Liberté, egalite, fraternité - Olympe de Gouges erklärte „Die Frau hat das Recht das Schafott zu besteigen, also muss sie auch das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen.“ Quelle Man guillotinierte sie am 3. November 1793 mit der Begründung, sie habe vergessen, was sich für ihr Geschlecht ziemt. Quelle
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Neubabylonisch-post-assyrischer Fehdehandschuh
Im Auftrag seines - gegen sämtliche Erwartungen der Nachbarn - siegreichen Fürsten Nabū-kudurrī-uṣur II aka Nebukadnezar soll Heerführer Holofernes ein Strafgericht an der Welt vollstrecken. Der neubabylonisch-post-assyrische Fehdehandschuh fällt ca. sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung in den Ringstaub der Geschichte. Nabū-kudurrī-uṣur II weiß sich geschmälert von jenen, die ihm die Gefolgschaft verweigerten, als er noch ein kleinerer Herrscher war. Der Rachefeldzug setzt eine Geschichte in Gang, die das von Luther den Apokryphen zugerechnete, folglich deuterokanonische Buch Judit dynamisiert.
„Sehet, dies ist das Haupt des Holofernes, des Feldmarschalls der Assyrer, und sehet, das ist die Decke (das Mückennetz), darunter er lag, als er trunken war. Der Herr hat ihn durch die Hand einer Frau erschlagen.“ Judit 13,15
Hans Mayer, „Außenseiter“, Suhrkamp
Die Gegenaufklärung des 19. Jahrhunderts erklärt die Ausnahme Judit von Betulia zur Regel. Hans Mayer schreibt: „Am Tun der Frau mit der Waffe wird die Unfähigkeit der Frau zum Kampf im allgemeinen Verstande denunziert, also auch im Kampf mit geistigen Waffen.“
Die gegenwärtige Perspektive
„(Judit) erkennt … als einzige, was die Situation erfordert, und handelt effizient und überlegt. Sie tut all das und nur das, was nötig ist, um ihr Volk zu retten.“ Elisabeth Birnbaum, Quelle
Restaurative Autoren sehen Judit als schuldig gewordene Grenzüberschreiterin. Judits Anmaßung ‚männlicher Tatkraft‘ gebiert bei Friedrich Hebbel Erfolglosigkeit. Hebbel erzeugt eine Gegenlegende im Geiste Kleists. Misslungen findet Hebbel das biblische Original. Darin reüssiert Judit auf der ganzen Linie. Die herabsetzende Gegenperspektive entspricht, so Mayer, einer aufgenommenen Stimmung der Zeit.
„Hebbel ist weit eher Interpret … als Anreger.“
„Gott lässt dich gebären, damit er dich in deinem Fleisch und Blut züchtigen, dich noch übers Grab hinaus verfolgen kann!“
Das sagt ein Agent der Reaktion in Hebbels Drama „Judith“. Und so fürchtet die israelische Heldin nichts mehr als von dem Ermordeten geschwängert worden zu sein.
„Ich will dem Holofernes keinen Sohn gebären! Bete zu Gott, dass mein Schoß unfruchtbar sei.“
„Es ist die Ehre großer Charaktere, schuldig zu sein“, sagt Hegel. In der Logik der Gegenaufklärung kommen Frauen für das eine nicht in Betracht, ohne vom anderen suspendiert zu sein. Sie entbehren der Größe, aber nicht der Schuldfähigkeit. So erlebt Hebbels todessehnsüchtige Judit wirkungslose Reue, während ihr biblisches Vorbild als Grande Dame Israels staatstragend in die Jahre kommt. Hebbels Adaption verfehlt beinah wütend jeden Punkt der Vorlage.
Doch was passiert da psychologisch und soziologisch?
An die Stelle feudaler Ehr- und Satisfaktionsbegriffe tritt das bourgeoise honorig. Das stellt Mayer fest. Die Schuld als große Idee einer immateriellen Gegenrechnung zur physischen Notdurft versinkt im Sumpf profaner Schulden. Schauplatz des charakterlichen Eigensinns ist die Privatsphäre. Freiheit erschöpft sich in der Meinungsfreiheit.
Mit Hebbel, so Mayer, endet das Rollback der bürgerlichen Gegenaufklärung mit einer Zurücknahme der geschlechtlichen Gleichheit. An die Stelle der Tragödie tritt der Roman. Von nun an kämpft die Epochenfigur in einer Männergesellschaft um ihre Rechte. Die „unweibliche“ Rüstungsträgerin verschwindet von den Bühnen. Die „weibliche“ Frau geht in immer neuen Aufläufen unter. Die kaltherzlich-kindliche Salome macht Furore. Siehe hierzu Publikumssüchtiger Eremit.
Scharen dämonischer Undinen und kindlich-kalten Verderberinnen geistern durch die Belle Époque. Die aus allen möglichen Fingern gesogene, noch nicht mal in der Brüchigkeit biblischer Historizität mit dem Namen Salome verknüpfte, im 19./20. Jahrhundert von Aubrey Beardsley, Lovis Corinth, Edvard Munch, Franz von Stuck und Oskar Kokoschka zu einem Epochen-Topos hochgejazzte Story bildet ein eigenes Genre.
Elitarismus für Jedermann
Wie haben wir es zu verstehen, da Ida Gräfin Hahn-Hahn meldet: „Oh, diese Madame Roland (Jeanne-Marie „Manon“ Roland de La Platière), wie ich sie hasse. Diese Vertreterin des Dritten Standes in seinen Rauschgoldphrasen, in seinem hochfahrenden Streben … in seinem Komödienspiel mit großen Worten ohne große Tat.“
Die Emanzipation der Feudalen endet an den Standesschranken. Zugleich schaffen die gräflichen Selbstentfaltungsbegriffe einen Rahmen für „die Wunschträume der Mittelklasse … einen Elitarismus für Jedermann“.
Doch nicht für jede Frau. Mayer weist nach, dass jeder gesellschaftliche Durchbruch einer Frau vom Skandal begleitet wurde.
Schillers Hass auf die Universitätsmamsell Karoline Schlegel („Madame Luzifer“). Napoleons polizeiliche Interventionen gegen Germaine de Staël. Antisemitismus, der Dorothea Friederike Schlegel traf. Mayer erwähnt Deklassierungen, denen George Sand und George Eliot ausgesetzt waren. Er spannt den Bogen über die Breite des 19. Jahrhunderts. Hebbel, Wagner, Ibsen. Alle debütieren „mit dramatischen Meditationen“. Alle „kennen die Frau mit der Waffe“. Sehen Sie auch meinen Beitrag Die Frau mit Waffe. Die Autoren fahnden nach den „Lebenslügen“ der Systemsprengerinnen. Ibsen synthetisiert Judit und Brunhilde in Hedda Gabler.
Aus der Ankündigung
Vom »Denkparadox« und der zugleich geschichtlichen Realität ausgehend, »daß die Anerkennung von Lebensrecht und Würde der existentiellen Außenseiter am besten in jener Ära gesichert war, da adlige Aufklärer unter dem Ancien Régime die bürgerlichen Forderungen vertraten«, entdeckt Mayer das Scheitern des Bürgertums im Versuch, das Unvereinbare zu verbinden: die Forderung nach Sicherung bourgeoiser Herrschaft mit der nach freier individueller Verwirklichung – wie außenseiterisch sich diese als existentiell veranlagte Normabweichung auch ausnehme. Richtet sich Mayers Blick vom historisch Erfahrenen auch wieder nach vorn, fordert er die Fortsetzung von »ihren bürgerlichen und geschichtlichen Ursprüngen abgelöster« Aufklärung als der »permanenten Revolution«, so doch in erklärter Gegenstellung zu einem abstrakt bemühten Utopismus allgemein-gesellschaftlicher Emphase, in der Hinwendung zum letztlich maßgebenden Bedürfnis und Anspruch des Einzelnen. Das Buch entwickelt seine Problematik beispielhaft und zentral an der Stellung bürgerlicher Gesellschaft und ihrer Literatur zur Frau, zu gleichgeschlechtlicher Liebe und Judentum. Es gelingt ihm deren darstellerische Bewältigung aus stupender Belesenheit und in methodischer Schmiegsamkeit.
Zum Autor
Der Wissenschaftler, Kulturkritiker und Schriftsteller wurde am 19. März 1907 in Köln geboren. Er studierte Jura, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und Berlin. Als Jude verfolgt, war er von 1933 bis 1945 in der Emigration in Frankreich und in der Schweiz. Von 1948 bis 1963 lehrte er Geschichte der Nationalliteraturen an der Universität Leipzig. Zwischen 1965 und 1973 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Technischen Universität Hannover. Danach lebte er als Honorarprofessor in Tübingen.
1935, im Exil, begann er mit den Vorarbeiten für sein großes Werk über Georg Büchner; ohne Zuspruch von Carl J. Burckhardt wäre das Opus magnum nicht beendet worden. 1972 erschien eine Neuausgabe im Suhrkamp Verlag. 40 Titel von ihm sind seitdem in »seinem« Verlag publiziert worden, darunter Bücher über Goethe und Brecht, Thomas Mann und Richard Wagner; der letzte in diesen Tagen: »Erinnerungen an Willy Brandt«. Bundeskanzler Schröder drückte darüber brieflich noch seine Hochachtung aus.
Hans Mayer war ein Lehrer für uns Deutsche. Ein Wissenschaftler, der mitten im Stalinismus Autoren wie Kafka, Proust, Joyce und Bloch verteidigte, der, wo immer in der Welt er lehrte, Literatur befragte, ob sie geeignet sei, Humanität zu befördern. Ein Gelehrter zwischen den Fronten, dessen wichtigste Werke nicht zufällig den Unbotmäßigen und »Außenseitern« gelten. Seine Erinnerungen waren Erinnerungen eines »Deutschen auf Widerruf«. Die Beschwörungen eines anderen Deutschland bereiteten neuen Kräften wie Uwe Johnson den Weg.
Hans Mayer ist Ehrenbürger der Städte Köln und Leipzig, Ehrendoktor der Universitäten in Brüssel, Wisconsin und Leipzig, Ehrenprofessor der Universität Peking, Träger des »Großen Verdienstkreuzes mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland«.
Hans Mayer, Nestor der deutschen Literaturwissenschaft, starb am Sonnabend,
dem 19. Mai 2001, im Alter von 94 Jahren in Tübingen.