Mehr zu „Die Wunder des Lebens“. Siehe auch hier und hier.
Antwerpen im August 1566 - Auf der verzweifelten Suche nach einem Modell für ein Madonnengemälde in Konkurrenz zu einem imponierenden Gegenstück irrt ein Maler durch Antwerpen. Eines Tages bemerkt er vor einer Schenke eine kaum adoleszente Schönheit. Vom Anblick der Jugendlichen berauscht, erkundet er sich beim Wirt, der es als Vormund nicht nötig fand, das - einem antisemitischen Pogrom entrissene - Mädchen mit dem katholischen Glauben als der spanisch-niederländischen Staatsreligion vertraut zu machen.
Für den Maler ergibt sich aus der Nachlässigkeit ein Dilemma, das einen gedanklichen Kurzschluss bezeugt. Der alte Simpel fragt sich, ob ihm die Jüdin Modell für eine Madonna stehen kann. Was aber war denn die Muttergottes? Etwa keine Jüdin? Mon Dieu, möchte man ausrufen. Lass Hirn regnen.
Der Maler berührt das Objekt seiner künstlerischen Begierde bei der ersten Begegnung. Dem alten weißen Mann fehlt die Hemmung, die Zurückhaltung gebietet. Auch Esther erkennt in ihm sofort das Gute. So würde das heute kein Mensch mehr erzählen.
Ich will mich mit einer akuten Variante nicht aufhalten, zu spannend finde ich die antiken Verkehrsformen. Ein Kind in einem Saufloch voller Matrosen und Tagediebe. Wie eine Erscheinung irrlichtet es durch den Qualm. Es fasst gleich Vertrauen zu dem Maler, „überrascht durch diesen tiefen Glockenton der Milde und geklärten Liebe, der (Esther) zum ersten Mal aus dem verräucherten Dunkel der Schenke entgegenschlug“.
Stefan Zweig, „Jüdische Erzählungen und Legenden“, herausgegeben von Stefan Litt, Jüdischer Verlag/Suhrkamp, 26,-
Esther erkennt in dem Maler einen Bruder im Geiste. Die beiden bilden eine Gemeinschaft der Versprengten.
„Der Maler beugte sich zärtlich zu ihr nieder, ohne zu sprechen. Vor dem klaren Blick des alten Mannes glühte jäh die Tragödie der Einsamkeit und stolzen Fremdheit auf, die so früh schon in diesem Kinde kämpfte.“
Zweig unterstellt Esther höchst klischeehaft, dass sich ein jüdisches Erbe - ohne Ausbildung und Anleitung - in ihr ausspricht. Der Autor schildert seine Heldin als Trägerin genuin jüdischer Informationen; abrufbar in einem genetischen Basislager. Gleichzeitig lädt er die Konstellation erotisch. Wäre er ein zeitgenössischer Autor, müsste er sich erklären lassen, dass das nicht geht:
„Eine leise und schon erzitternde Wand stand noch zwischen ihnen: die der Fremdheit des Volkes und der Religionen, die Zucht des Blutes, sich immer fremd sehen zu müssen und feindlich, ein Misstrauen zu hegen, das erst ein Augenblick großer Liebe überwindet.“
Der Maler sucht in Esthers „Blick die tiefe Heilandssehnsucht … die die Gottesmutter selbst getragen haben (muss)“. Er will „dem Kinde … das süße Vertrauen der Erfüllung“ eingeben. Esther möge ablassen von ihrer Schüchternheit und Demut. „Die mystische Flamme der Verkündigung“ soll sie illuminieren.
Der Maler wähnt Esther infolge eines Wunders zum Christentum bekehrt. Er spricht das aus, um ihre Abwehr zu erregen. Eben noch kauerte sie zu seinen Füßen, erhoben und beseelt, wie es dem Alten schien. Nun trotzt sie.
Er hat da was in den falschen Hals gekriegt. Eine Erinnerung an die Eltern hatte das Mädchen so empfänglich wirken lassen.
Historische Folie
Esther ist die ideale Muttergottesdarstellerin. Maria von Nazareth war Jüdin. Esther legt Wert darauf, Jüdin zu bleiben. Daraus macht sie keinen Hehl. Der Maler setzt ihr einen Säugling auf den Schoss. Ein erstes Befremden löst sich in Leidenschaft auf. Es geschieht noch einiges im Dunstkreis der Straßenempörungen eines protestantischen Pöpels. Zweig wiederholt das Motiv des gewaltsamen Auflaufs, wir erinnern uns an jenen Pogrom, den Esther überlebte, auf der historischen Folie der Reformationskämpfe in einem Herrschaftsraum der Habsburger.
„1581 kam Antwerpen (damals die reichste Handelsstadt Europas) unter protestantische Herrschaft.“ Wikipedia
Der Autor datiert seine Geschichte indirekt. Esther flieht vor dem evangelischen Mob in eine Kirche, die nicht namentlich benannt wird. Trotzdem gibt es an dieser Stelle keinen Deutungsspielraum. Zweig beschreibt den calvinistischen Bildersturm vom 20. August 1566 in der Cathédrale Notre-Dame d'Anvers aka Onze-Lieve-Vrouwekathedraal (Liebfrauenkathedrale), einem Höhepunkt Brabanter Gotik. „1559 wurde das Bistum Antwerpen gegründet und die Kirche zur Kathedrale erhoben.“ Quelle
Dazu morgen mehr.
Aus der Ankündigung
Stefan Zweig ist einer der erfolgreichsten Autoren deutscher Sprache. Berühmt wurde er durch seine romanhaften Biographien, aber sein Werk zeichnet sich besonders durch eine Vielzahl an Novellen aus, die bekannteste ist wohl die Schachnovelle, sein letztes Werk, die posthum 1942 in Brasilien erschien.
Auch wenn Zweigs jüdische Herkunft in seinen Werken keine prominente Rolle spielt und er den jüdischen Kontext in seinen Werken nie besonders herausgestellt hat, darf dessen Bedeutung für Zweigs Schaffen nicht unterschätzt werden. In den sechs hier versammelten Novellen und Legenden »Im Schnee«, »Die Wunder des Lebens«, »Untergang eines Herzens«, »Rahel rechtet mit Gott«, »Buchmendel« und »Der begrabene Leuchter« gelingt es Zweig, die jüdische Thematik immer wieder subtil aufscheinen zu lassen.
Die Texte stammen aus den Jahren 1901 bis 1936 und sind teils als eigenständige Publikationen, teils in Sammelbänden erschienen. In dieser Form werden sie hier erstmals gemeinsam veröffentlicht.
Zum Autor
Stefan Zweig, wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und starb am 23. Februar 1942 in Petrópolis bei Rio de Janeiro. Er studierte Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Wien, reiste viel in Europa, nach Indien, Nordafrika, Nord- und Mittelamerika. 1938 emigrierte Zweig nach England, ging 1940/41 nach New York, dann nach Brasilien, wo er sich 1942 das Lebennahm.
»Er war in seiner Zeit weltweit einer der berühmtesten und populärsten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine unter dem Einfluß Sigmund Freuds entstandenen Novellen zeichnen sich durch geschickte Milieuschilderungen und einfühlsame psychologische Porträts aus, in denen die dezente, doch unmißverständliche Darstellung sexueller Motive auffällt. Seine romanhaften Biographien akzentuieren die menschlichen Schwächen der großen historischen Persönlichkeiten.« Marcel Reich-Ranicki