Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
In den 1990er Jahren in der Aue © Jamal Tuschick
Lien geht neben Cole ab durch die Mitte. Auf ihrer Lebensliste steht er an erster Stelle. Klammheimlich verwandelte Lien ihr Vorbild in einen Blutsbruder.
Kann man ein Bild umschreiben? So fühlt sich das für Lien an. Als habe sie ihr Vorbild umgeschrieben, während sie klandestin die familiären Verbindungen kappte. Sie hasst ihre feierwütige, von Attraktivitätsnormen besessene Schwester. Luanas Karategeringschätzung erlebt Lien als Affront.
Karate ist heilig, die Verweigerung des Trainings ein Sakrileg. Wie kann man nur so blöd sein, lieber im Eiscafé Frare oder im Freibad Wilhelmshöhe abzuhängen, im Verein mit Müßiggängerinnen*, die sich an späten Nachmittagen auf den Terrassen ihrer Eltern Eistee von irgendwelchen Müttern servieren lassen.
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Cole, zwanzig, geboren in Lubbock, Texas, aufgewachsen in Kassel, Sportstudierender, amtierender Vollkontaktvizeweltmeister und Cheftrainer, kennt viele Probleme nur vom Hörensagen. Um nicht seltsam zu erscheinen, denkt er sich manchmal etwas aus. Grundsätzlich erachtet sich der Großneffe unserer Großmeisterin Maeve von Pechstein als eine in jeder Hinsicht begünstigte Person, mit einer selbstauferlegten Verpflichtung zur Nachsicht gegenüber den Mühsamen und Beladenen mit ihren Nachtfrostgesichtern.
In seinem Büro trinkt Cole seinen Lieblingstee aus seinem Lieblingsbecher und guckt gemeinsam mit seinen Trainerinnen Lien Thunderbolt und Puma Park japanisches Frühstücksfernsehen. Haruka Shibasaki, die diensthabende Moderatorin, trägt zum Einstieg eine Kutte mit der Aufschrift Being filled with the spirit. Sie besucht eine Karate Schule in Nagoya. Der Meister ist ein wüster Knochen. Er heißt U … Die Opfer seiner weltweit auf YouTube kursierenden Demonstrationen krauchen wie geprügelte Hunde. Sie leiden entsetzlich. U. stilisiert sich als Fascho-Hulk. In seinem Dōjō trainieren mysteriös schlechte Schüler:innen*, darunter greise Schleicher:innen*, die so aussehen als würden sie beruflich in Mülltonnen wühlen.
U. ist eine von Coles Favoriten im Reich der menschgewordenen Comicfiguren. Haruka Shibasaki schlägt U. um Längen. In jeder Einstellung erscheint sie in einem anderen Kostüm und reißt dabei immer neue Horizonte auf. Sie durchquert den Kosmos zwischen Avantgarde, heikelster Distinktion, redikulösem Trash und historisierender Folklore. In einer Szene tritt sie im brettharten Keikogi auf.
U. schäumt auf. Er bramarbasiert. Er zeigt Techniken vom Flohmarkt, aber Haruka Shibasakis Aufmerksamkeit gehört allein den Kameras, die sie umschwärmen. Sie ist der Star. Ein Dummy muss sich vor ihr ganz besonders zum Affen machen. In Coles Welt zählt er zu den Celebrities der unfreiwilligen Komik. Jeder Meisterschlag oder- tritt bricht seine Haltung, das kann man sich stundenlang auf YT angucken. Er hat einen Kollegen, dem es genauso dreckig ergeht, während U. dem Publikum erklärt, dass er wieder höchstens drei Prozent seiner Energie eingesetzt hat. Er bleibt durchgehend herablassend. Die Schmerzkrümmungen der Adlat:innen* quittiert er mit Gleichgültigkeit.
Plötzlich erwacht Haruka Shibasakis sportlicher Ehrgeiz. Vielleicht kommt der Drive auch aus der Verpflichtung, bei jedem Stunt gut auszusehen. Japanische Moderatorinnen gehen für ihren Job durch die Hölle. U. lobt Haruka Shibasaki und gibt sich philosophisch. Er hantiert mit seinen Spielsachen. Der antike Kram sieht im Fernsehen nach Requisite aus. Cole würdigt die Handhabung der Masakari. U. ist zwar ein Poser, aber zweifellos vom Fach. Er korrigiert einen Karatenormalo. Der Praktizierende lächelt gequält. Er weiß, dass er nicht gut ankommt mit seinem Kraut-und-Rübengebiss.
Ohne Cole und Lien zu konsultieren, schaltet Puma weiter. Der Vormittag verflüchtigt sich in ihrem Zuhause. Seit dem Tod ihrer Mutter lebt Puma in Maeves Aura und Dōjō am Wilhelmshöher Bahnhof. Sie teilt die Sonderstellung zwar mit Cole, doch veranlasst sie das selten zu privaten Kooperationen.
Puma macht ihr Ding, so wie Lien, die ihren Erfahrungshorizont in Japan erweiterte.
Aus Liens Aufzeichnungen
In Amerika macht man TV-Serien aus Sehnsüchten. Man verpackt menschliche Schwächen in süßem Speck. In Japan nehmen sie dir den Speck weg. Du kapierst kein Hinweisschild auf dem Weg ins Okuchichibu-Gebirge. Die Anlage am Fuß des Kumotori wird auf nüchterne Weise für sakral erachtet. Jeden Morgen und jeden Abend fegen und harken Schüler:innen* den Steingarten. Nagai Shihan unterrichtet außer mir zurzeit nur Japaner:innen* und einen absurd ernsthaften, ziemlich blinden Jack London aus Ohio. Der Amerikaner ist dreißig, schneeweiß und gewaltig. Ein titanischer Tropf.
Nagai Shihan lehrt einen kompromiss- und schnörkellosen Stil. Er steht in der Tradition von Ōyama Masutatsu.
Der erste Trainingstag
Die Schüler:innen* spannen sich abwechselnd in Geschirre, der eine bremst, der andere zieht hangaufwärts. Nach zehn Minuten sind alle zum ersten Mal platt. Dann werden Hände und Füße an Bäumen abgehärtet. Die Japaner:innen* schlagen und treten unverdrossen. Der Amerikaner arbeitet verbissen wie in einem Tunnel, in dem er allein ist. Alle, mich und Jack eingeschlossen, sind Danträger:innen* und an Makiwara Training gewöhnt. Ich bemühe mich um einen entschlossenen Eindruck, fühle mich aber zum Heulen fehl am Platz. Ich vermisse den Spirit und die Magie von Maeve und Cole. Ich vermisse beide schmerzhaft. Aber Coles Abwesenheit rahmt den Alltag mit einem Trauerrand. Seine bloße Gegenwart kann mich selig machen.
Auf mich wirkt Nagai Shihan wie ein Karatebeamter. Wie eine einfallslose Vorstadtpersönlichkeit. Ich kann bei dem Mann keinen Funken Interesse an uns entdecken. Eine halbe Stunde später überrascht mich Nagai Shihan mit einem superlauschigen Zen-Setting und einem Shiatsu-Wunder. Er möbelt mich auf. Meine Wahrnehmung dreht sich total. Ich beglückwünsche mich zu meiner Meisterwahl. Nagai Shihan ist der Größte. Die Größte bleibt selbstverständlich meine hochverehrte Maeve Shihan.
Wir machen Gymnastik, alle sind ungefähr auf einem Stand der Beweglichkeit. Ein so hohes Niveau als Normalfall ist mir neu. Es wird nicht gelacht, es gibt keine Inseln der Vertraulichkeit unter den Schüler:innen*. Jede(r)* achtet auf Nagai Shihan, während er uns nichts als Strenge und einen leicht fiesen, schon nach altem Mann miefenden Unmut gewährt.
Zum Beispiel setzen wir Kagi-Zuki in Kombination mit Mawashi Geri Gedan.
Am Nachmittag spielen wir Schubkarre auf einer Treppe. Die Karre muss auf geschlossenen Händen nach oben. Mein Verhältnis zu solchen Abhärtungen bleibt ambivalent. Hände sind Greifwerkzeuge, keine Schlaginstrumente.
Nagai Shihan sieht das anders. Obwohl er humpelt und einen Stock als Gehhilfe einsetzt, verlangt er von uns den Höllenritt in die Invalidität.
Am besten hält sich Ohio-Jack. An dem Unverwüstlichen prallt alles ab. Für jede Technik steht ihm ein Register von Varianten zur Verfügung. Beim Kumite holzt er seine Kontrahent:innen* in Grund und Boden, ohne einmal einen Fuß bis auf Kniehöhe gebracht zu haben. Das sieht furchtbar aus und ist kränkend und quälend für die formal anspruchsvollen und poetischen Japaner:innen*.
Nachtrag
Es gibt immer eine, die nach einem halben Jahrhundert Training noch ihre Bestform hält. Die Ausnahme von der Regel soll die Effektivität des Trainings beweisen. Ich glaube, dass die Leute auf Okinawa im Mittelalter das aus China eingeführte Gong-fu falsch verstanden haben und auf der Basis von Missverständnissen zum Okinawa-Te gekommen sind. In der Kampfkunstevolution des 19. Jahrhundert wurde daraus Karate.
Bald mehr.