Verzicht auf Sprachgewalt
Den ersten Anzug bezahlt das Kind armer Leute mit „Mutters Eiergeld“. Die ungewohnte Sache avanciert zum Symbol eines Aufstiegs, den der Titelheld in dem 1965 erstmals erschienenen Roman widerwillig in Angriff nimmt. William Stoner (Jahrgang 1891) ist das Produkt eines seit Generationen notleidenden Bauern-Prekariats in der Gegend von Columbia im US-Bundesstaat Missouri.
John Williams, „Stoner“, Roman, auf Deutsch von Bernhard Robben, dtv, 350 Seiten, 10.90 Euro
Eng gespannte Erwartungen bestimmen das Daseinsprogramm. Ein Studium erscheint abwegig. Und doch regt Williams Vater den Besuch des - im Rahmen der Universität von Missouri - um das Jahr 1910 gerade gegründeten Landwirtschaftscolleges an. Offensichtlich will Stoner Senior seinem Sohn ein besseres Leben ermöglichen. Gleichzeitig erscheint das so weit hergeholt, dass der Vater seine Großherzigkeit hinter Schamfloskeln verbirgt. In seiner Lage hat man nichts zu wollen und nichts zu geben, und doch gibt er seinem Jungen eine Chance, aus dem Elend zu kommen.
John Williams unterläuft den biblisch-elementar grundierten Epos-Charakter des Einstiegs mit einem Verzicht auf Sprachgewalt. In kargen Worten schildert er Stoners erste akademische Krise, ausgelöst von einer Pflichtveranstaltung, die der naturwissenschaftlichen Ausrichtung des Agrarstudiums zuwiderläuft. Die angehenden Ingenieure müssen eine Einführungsvorlesung in Literatur über sich ergehen lassen. Die meisten erleben den Unterricht als Störung. Auch bei Stoner führt die Auseinandersetzung mit Shakespeare zu Blockaden. Er geht auf Konfrontationskurs, kündigt das Vertraute und immatrikuliert sich in Philosophie und Literatur. Seinen Angehörigen verschweigt er die Volte.
Ein Dozent erkennt in dem Debütanten den passionierten Lehrer. Archer Sloane gibt Stoner die Richtung vor.
Sloane weist Stoner in Academia ein.
Er erläutert einem Unbeholfenen den Promotionsparcours.
Williams beschreibt die Engstirnigkeit eines verriegelten Menschen, dem der Ausbruch des Ersten Weltkriegs keine Regung entlockt. Unbeirrt folgt Stoner seinem universitären Fahrplan.
Ekstatische Ewigkeit
Er arbeitet sich am „Einfluss der Antike auf die mittelalterliche Lyrik“ ab, während seine Generation auf den europäischen Schlachtfeldern verblutet. Einst war er so gleichgültig wie der karge Boden (Williams formuliert radikaler, er schreibt: „so braun und gleichgültig wie …“), den zu beackern das Schicksal von Verdammten war. Jetzt knospen Stoners Sinne beim Lesen klassischer Gedichte. Stoner bemerkt, wie leicht und würdevoll die vorchristlichen Römer „die Tatsache des Todes akzeptierten“. Er „(staunt) über die Bitterkeit … den kaum verhüllten Hass … christlich-lateinischer Dichter, sobald sie sich mit dem Tod befassten, der ihnen doch … eine ekstatische Ewigkeit versprach“.
Williams zeigt den Asketen in dessen Kammer, einen Zurückgebliebenen, verstockt und unpathetisch, sich seiner Lächerlichkeit bewusst. Ein Nutznießer der euphorischen Kriegsfreiwilligkeit. Ihm trägt Sloane eine Dozentur an, da ihm die Qualifizierten ausgehen. Das Angebot läuft auf klaustrophobische Enge hinaus. Fortan unterrichtet Stoner auf dem Schauplatz seiner akademischen Initiation. Er wird nie mehr vom Fleck kommen. Ihn kennzeichnet ein topografischer Radius mit den Ausmaßen eines Tintenflecks. Zudem hält er just jene Vorlesung, die seine Krise und Katharsis auslöste, und den Bauernsohn in eine andere Umlaufbahn katapultiert hatte.
„Nie betrat er den Raum, ohne einen Blick auf den Platz zu werfen, auf dem er einst gesessen hatte.“
Zum Autor
John Edward Williams (1922 -1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Er besuchte das örtliche College und arbeitete dann als Journalist. 1942 meldete er sich widerstrebend, jedoch als Freiwilliger zu den United States Army Air Forces und schrieb in der Zeit seines Einsatzes in Burma seinen ersten Roman. Nach dem Krieg ging er nach Denver, 1950 Masterabschluss des Studiums Englische Literatur. Er erhielt zunächst einen Lehrauftrag an der Universität Missouri. 1954 kehrte er zurück an die Universität Denver, wo er bis zu seiner Emeritierung Creative Writing und Englische Literatur lehrte. Williams war vier Mal verheiratet und Vater von drei Kindern. Er verfasste fünf Romane (der letzte blieb unvollendet) und Poesie. John Williams wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber keine Berühmtheit. Dank seiner Wiederentdeckung durch Edwin Frank, der 1999 die legendäre Reihe ›New York Book Review Classics‹ begründete, zählt er heute weltweit zu den Ikonen der klassischen amerikanischen Moderne.