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2018-11-22 08:29:27, Jamal Tuschick

Der osmanisch-bosnische Swing - Von Jamal Tuschick

Einer der Hanauer Vorträge

Von links: Karosh Taha, Jamal Tuschick, Arta Ramadani im Hanauer Kulturforum

Es ist immer dasselbe traurige Lied von einer Hochzeit mit aufgeschmissenem Bräutigam. Die Braut wird ihm entrissen, sie rennt um ihr Leben, sie brennt durch mit einem in heißem Einvernehmen. In einer beispiellos einsilbigen Kreisstadt gehen die Verbrecher in einem Hotel an Land. Sie haben sich so viel geschworen und - das gehört unbedingt dazu - ihre Aussichten sind miserabel. Die düpierte Familie verwandelt sich in ein Rollkommando und nimmt die Verfolgung auf. Ihre BMWs haben Schlammkrusten. Das illegale Paar will schnell sein Fleisch zusammentun. Es hat seinen Text aus Melodramen, es kennt nichts anderes. Es geht einmal wieder um den ganz speziellen osmanisch-bosnischen Seelenswing und freilich um den Arsch der Braut. Die Kugel trifft und tritt aus und macht der schäbigen Wand ein malerisches Abstrakt. Die Verstoßene bringt sich in einem Frankfurter Frauenhaus in Sicherheit und haust in einer Bude mit russischen Heroinmädchen. Das Frauenhaus ist als Altenheim getarnt, so etwas gibt es wirklich. Mit den üblichen Krallennägeln sehen wir die Verfolgte in einer Arabesk´ Bar. Sie singt da von der erschossenen Liebe. Eine alleinerziehende Mutter - die Rolle wurde in weniger als drei Minuten vergeben. Kadira erzählt solche Geschichten. Ihre Eltern sind bosnische Kriegsflüchtlinge, Kadira nennt mich ihren Mann. Sie suggeriert jedem Kellner, sie sei meine Frau. Sie träumt von geordneten Verhältnissen wie andere von einem Urlaub in der Karibik. Ich kann sie nicht heiraten. Ich ertrage es nicht, noch einmal jemanden für so mächtig halten zu müssen, dass er den Kasten kaputtmachen kann.

Der auf einem osthessischen Knick in einer Enge zwischen Thüringen und Franken ansässige Unternehmer Amiran Vanili beschäftigt fast ausschließlich Migranten in seiner Fabrik für Schuhbodenteile –bekannt als „der Kasten“. Er nennt alle Flüchtlinge, „denn“, so Amiran, „kein Mensch verlässt freiwillig seine Heimat“. Amirans Vorfahren flohen von einem Ufer zum anderen aus Georgien in die Türkei und bildeten da die nicht anerkannte Minderheit der Lasen. Das sind in der Mehrzahl sunnitische Muslime, vereinzelt auch orthodoxe Christen. Die religiösen Trennlinien verlaufen umgekehrt proportional zu den Demarkationen zwischen den christlichen und den muslimischen Armeniern, die sich in denselben Gebieten ausdifferenziert haben. Amirans Vorfahren stammten bis zur Generation seiner Eltern ausnahmslos aus einer Provinz. Obwohl sie mit keiner markanten Ethnie auf dem Staatsgebiet der Türkei verwandt sind, nimmt man die Lasen als Türken wahr.

Amiran ist landauf landab der Türke, der es geschafft hat.

Ja, ich bin der Türke, der es geschafft hat. Aber meine Ex-Frau spielt auf dem Klavier meiner Verpflichtungen das Lied vom Tod der Fabrik. Ich habe Marion das Blaue vom Himmel versprochen, sie aus ihren Verhältnissen gelockt, zur Erfüllung meiner Sehnsüchte herangezogen, drei Kinder mit ihr in die Welt gesetzt und sie schließlich doch ersetzbar gefunden.

Nach der Scheidung wurden mir die Instrumente gezeigt. Ein Notar brachte die Eisen zum Glühen. Der Experte verkündete, dass fortan von jedem Euro aus dem Kasten fünfzig Cent Marion gehörten.

Ich bleibe beim Korkausschuss stehen. Auf dem Gaumen der Erinnerung riecht der Abfall nach ofenfrischen Brötchen und Kindheit - und im Gedächtnis riecht er nach Kampf und Auferstehung. Ich bedenke so wie man betet, wie die Familie nachts Aluminiumformen goß. So versicherten wir uns gegen eine instabile Stromversorgung, die tagsüber drohte. Die Trafostation am Ende des Asphaltstreifens, der zur Fabrik führt und da endet, war ein zentraler Schwachpunkt. Stets bot sie sich dazu an, der nächsten Katastrophe den Weg zu ebnen. Stromausfall war die Höchststrafe. Die Station stand in einer Fertiggarage.

Ich sah in dem bescheidenen Hochofen eine Bußstelle sich selbst Geißelnder. Das war ein Ort, um im Schweiß des Angesichts mit seinem Schöpfer zu hadern. Ich erlebte in der Gießerei Andachten des Hasses und der Selbstverleugnung.

Das fast wahnsinnige Sprechen des Vaters, wenn wir unter einem solchen Termindruck standen, dass mir zumute war, als platzten gleich meine Lungen.

Ich greife ausladend wie mit einer Schaufel in die Reste und führe mir eine Handvoll unter die Nase und vor Augen, in einem rituellen Vorgang. Der Ausschuss entsteht als Verbindung von Kork und knusprigem Kunststoff, man erkennt die ausgeschnittenen Einlageformen. Die Angüsse ragen auf.

Ich versäume die Probe an keinem Tag, der Griff in den Kork ist eine Geste der sich verneigenden Demut vor den Geistern der Vergangenheit, die im Maschinenraum eingeschlossen sind – gekettet an die Produktion von Schuhbodenteilen und vollwaschbaren Einlagen. Das sind Nachkommen der Holzabsätze und Spannhülsen, emporgestiegen aus den ästhetischen Niederungen der Gebrauchsgegenstände hin zum optisch einladenden Design.

Marion hasste den Kasten. Sie hatte mich vor der Hochzeit gebeten, nicht im Unternehmerhaushalt meiner Eltern durch den Fleischwolf eines Lebens ohne Feierabend gedreht zu werden. Ich nötigte sie und sie rächte sich.

Wie viel glücklicher hätten wir sein können, wenn ich nach der Arbeit sonst wohin nach Hause gekommen wäre. Stattdessen installierte ich die Konstellation des Unglücks meiner Eltern. Wir setzten unsere Kinder in die Welt und spielten die Kugeln unserer Enttäuschungen über Bande.

Gemeinsam wurden wir da schwerfällig und nachtragend, wo wir einmal leichten Herzens gewesen waren.

Ich zerriss mich, sobald es um die Fabrik und die Familie ging. Ich dachte, irgendwer muss den Laden zusammenhalten, und wer, wenn nicht ich. Mein Bruder Levan war aus dem vollen Lauf der Jugend mit Anfang Zwanzig schlagartig zu einem alten kranken Mann geworden. Seine Fußballfreunde liefen in Trikots mit unserem Firmenlogo auf. Mainschuh hatte etwas Besseres verdient, als von dieser Gurkentruppe repräsentiert zu werden.

Levans Herz hängt an der Kreisklasse. Er ist der Typ, der sich immer irgendwo abstützt, weil ihm das eigene Gewicht zu viel ist. Er sucht die Gesellschaft von Leuten, die ihm nichts abverlangen und ihm nach dem Mund reden, weil er am Ende mit dem größeren Auto vom Parkplatz fährt. Weil er ein Vanili ist. Vielleicht sogar auch deshalb, weil er mal ein guter Spieler war. Er konnte das alles, Billard, Karten, an Autos rumschrauben.

Levan hat seine Ausbildung im Kasten gemacht und es genossen, der Sohn vom Chef zu sein. Jetzt ist er der Bruder vom Chef und genießt nichts mehr.

Ich sehe Lana rauchend vor einem Bau, der dem Schuppen gewichen ist, in dem die ersten Gastarbeiter und so auch mein Großvater, der alte Lase, in einem mit Sperrholzwänden und Paravents parzellierten Lager bis zum Nachzug ihrer Frauen und Kinder hausten. Die Jahrzehnte überbelegte Notunterkunft war ursprünglich ein Vorraum der Halle gewesen, in der Anton Schlosser 1952 mit den Tagelöhnern und Taugenichtsen der Gegend angefangen hatte, Holzabsätze zu produzieren.

An den örtlichen Gepflogenheiten vorbei, gab Schlosser den Ärmsten und Ärgsten eine Perspektive. Ich erinnere lemurenhafte Erscheinungen. Das waren Männer mit Wolfrachen und Hasenscharten. Zoomorphismen grassierten zum Zweck der Herabsetzung in einem Glaubenskrieg. Die Gezeichneten waren evangelisch in der katholischsten Ecke Hessens. Sie hatten eine abenteuerliche Migrationsgeschichte, mit Höhepunkten auf dem Balkan zu Zeiten der Habsburger Doppelmonarchie, also auch da als eine religiöse Minderheit, die während des I. Weltkriegs ins Wilhelminische Reich zurückgeschlagen worden war.

Heute liegt der Kasten in einem Gewerbegebiet, aber als Großvater aus einem Dorf am Schwarzen Meer hierherkam, stand die Fabrik wie ein Aussiedlerhof auf einer struppigen Wiese, die an Äcker grenzte.

Auf Türkisch heißt das Schwarze Meer Karadeniz. Schlosser arbeitete den Pirmasenser Magnaten Neuffer, Rheinberger, Semler und Kaiser zu. Holz war ein preiswerter Rohstoff. Aus den Wäldern geschlagene Eichen wurden geflößt. Flößer gingen weit und breit der gefährlichsten Beschäftigung nach. Opfer von Berufsunfällen fielen im Heer der Kriegsversehrten nicht auf.

Schlosser war eine Ausnahmeerscheinung – Heiler, Seher, Seelenberserker – ein Landsknecht Gottes. Seine Vorfahren waren im 19. Jahrhundert von den Höhenzügen des Pfälzerwaldes nach Pirmasens herabgestiegen und in der ehemaligen Garnisonsstadt von der Industrialisierung erfasst worden. Töchter und Söhne folgten Müttern und Vätern in Fabriken, deren Portale an die Paläste amerikanischer Plantagenbarone erinnerten. Hinter der Fassadenpracht herrschte ein stures Regiment. Die Fabriken gehörten Nachkommen von Soldaten. Ein knapp bemessener Sold hatte die Gründergeneration zum Nebenerwerb als Billigsauter, Flickschuster, Holzschuh- und Altmacher gezwungen. Der Volksmund nannte sie Schlabbeflicker. Ihre aus Uniformfetzen gefertigten Schlabbe waren von herumziehenden Händlerinnen unter die Leute gebracht worden.

Schlosser hat dann nicht nur an den Türken Vasili übergeben, er war auch der erste, der eine Türkin im Maschinenraum beschäftigte. Kemal Atatürk hatte die Türkei Europa entgegen gedreht, Fatma, Lanas Mutter, war eine Ziehtochter seiner Ideen. Sie war via Istanbul nach Deutschland gekommen. Von den anderen anatolischen Dörflerinnen unterschied sie, in einer türkischen Metropole gelebt zu haben und heraufgebeten worden zu sein: zu einem Vermutungswissen aus liegengebliebenen Magazinen. Sie war nicht aus ihrem Dorf nach Deutschland gekommen, das ist wichtig. Die Verachtung für ihr Geschlecht hatte sich mit der türkischen Verachtung für ihre kurdische Herkunft in Istanbul verbrüdert. Fatma hatte noch nicht einmal eine Vermutung von sich, alles, was sie annahm, zersetzte sich in einem Säurebad widersprüchlicher Informationen. Sie klammerte sich an das Türkischsein, mit dem Gefühl, sogar ihren Atem kaufen zu müssen mit irgendeiner Kniefälligkeit. Es gab sie nur als Magd zu einem geringen Preis. In Istanbul war sie zum ersten Mal an Geld mit so etwas Geringwertigem (nach den Gesetzen der Bergwelt) wie Arbeit gekommen.

Die Geringwertigkeit der Arbeit in den Ursprungsumgebungen der Gastarbeiter*innen zieht sich durch die Geschichte wie ein roter Faden. In Deutschland gab es Geld genug, um sich selbst erhalten zu können, für Dienste, die über Generationen in verschleierten und offenen Leibeigenschaftsverhältnissen deutlich weniger eingebracht hatten. Das war auch die Grunderfahrung meines Großvaters, der 1974, als nach dem Eurovisionswettbewerbserfolg von Abba in Brighton die Plateauabsätze ihren Siegeszug rund um den Globus antraten und Bleistiftabsätze über Nacht zu Ladenhütern geworden waren, eine Fabrik übernahm, die in dieser Phase vor allem Spannhülsen zur Verstärkung von Bleistiftabsätzen produzierte.

Mein Großvater kam aus dem Nichts absoluter Wohlfahrtsferne. Zum ersten Mal einen Arzt sah er bei seiner militärischen Musterung und zum zweiten Mal, als er für Deutschland gemustert wurde. Das ist eine Pappkoffergeschichte, um den Koffer die Kordel. Für Großvater war Anton Schlossers Fabrik für Holzabsätze das Paradies.

Nun musste er seine Kollegen entlassen. Ihm fehlte die Fähigkeit, Entwicklungen vorauszusehen. Er war kulturell abgehängt und seelisch unverbunden. Er sondierte das Sortiment der Schuhgeschäfte in Fulda und Kassel. Unterwegs erkannte er, dass die monumentalen Sohlenblöcke auf der ganzen Linie alles andere verdrängten. Daraufhin stellte er die Maschinen um und als er wieder Arbeiter brauchte, griff er nicht auf jene zurück, die gerade entlassen worden waren, sondern fischte aus der nächsten Migrantenwelle Vietnamesen und die ersten sowjetischen Spätaussiedler, deren Nachkommen heute den Belegschaftsstamm bilden.

Auch Fatma zählte zu den Ausgemusterten. Sie fand Arbeit in Hanau und wohnte da in einem Übergangsheim für Ledige. Die Frauen bekochten sich wie Schwestern, ihre Freiheitsgewinne waren unscheinbar. Da war nichts Großes und selbst das Kleine war noch zu groß für jedes bekannte Wort. Die Frauen beschwiegen ihre Erlebnisse, wenn sie montagmorgens mit der letzten Kraft ihrer Jugend in die Fabrik einrückten und die Erschöpfungspausen auf dem Klo verlängerten. Bis wieder Freitag war, und man sich traf, mit von Gelegenheiten geschulten Deutschen, ohne den Ballast einer drohenden Kultur und dem orientalischen Marienwunderwahn. Auch für diese Männer war alles besonders, aber in ihren betrügerischen Herzen war für besonders kein Platz. Die süßen Erwartungen liefen leer und leierten aus, sie fielen um wie Kegel auf einer scheppernden Bahn in Lämmerspiel oder Dietzenbach oder voll im Rodgau. Keine Aussicht auf einen Bund, aber das fistik kiz-Kapital, die Mädchenrendite, schon verbraucht. So zurück nach Istanbul, die Sechzigerjahre als Schundroman im Koffer. Ein türkischer Mann musste her. In Deutschland hatte Fatma kurz etwas Nichtlebbares erwogen, nicht in irgendeiner Spielart der Verschiedenheit nicht lebbar, vielmehr nicht lebbar im Rassismus der netten Nachbarn. Die wollten keine türkische Arbeiterin in der Nähe ihrer Gartenzäune. Anderenfalls wäre Fatma nicht umgekehrt. Wenigstens eine Türkin wollte sie sein. Das ging nicht ohne Mann.

Ich muss jetzt über meinen Vater reden, er erscheint mir ständig im Traum, obwohl er noch lebt und wohlauf ist. In einem engen freizeitlichen Rahmen spielte er als Heranwachsender da mit, wo die Söhne der Gastarbeiter im ländlichen Raum vorkamen, im Eiscafé, am Billardtisch und auf dem Fußballplatz. Auch ein Parkplatz war wichtig als sonntäglicher Treffpunkt.

Im Todesjahr seines Vaters zog mein Vater den ersten Kontrakt mit einer polnischen Devisenbeschaffungsgesellschaft an Land, die sich in Düsseldorf eine feudal eingerichtete Filiale auf zwei Stockwerken leistete und alle sechs Monate das für den Kasten jahrelang wichtigste Abkommen neu verhandelte. Vater reiste allein nach Düsseldorf und erwehrte sich der Wodkaattacken mit Trinkfestigkeit. Der sonst komplett Abstinente trank die Polen unter den Tisch. Er hat mir sein Geheimnis nie verraten. Morgens um vier zeigte er sich noch unterschriftsfähig. Das ist verbürgt.

Deshalb durften wir lange vor meiner Zeit einen Betrieb in der Oberschlesischen Industrieregion mit thermoplastischem Kautschuk beliefern, der dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterworfen war. Die Sache war so heikel, dass der Ausschuss versiegelt zurück in den Westen geschafft werden musste. Unser Partnerbetrieb hatte die Ausmaße einer Stadt. Seine Versorgungszentren wurden während der Arbeitszeiten genutzt, bis 1992 sechsunddreißigtausend Mitarbeiter auf einen Schlag entlassen wurden. Wir lieferten noch Material in ein Katastrophengebiet, als es da schon keinen Mann mehr zum Einlagern gab. Der Kautschuk wurde abgekippt und verrottete auf einem stillgelegten Werksgelände.

In einer Phase des allgemeinen Verendens starteten Metro und Aldi einen Unterbietungswettbewerb und schlugen den Fachhandel nach den Regeln der Discounter. Sie schufen neue Gleichungen. Für das Geld passt der Schuh. Für das Geld hat der Schuh lange genug gehalten. Diese Neujustierungen der Konsumentenskalen griffen die Lebenszeit des Schuhs an. Sie machten ihn zur verderblichen Ware und zum Modeartikel. Vater erlebte einen Markt in Agonie. Seine Ostblockpartner gingen reihenweise in die Insolvenz. Die planwirtschaftliche Vollbeschäftigung funktionierte von jetzt auf gleich nicht mehr.

Im Nachgang bewältigten zweiundeinhalbtausend Leute im Pfälzer Wald das Pensum der sechsunddreißigtausend polnischen Kollektivisten. Keiner ging in seiner Arbeitszeit zum Friseur oder ließ sich auf Betriebskosten die Nägel machen oder umging die Engpässe einer Mangelwirtschaft im betriebseigenen Supermarkt.

Der Fleiß nutzte nichts. Die Pfälzer verloren ihre Arbeitsplätze an Inder und Chinesen. Vor allem in Indien definierte man billig neu nach Grundsätzen von Sklavenhaltergesellschaften mit Kinder- und Heimarbeit ohne Arbeitsschutz und Sozialkosten. Ein Branchenriese bot mir die Verlegung von Mainschuh nach Tamil Nadu an. Jede Menge europäische Markenhersteller lassen in dem indischen Bundesstaat produzieren.

Ich beobachte einen Akt der Völkerverständigung. Der Nigerianer Jens begrüßt den Russen Michael mit Gesten in einer komplexen Abfolge, die er sich ausgedacht haben könnte, um besonders exotisch rüberzukommen. Ich bin mit allen im Betrieb per du, nur Jens verweigert die Zwanglosigkeit. Er erwartet von mir Regelungen seiner privaten Angelegenheiten. Er trägt Forderungen als Wünsche vor, die kein Nein vertragen. Ich habe Jens schon schwer enttäuscht.

Michael war in der Sowjetunion mit titanischen Bauvorhaben befasst. Als Ingenieur und Spezialist für Katastrophenmanagement gab er sechzig Leuten Anweisungen. Jetzt erschöpft sich seine Führungsaufgabe im Verhältnis zu einer Maschine, die er beherrscht wie kein zweiter. Ich beschäftige Michael seit fünfzehn Jahren mit gleichbleibender Hochachtung. Kündigt sich bei ihm eine Erkältung an, legt er sie aufs Wochenende.