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.

Zum Autor

Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren und verbrachte dort seine Kindheit … Große Aufmerksamkeit fand Jürgen Becker mit seinem ersten Prosabuch Felder (1964); die beiden folgenden Bücher Ränder (1968) und Umgebungen (1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur … In den Siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich Jürgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtbücher - darunter Das Ende der Landschaftsmalerei (1974), Odenthals Küste (1986), Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft (1988) - plazierte die Kritik in die obersten Ränge der zeitgenössischen Poesie. Gleichzeitig schrieb Jürgen Becker weiterhin Hörspiele und die beiden Prosabücher Erzählen bis Ostende (1980) und Die Türe zum Meer (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: Fenster und Stimmen (1982), Frauen mit dem Rücken zum Betrachter (1989), Korrespondenzen mit Landschaft (1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, Geräumtes Gelände (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker … Jürgen Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. erhielt er den Preis der Gruppe 47, den Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste, das Stipendium der Villa Massimo, den Bremer Literaturpreis, den Heinrich-Böll-Preis.
Jürgen Becker ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, sowie des PEN-Clubs. 2001 erhält er für seinen Roman Aus der Geschichte der Trennungen den Uwe-Johnson-Preis, der von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft vergeben wird. 2006 wird er für sein Prosa-Werk, insbesondere den Journalroman Schnee in den Ardennen, mit dem Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet, 2009 erhält er den Schiller-Ring. 2014 wird Jürgen Becker als »maßgebliche Stimme der zeitgenössischen Poesie« mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.