Ekstatische Ewigkeit
1939 ist Wichita Falls noch nicht lange nur ein Endbahnhof mit Verladestation für den Viehtrieb in Nordtexas. Der Bau des ersten Wolkenkratzers in Texas endete vor Ort als Schildbürger:innen-Posse. Dem Tycoon John G. Hardin verdankt sich immerhin eine Hochschule. „Den Enkeln der Pioniere“ öffnen sich die Pforten von Academia fern der traditionsreichen Universitäten an der Ostküste. Zu jenen, die dem bodenständigen Cowboystyle modischen Eigensinn entgegentragen, gehört der Sohn des Hausmeisters im Postamt. John Edward Williams (1922 -1994) flaniert mit der Extravaganz eines „englischen Junkers“ im Blazer und mit Seidenschal über die Magistrale von Wichita Falls.
Jahre später weist John Williams den Hauptschauplatz des „Stoner“-Romangeschehens als Universität von Missouri im US-Bundesstaat Columbia aus. In einer Vorbemerkung weist der Autor auf „Freiheiten“ hin, die er sich bei historischen Begebenheiten gestattete. Die 1839 gegründete Hochschule stand ab 1868 Frauen offen. 1870 erweiterte die School of Agriculture and Mechanical Arts das Bildungsangebot. Williams Held, der schwergängige Bauernsohn Bill Stoner (Jahrgang 1891), immatrikuliert sich zuerst in diesem Bereich, der im Roman erst 1910 das überkommene akademische Spektrum ergänzt.
John Williams, „Stoner“, Roman, auf Deutsch von Bernhard Robben, dtv, 350 Seiten, 10.90 Euro
Der Erste Weltkrieg erzeugt ein Reformstau. Stoner etabliert sich in einem Klima der Restauration. Ein Dekan übt sein Amt beinah seit dem Sezessionskrieg aus. Man begreift ihn als unantastbaren „Teil der (Universitäts-) Geschichte“.
„Trotz der zunehmenden Inkompetenz … (besitzt) niemand den Mut … auf sein Ausscheiden zu insistieren.“
Bei einem Empfang begegnet Stoner einer Verwandten des greisen Granden. Der borstige Schrat verliebt sich in Edith Elaine Bostwick. Die „Flitterwoche“ in einem Hotel in St. Louis erleben die Vermählten als Debakel. Die Frist der Festlichkeit ihrer Ehe fällt zusammen mit der noch zaghaft durchgreifenden Prohibition anno 1920. Die Wirt:innen* verbrauchen ihre Reserven. Sie bieten Spirituosen überteuert an. Trotzdem lässt Stoner eine Flasche Champagner aufs Zimmer bringen. Nach dem Vollzug der Ehe übergibt sich Edith und schiebt die Übelkeit auf den ungewohnten Alkohol.
Die Ehe kennt keinen glücklichen Moment. Die 1923 geborene Tochter Grace erlebt aktive Zuneigung nur von ihrem Vater. Sie entgleitet ihm trotzdem.
Maliziöse Gegenspieler
Die Niederlagen häufen sich. Privat und beruflich muss Stoner viel einstecken. Ein Versuch, selbst auszuteilen, scheitert kläglich. In der Universität wird er übergangen, zurückgesetzt, schließlich auf ein Abstellgleis geschoben. Stoners knochig-redlicher Charakter sperrt sich selbst aus, während maliziöse Gegenspieler intrigierend triumphieren.
Stoner unterliegt auf der ganzen Linie. Sein Schöpfer lässt keinen Raum für Trost. Die Trostlosigkeit trägt den Sieg davon. Der Aufschwung eines Bauernsohnes, der seine Herkunftsverhältnisse zu überwinden wusste, vollendet sich in einem langen Absturz. Stoner stürzt so viel länger als der Aufstieg währte; dieser Wurmfortsatz einer Karriere, die vielmehr eine Nicht-Karriere unter Laborbedingungen war.
Der Niedergang geht mir nach, bis ich den Punkt des persönlichen Versagens begreife. Stoner ließ sich ins akademische Joch spannen, anstatt die akademische Freiheit publizistisch zu nutzen. So konnte er kein Vorbild sein.
Zum Autor
John Edward Williams (1922 -1994) wuchs im Nordosten von Texas auf. Er besuchte das örtliche College und arbeitete dann als Journalist. 1942 meldete er sich widerstrebend, jedoch als Freiwilliger zu den United States Army Air Forces und schrieb in der Zeit seines Einsatzes in Burma seinen ersten Roman. Nach dem Krieg ging er nach Denver, 1950 Masterabschluss des Studiums Englische Literatur. Er erhielt zunächst einen Lehrauftrag an der Universität Missouri. 1954 kehrte er zurück an die Universität Denver, wo er bis zu seiner Emeritierung Creative Writing und Englische Literatur lehrte. Williams war vier Mal verheiratet und Vater von drei Kindern. Er verfasste fünf Romane (der letzte blieb unvollendet) und Poesie. John Williams wurde zu Lebzeiten zwar gelesen, erlangte aber keine Berühmtheit. Dank seiner Wiederentdeckung durch Edwin Frank, der 1999 die legendäre Reihe ›New York Book Review Classics‹ begründete, zählt er heute weltweit zu den Ikonen der klassischen amerikanischen Moderne.