Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
Um 1995 © Jamal Tuschick
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Ich kam als Vegetarierin und esse nun wieder Wildbret und Fisch. Nagai Shihan verlangt die Anpassung. Er duldet keine Extratouren. Die Fleisch- und Fischlieferant:innen* treten in urtümlichen Szenen auf. Manchmal kommt ein Jäger mit dem Wildschwein auf dem Motorradtank. Es gibt keine städtischen Verblendungen bei der Verarbeitung von Lebensmitteln. Die Schüler:innen* sind an allen Haushaltsprozessen beteiligt. Mein Aufenthalt am Fuß des Kumotori gleicht einem Ausflug in die Vergangenheit.
Ich erkenne die Bedeutung der Selbstversorgung als klösterlichen Ansporn, obwohl der sakrale Rahmen leicht zur Seite geschoben werden kann.
Ich nehme Nagai Shihan als Karate-Controller wahr. Nach Jahren des Trainings in einer städtischen Ebene ziehen Danträger:innen* zu ihm in ein Tal des Okuchichibu-Gebirges. Für die Dauer eines Jahres unterwerfen sie sich (in einem Sabbatical) seinem Regime. Die meisten nehmen in ihren Berufen Spitzenpositionen ein und werden von ihren Betrieben zu der Schulung angehalten. Der bedingungslose Einsatz ist für sie selbstverständlich.
„Ergreife des Feindes Schwert, kehre es um, und erschlage ihn damit.“ Takuan Shuho
So geht japanisches Denken. Wirtschaft ist Krieg, und Karate ist eine Kriegskunst. (They are warriors on the budo path.) Bereits Ende der 1960er Jahre verdrängte Japan die Bundesrepublik von Platz drei der wirtschaftlich stärksten Nationen. Nur hundert Jahre zuvor hatten Samurai noch mit dem Schwert nicht anders als im Mittelalter für ein Land ohne Dampfmaschinen gefochten. Es gab kein hochseetaugliches Schiff, keine Eisenbahn und keine Universität in Japan.
Die Hauptinsel ist kleiner als Frankreich und nur ein Drittel der Fläche bietet sich einer Nutzung an. Vierundfünfzig Vulkane bedrohen die Bevölkerung. Siebentausend Erdbeben werden im Jahr registriert. Bodenschätze sind rar.
Ich hielt Nagai Shihan zuerst für stumpf. Obwohl ich schon wusste, dass Japaner:innen* nicht das vor sich hertragen, was sie auszeichnet, glaubte ich ihn wie einen Europäer einfach begreifen zu können. Er erschien mir ohne Pfiff, ganz anders als meine auf der Kaiserinsel Kyūshū in der Präfektur Miyazaki herangewachsene Budo-Mutter Maeve von Pechstein, deren Mutter eine international renommierte Vulkanologin hundert Jahre alt ist. Das Geschlecht derer von Pechstein brachte im 12. Jahrhundert den ersten Probst des Augustiner-Chorherrenstift Weißenstein hervor. Das Schloss Wilhelmshöhe steht heute an der Stelle des Klosters.
Ein Leben in der Kraft
Vielleicht muss ich das dazu sagen, für die Zuspätgekommenen. Maeve Senseis Dōjō liegt im Schatten des Kasseler Lokalbahnhofs Wilhelmshöhe. Die in vielen Künsten bewanderte Großmeisterin, Heilpraktikerin (heal or harm), Dichterin und Malerin Maeve kommt wie jedes Scheusal an und dreht dich an deinen Knöpfen auf, bis du in der Kraft bist. Seit ich zum ersten Mal von ihr dahin geführt wurde, betrachte ich mich als Abhängige. Im Gegenlicht der Nagai-Shihan-Praxis erkenne ich, wie wichtig für mich die Kasseler Details einschließlich des Dialekts sind. Der Kult, so wie ihn Maeve Sensei und in ihr Großneffe Cole Sensei zelebrieren, garantiert mir Glück bis zur Seligkeit. Das Glück fehlt in Japan.
In Deutschland sieht man einen und weiß, was los ist. In Japan ist das nicht so. Da legt man die Maske eines steten Bemühens und der Bereitschaft zur Zurückstellung eigener Bedürfnisse nicht ab. Japaner:innen*, auch völlig säkularisierte und heruntergerockte Existenzen, die westlich unerzogen erscheinen, begreifen unseren Ichbegriff als Schimäre. Die Facetten ihrer Lebensstile finden sie u.a. in Historiencomics. Um ein Beispiel zu geben, unter dem Begriff Samurai-Sex versammeln sich nur Animationen und Standfotos von Tanztheaterereignissen und Kinokitsch.
Morgen mehr.