„Ein Junge kommt zu mir mit einem Funken/ Aus dem Funken mache ich eine Flamme/ aus der Flamme ein Feuer/ und aus dem Feuer einen Flächenbrand.“ Cus D’Amato
Im März 2024 © Jamal Tuschick
Cholerischer Opa
Opa war eine Ausnahmeerscheinung - Heiler, Seher, Seelenberserker. Soweit der Segen. Das Genie verband sich ideal mit einem Genius loci. Sein Zauberkasten steht gut auf sicherem Grund im Heilgarten. Eine Wiese voller Schlafmohn, Floh- und Katzenkraut, Sellerie, Odermennig, Schafgarbe, Rettich und Schwertlilie erfüllt bis auf den heutigen Tag die Anforderungen an eine lebende Apotheke des Mittelalters. Der Heilgarten wurde von irischen Mönchen angelegt, die christliches Wasser predigten und magischen Wein tranken. Die Kolonisation erfolgte aus wilder Wurzel. Keine Bauernhand hatte sich da je gerührt und kein Kult seinen Ort gefunden, bis im 13. Jahrhundert der erste Graben gezogen und auf der Oede ein Garten angelegt wurde.
Gorod (Stadt) und Garten haben denselben Wortstamm. Der eingeschlossene Raum definiert beide. Gründe für die Vernachlässigung eines Gebiets nahe der Werra und des Verarbeitungsplatzes Kraichhain sind nicht zu erkennen.
Opa siedete dicht an den Affekten. Er brauchte Gewalt und Zerstörung, um sich lebendig zu fühlen und seine Form zu wahren. Der Choleriker jagte zwei Söhne aus dem Haus und vom Hof. Beide waren talentierter als der folgsame Bruder. Ihre Entfernung aus dem Zauberkasten folgte einem Diktat der Herrschsucht. Opa wollte keine ebenbürtigen Nachkommen. Niemand sollte aus seinem Schatten treten und das Ruder übernehmen.
„Mich muss man vom Thron stürzen“, sagte er.
Er war der Mann an der einsamen Spitze. Wem das nicht passte, der konnte sich in der Welt umtun. Opa unterschied nicht zwischen einem kritischen Einwand und offener Rebellion.
Wer sich brechen ließ, wurde gebrochen. Der gebrochene Sohn, mein Vater, rettete sich an ein Ufer der Bedürfnislosigkeit.
Ich verstand nicht, warum meine Geschwister nicht arbeiteten. Sie hatten das Recht aus der Reihe zu tanzen. Ihnen gehörte ein Zugang zu den mütterlichen Abteilungen. Mich fügte man in den betrieblichen Baukasten wie einen Gegenstand ein. Auf mich ließ sich zurückgreifen. Zwei Fragen drängten sich vor. Was unterschied mich von meinen angeblich schwermütigen und hochbegabten Geschwistern, und warum widerstand mein Vater nicht seinem Vater?
Mein Zustand war die Verwirrung. Zu widersprüchlich verhielten sich der brutale und der milde, in jedem Fall von keinem Einwand geschwächte Materialismus des Großvaters und des Vaters zu der Spiritualität beider Männer. Vater schrieb Gebete und genoss ein kleines Ansehen in den verschwiegenen Kreisen Gleichgesinnter. Das waren verschanzte Separatisten. Man war Mitglied einer Meditationsgruppe und ergänzte einen Kreis, in dem Rückführungen stattfanden und sich Leute schreiend auf dem Boden wälzten, weil sie sich im Embryonalstadium wähnten.
Hochämter der stillen Selbstverständlichkeit
Vater und ich waren nie allein in den Nächten der heiß laufenden Maschinen. Drei, vier lemurenhafte Handlanger, die nach Jahren im Betrieb wie Tagelöhner abgefertigt wurden, verrichteten in Hochämtern der stillen Selbstverständlichkeit niedrige Dienste. Nicht den Witterungsverhältnissen ausgesetzt zu sein, so wie die Leute auf dem Bau und in der Landwirtschaft, erlebten sie als erzählbaren Vorteil. Jeder Mann bediente fünf Maschinen. Der Lohnanteil an der Kalkulation war der geringste Faktor. Die Sohlen wären unbedeutend billiger gewesen, hätten wir die Ungelernten gar nicht bezahlt.
Auch ihre Frauen schafften beim Aleko-Schuh. Den Frauen reichte es, eigenes Geld nach Hause zu bringen; abseits der Willkür anmaßender Bauern, die seit Generationen das Taschengeld solcher Frauen lockermachten als kläglichen Lohn für Feldarbeit. Sie kannten noch die Holzabsatzproduktion der Keimzeit, bevor der Betrieb mit Spannhülsen, die Bleistiftabsätzen innere Stabilität verliehen, groß geworden war.
Wo alle anderen Licht sahen, blieb für mich alles dunkel. Ich fühlte mich zurückgestoßen, nicht gewollt und ungeliebt von Anfang an. Opa pendelte zwischen apokalyptischen Anwandlungen und einer Feinheit des Empfindens auf den Vorhöfen wundersamen Wissens. Er hatte die Gabe. Ihm war es gegeben. So befremdlich entwickelten sich die Formulierungen, zweifellos in einem religiösen Kontext. Nur, in welchem? Wir waren keine Christen. Das ließ sich einfach feststellen. Das Weitere war aber so kompliziert, dass ich es lange nicht begriff.
Opa ging mit der Axt auf Leute los. Er machte meiner Mutter den Hof vor den Augen meines Vaters. Er tropfte vor Unzufriedenheit und zerstritt sich mit mörderischer Heftigkeit. Einen Sohn erachtete er nur deshalb als abtrünnig, weil er an einem Wochenende der Abwesenheit seiner Eltern ausgegangen war, anstatt rund um die Uhr auf den Zauberkasten allgemein bekannt als Aleko-Schuh - Fabrik für Schuhbodenteile aufzupassen. Das war Verrat. Andere sprengten ihre Elternhäuser, sobald sie zum ersten Mal sturmfrei waren, der Onkel war bloß einmal um die Häuser gezogen. Er verdiente sich dann als Verkäufer von Kochtöpfen auf Wochenmärkten eine goldene Nase und führte seinen Wohlstand im goldenen Mercedes vor.
Heute liegt der Zauberkasten im Gewerbegebiet von Kraichhain, aber als Opa aus einem türkischen Dorf in das hessische Zonenrandgebiet direkt an der Landesgrenze zu Thüringen kam, gab es da nur landwirtschaftliche Nutzflächen und einen pittoresk verwilderten Heilgarten. Der gelernte Schuhmacher stellte einen Schuppen auf eine struppige Wiese. Das war der Anfang von Aleko-Schuh.
Für die Leute sind wir Türken, obwohl es keine ethnische Verbindung zwischen uns und den Türken gibt. Wir sind Lasen, ursprünglich aus Gurien, einer Schwarzmeerregion in Westgeorgien. Meine Ahnen emigrierten in die Türkei. Auf Türkisch heißt das Schwarze Meer Karadeniz. Meine Großeltern stammten aus der Nähe von Düzce. Auch meine Eltern sind da geboren.
Biografische Pittoreske
Opa behauptete, eher Georgier oder georgischer Lase als Türke zu sein. Bei Tisch hieß es stets: Türken können so was nicht. Opas Geschäftstüchtigkeit - das war der Lase im Opa. Doch auf den Schauplätzen seiner Erfolge gab es sonst keinen, der wusste, was Lase überhaupt bedeutet.
Opas schwächster Sohn war auch ein schwacher Magier. Er setzte auf die biologische Lösung. Mein Vater äußerte sich so im engsten Familienkreis. Dabei lief er Gefahr, überlebt zu werden. Opa war wohl krank nach Deutschland gekommen. Doch noch als Wrack erschien er vitaler als sein leiblicher Knecht. Er wirkte wie Orson Welles in Touch of Evil. Die Kraft geht zwar am Stock, aber da geht sie.
Opa war angeschlagen aus einem Krieg zurückgekehrt, den heute kein Mensch mehr mit der Türkei in Verbindung bringt. Die meisten Leute haben den Krieg gar nicht auf dem Schirm. Opas Teilnahme am Koreakrieg (1950 - 1953, dazu morgen mehr) bot ein Beispiel für die allgemeine Andersartigkeit unserer Familie. Wir waren keine Christen wie die Deutschen und keine Muslime wie normale Gastarbeitertürken. Wir waren auch keine Arbeiter, aber auch keine gebildeten Leute. Wir waren in allem anders.
Ich skizziere zwei Abweichungen, die uns auch nicht betrafen. Nesrin stammte aus einem anatolischen Allgäu, in dem ein animistischer Islam wie hinter Schneewittchens sieben Bergen Kräuter kundig in den Strom der Generationen fließt.
Açeylas Biografie berührte den Sonderfall jüdischer Sektenbildung. Açeyla war ein Kind der Dönme; gegründet von Schabbtai Zvi (1626 - 1676) als Gemeinschaft jüdischer Konvertiten, die unter osmanischem Druck förmlich zum Islam übertraten. Tatsächlich bewahrte sich in diesem Kreis die Idee, in Schabbtai Zvi sei der Messias auf die Welt zurückgekehrt. Ihre Hochburg war Thessaloniki. Als die Stadt griechisch wurde, gerieten die meisten Dönme - wahrgenommen als Muslime - in die Wanderungsbewegungen eines Bevölkerungsaustauschs. Doch gelang es einzelnen Familien, sich unsichtbar zu machen und vor Ort zu bleiben. Während des Zweiten Weltkriegs waren sie den Verfolgungen der Nazis ausgesetzt, nachdem ein Gutachten geklärt hatte, dass Dönme unter dem Schleier des Islam eine hedonistische Auslegung des Judentums kultivierten.
Wie ein Stamm treiben die Dönme Clan-Äste aus, die sich weltweit verzweigen. Ihre Domäne war lange der Tabakhandel. Nichtraucherin Açeyla gehörte zu einer Tabakdynastie.
Wie gesagt, auch diese Pittoresken verfehlen meine Herkunft.
Infernalische Entladungen
Der alte Zauberer verkörperte den absoluten Willen zur Macht. Er herrschte sogar da, wo es überhaupt nichts zu beherrschen gab. Notfalls ließ Opa die Bäume vor seinem Haus strammstehen. Er erfand sich Bedeutung. Stets nahm er sich den Platzhirsch vor und schoss sich auf ihn ein. Das war der Richtschütze in ihm.
Großvater maß eins sechzig nach eigener Angabe. Er behauptete, sein Vorankommen in den türkischen Streitkräften sei von seiner geringen Größe behindert worden. Er sagte, Vorankommen und meinte das so: Wer nicht vorankommt, bleibt zurück. Sein Kommandeur habe kurze Soldaten als persönliche Beleidigung empfunden und in seinem Herrschaftsbereich nur geduldet. Ich zog die Behauptung nie in Zweifel. Schon deshalb nicht, weil ich von klein auf besser als jeder Kommandeur wusste, dass Großvater kein kleiner Mann war.
Opa war im Koreakrieg gewesen. Die Türkische Brigade (Türk Tugayı) assistierte den US-Streitkräften bei deren Unterstützung der südkoreanischen Armee Anfang der 1950er Jahre; allerdings noch nicht im Rahmen der NATO-Solidarität. Die Türkei wurde erst 1952 Mitglied des Bündnisses. Die unterschlagene Infanterieeinheit kämpfte unter der Flagge der Vereinten Nationen. Während der am 25. Januar 1951 gestarteten Operation Thunderbolt bezwangen türkische Soldaten in der Gegend von Kumyangjang-ni chinesische Kombattanten.
Opa war ein leidenschaftlicher Artillerist und tat gern mehr als nötig. Er demoralisierte den Feind mit Feuereifer. In diesem Fach galt er als Koryphäe. Man versicherte sich seines Zermürbungsgeschicks. An der Spitze eines persönlichen Feldzuges führte er Krieg bis zu seinem Tod 1986.
Opa wusste stets, wo der Chinese/Nordkoreaner angreift. Er befragte Landkarten mit wissenden Händen. Man nannte ihn - seiner unergründlichen, ins Naturheilkundliche reichenden Kompetenz wegen - Feldapotheker. Seine medialen Fähigkeiten isolierten ihn nicht. Es gab Offiziersesoterik, einen Hang zum Okkulten und jede Menge volkstümlichen Aberglauben.
Opa diente in der Flugabwehrartillerie. Er verwandte seinen Ehrgeiz darauf, die Flakartillerie auch gegen Infanterie effektiv in Stellung zu bringen. Er stellte Flugbahnberechnungen an, analysierte Schießübungen und systematisierte die Ergebnisse. Voller Leistungsstolz bereitete er der Demoralisierung des Feindes mit der Flak den Boden und fand dazu auch später nie einen kritischen Abstand.
Opa suhlte sich nicht im Dreck menschenverachtender Ideologien. Ohne nennenswerte Schulbildung informierte er sich sachlich über Land und Leute. Er zerlegte jeden, der das nicht zu verhindern wusste. Ich war Zeuge infernalischer Entladungen. Opa knickte Leute zu seinem Vergnügen und zur Kompensation eines Begehrens, dem er zu direkt nicht nachgeben wollte. Seine Bedenken waren zwar nicht christlich. Die Leidtragenden hörten trotzdem die Engel im Himmel singen, wenn Opa ihnen einen Einlauf verpasste.
Suizidaler Eifer
Opas Härte vertrug sich mit Empfindlichkeit. Er erlebte Momente der Verstörung im Kontakt mit giftigen Materialien, die nicht nur gedankenlos in Möbeln verarbeitet worden waren, sondern ihm in einem Gipfelsturm der Ignoranz auch noch als Sitzgelegenheiten angeboten wurden. Er setzte sich auf keinen Plastikstuhl. Jede stromführende Leitung musste sich einen Meter von seinem Kopf entfernt befinden. Er wohnte herrschaftlich, meine kindliche Weltauffassung gab den Räumen die Dimensionen von Hollywood. Das Herrenzimmer, in dem ein Kamin bis heute nicht fertig gemauert ist, kann stromfrei geschaltet werden. Ein rotes Licht zeigt das futuristisch an. Seit dreißig Jahren wird die Wohnung als Lager genutzt, Staub begräbt den Schick einer anderen Zeit. Der Geist des alten Zauberers materialisiert sich im leuchtenden Schalter. Der Geist zeigt sich in meinen Robotern. Ich halte neun Patente rund um die Produktion. Nachts blinkt, leuchtet und schilpt es auf der Fabrikationsebene wie in Blade Runner. Ich finde meine Bilder und Antworten im Popcornkino und in Hitparaden. Walt Disney und die Beatles - in meinen Träumen verbindet sich die Lyrik von Liedern mit meinem Leben.
Ich erinnere eine Kinderangst im menschenleeren Maschinenraum. Meine Kinder zeigten die gleiche Angst, solange sie klein waren. Zwei verweigerten sogar die Treppenhäuser in stillen Stunden. Ich verstehe das. Kinder sind Sehende, die Fabrik ist für sie eine Unterwelt. Für mich ist sie der Zauberkasten, in dem Einlagen, Sohlen und Normalität produziert werden. Da ich für alles die Verantwortung trage, bin ich auch an allem schuld. Das erste Schuldpaket bekam ich vor der Geburt zugestellt. Nach meiner Zeugung gab es für die Beteiligten keinen Weg zurück in die Freiheit einer Trennung. Ihr Leben hörte auf, einen eigenen Beat zu haben. Sie kehrten in die Unmündigkeit der Kindheit zurück, sie wurden verheiratet. Ihr Einverständnis war keine Voraussetzung. Auf der einen Seite übernahm Opa die Regie und auf der anderen Seite die nicht weniger absolutistische Mutter der Schwangeren. Man stellte die Schwangerschaft als Unfall dar. Solange sie die Chance hatten, mich als einen Aspekt der Zukunft nicht wahrhaben zu müssen, spielten alle Theater.
Ich war ein unerwünschtes Kind. Ich kämpfte gegen meine Geburt. Ich wehrte mich mit suizidalem Eifer und musste mit der Zange geholt werden. Den Kampf verpasste Mutter in einer Ohnmacht. Man zog einen zornesroten Säugling aus der Bewusstlosen, ich hätte den Arzt ohrfeigen können. Eine Weile sah es so aus, als würde Mutter nicht mehr zu sich kommen. Die Fachwelt rechnete mit ihrem Tod.
Mir schenkte sich kein Leben. Vielmehr wurde es mir hinterher geschmissen, so als habe sich sonst keiner für die Rolle auftreiben lassen. Opa lehnte mich erst einmal ab. Ich durfte ihm nicht unter die Augen getragen werden. In mir erkannte er den Verursacher des Unglücks seines Sohnes. Auch Babaanne (Vaters Mutter/Oma väterlicherseits) blieb unbegreiflich kühl und kränkend in der Art, wie sie meinem ein Jahr nach mir geborenen Bruder Levan den Vorzug gab. Er war ihr eingetragener Lieblingsenkel. Ich war bloß ein Schlüssel zur Kontrolle der Eltern.
Majestätischer Verdruss
1987 machte Aleko-Schuh den bis dahin größten Gewinn der Firmengeschichte. Der Erfolg schien Opas Tod, den Tod des Tyrannen, zu feiern. Mutter spielte den Erfolg herunter, um ihren Mann bei der Abwicklung eines Großauftrags unter Druck zu halten. Sie suggerierte ihm, dass es notwendig sei, in den nur den Angestellten gewährten Weihnachtsferien durchzuarbeiten. Jeden anderen hätte man dafür bezahlen müssen. Am deutschen Heiligabend tauchte Vater kurz im Wohnzimmer auf. Er war abgekämpft und stand neben sich, während Mutter in Erinnerungen an ihren Schwiegervater schwelgte. Es war die reine Bosheit.
Opa war ein furchtbarer Vater und barbarischer Schwiegervater gewesen. Er hatte Mutter nachgestellt. Er überraschte sie in den Treppenhäusern des Maschinenraums. Er fühlte sich vom Schicksal zum Narren gehalten. Er war für sich zur Enttäuschung geworden. Wenigstens wollte der alte Zauberer Macht über die Menschen in seiner Reichweite. Da gab es viel, was sich zerstören ließ, Hoffnungen vor allem. Sein majestätischer Verdruss griff alle an und walzte sie nieder.
Mich ließ man schreien. Mutter saß eine Etage tiefer im Büro. Dass ihr die Verzweiflung im Laufstall nicht das Herz brach und eine Revolte gegen das Regime provozierte, verstehe ich bis heute nicht. Mich hat die Erfahrung zum Freund meiner Kinder gemacht. Ich war ihnen so zugewandt wie möglich, solange sie mir die Nähe erlaubten. Inzwischen kenne ich das Gefühl, als Feind der eigenen Kinder zu gelten. Ich weiß nicht, wie man es anstellt, an solchen Herausforderungen nicht zu scheitern. Opa nahm meinen Eltern den Schlüssel zur Wohnung weg und rückte ihn erst wieder heraus, wenn er die Abhängigen zu seiner Zufriedenheit demoralisiert fand. In ihrer erbärmlichen Verfassung hatten die Eltern dann mich am Hals. Wie immer und überall war Vater geduldiger und fürsorglicher als Mutter. Lascher nach den Begriffen seiner Eltern. Nicht einmal seine Nachgiebigkeit durfte ich für Liebe halten.
Ich sehnte den Tod herbei und erlebte die Kraft der Gedanken. Ich existierte auf der höchsten Bewusstseinsstufe, die ich je erreicht habe. Ich war vollkommen klar und einer eigenen Sprache mächtig. Die Sprache war ihrem Wesen nach Musik. Ich empfand mich als Falschlieferung und bemühte mich um eine Korrektur. Um ein Haar mit Erfolg. Einmal wäre ich beinah aus Versehen gestorben. Ich hatte mich verschluckt, es war keiner da, der mir auf den Rücken klopfen konnte. Die Sache war an Banalität nicht zu überbieten. Vielleicht hätte die Aufsichtspflichtverletzung die Eltern vor Gericht gebracht. Wie auch immer, in diesem Augenblick erwachte mein Lebenswille. Ich wurde fügsam und gefällig. Ich lernte die Schliche der Anpassung. Ich flüchtete mich in eine gnadenlose Artigkeit. Ich wurde der bravste Bub auf dem Planeten. Das war meine einzige Chance. Es ging um mein Leben. Mutter verriet mich jeden Tag. Sie stand unter den üblichen Zwängen. Dazu kam einiges. Mutter hatte einen Mann geheiratet, den sie verachtete. Sie hasste seine Schwäche in mir, nicht aber in meinem Bruder und in meiner Schwester, diesen Maden im Fleisch des Zwists. Levan ist als Schaumschläger und Lika ist als Schauspielerin zur Welt gekommen.
Babaanne (Oma väterlicherseits) verätzte bei ihrer Schwiegertochter jede zarte Anwandlung. Das Zartsein hatte man ihr schließlich auch ausgetrieben. Die Alte rächte sich für ihr eigenes Unglück. Im Gegenzug hielt sich Mutter an ihren Schwiegervater. Sie gab ihm das Gefühl, ein Caesar zu sein. Der Flirt mit dem alten Zauberer quälte Vater. Mutter fesselte den alten Zauberer. Das Begehren lag bei ihm und gab ihr die Macht. Sie fütterte das Biest, erschien selbst aber als Verfolgte oder Gefangene. Mutter gab den Vogel im Käfig, vor dem der Kater auf und ab marschierte.
Familienkrieg
„Die Hölle, das sind die anderen.“ Jean-Paul Sartre
Opa ging meiner Mutter an die Wäsche. Vater nahm das lüsterne Interesse seines Vaters an seiner Frau hin. Er sagte: „Ich habe doch gar nichts zu melden.“
Auch für diese Herzensträgheit rächte sich Mutter. Nach Opas Tod verwandelte sie sich in den Betriebsdrachen. Sie verleibte sich den kaufmännischen Bereich ein und entmannte ihren Gatten noch einmal, indem sie ihn zu einem Zahlenmündel machte. Der Chef kannte seinen Gewinn nicht.
Levan und Lika rivalisierten mit Mutter an der Mitleidsfront. Jeden Krankheitsgipfel, den Mutter erklomm, nahmen meine Geschwister in Angriff. Mein Bruder stellte Mutters Rekorde ein. Ich habe diesen feinen Menschen Beschimpfungen ausstoßen hören, die ihm gewiss der Teufel eingab. Im Furor wirkte Levan wie ein unter Wasser Gezogener, der sich zu befreien versucht und immer wieder die Oberfläche durchbricht, um die Welt von einem Schrecken an seinen Füßen gurgelnd in Kenntnis zu setzen.
Ich erlebte Leute, die Höllen füreinander waren. Sie gaben alles in einem lächerlichen Familienkrieg. Sie waren abgestumpft und durchtrieben und sich für keine Gemeinheit zu schade. Trotzdem hielten sie sich für gute Menschen und vorbildliche Bürger. Sie zählten sich auch moralisch zum gehobenen Mittelstand. Sie machten Front gegen andere. Sie stellten mich vor das Problem, nicht zu wissen, wo meine Gefühle hingehörten. Ich lernte, sie für mich zu behalten. Ich umarmte mich und schlief auf den Knien, als würde ich gehalten. Ich ließ mich von meinen Oberschenkeln in den Arm nehmen. Meine Phantasie gewährte mir eine Fee, bei der ich drei Wünsche freihatte. Die Ausbeute reichte, um Krainhain zu untertunneln und eine Rennstrecke wie eine überdimensionale Carrera-Bahn mit Science-Fiction-Dekor zu meiner Unterhaltung einzurichten.
Ich förderte meine Abrichtung. Ich ließ mich dressieren und gab manche Drolligkeit als Zugabe. Nur so konnte ich Nähe ergattern, hieß es denn: So ein liebes Kind hat man selten. Das liebe Kind wurde fett. Es lernte Schlager auswendig, die in ersten und vierten Radioprogrammen zur Untermalung des Zuhöreralltags über den Äther gingen. Das Radio war eine Amme in der Isolation. Es weckte ein altkluges Interesse an Themen, die meinen Horizont überstiegen. Ich verfolgte Debatten im Landtag, deren Verbreitung im Radio noch zum öffentlich-rechtlichen Selbstverständnis gehörte.
Erotisches Junkfood
Ich erzähle kurz die Familiengeschichte meiner Schwägerin. Bevor sie mit Levan zusammenkam, hatten auch Nina und ich unser verlängertes Wochenende der Liebe. Oder, wie soll man das nennen?
Es war unvermeidlich, wie so vieles, von dem man als junger Mensch glaubt, es wäre persönlich. Sex dient der Evaluierung auf einem Orientierungsparcours. Das auf Taille geschnittene Jäckchen über dem Glockenrock. Der neckische Zopf. Dieses Ding zwischen niedlich und verrucht. Das breite Kreuz. Der Autoschlüssel. Die Redundanz des Vitalen … evolutionäre Ladenhüter und Evergreens … erotisches Junkfood. Entscheidend ist doch, was passiert, wenn man sich eine Woche lang nicht die Haare gewaschen hat. Wie gut kann man sich nach zehn gemeinsamen Stunden im Auto noch riechen. Wie sehr kann man sich dann noch leiden, beziehungsweise wie sehr leidet man dann.
Es war so schön mit Nina wie mit anderen auch. Ich verstehe das erst heute richtig. Ich war ein Fabrikantensohn, nicht so lasch wie viele aus dieser Abteilung, eins fünfundachtzig, fünfundsiebzig Kilo, fit, umgänglich, solvent. Kein Aufschneider. Kein Trauerkloß.
Die letzten Kriegsjahre hatte Ninas Oma Emma mit drei Kindern im Haus ihrer Mutter überlebt. Ausgebombte Verwandte verdrängten sie und schoben sie in eine Friedhofsbaracke ab. Ninas Urgroßmutter behielten sie aber als Geisel. Vermutlich verzehrten die Usurpatoren die Ahnenrente.
Ninas Opa Viktor verstand die Befreiung von 1945 als Zusammenbruch. Nach dem Krieg erfüllte er Aufgaben eines Führers. Sein Organisationstalent befähigte ihn zu unternehmerischen Großtaten. Viktor nahm das Wirtschaftswunder mit einer Armada von sieben Lastwagen und einem Volkswagen für die Sonntagsausflüge vorweg. Er war der fünftgrößte Spediteur in ... Sonntagsausflüge im eigenen Personenkraftwagen waren so exklusiv wie Italienurlaube. Viktor setzte alles daran, reich zu werden und nicht bloß wohlhabend zu bleiben. Es gab für ihn keinen stärkeren Beweis der Überlegenheit als Reichtum. An dieser Stelle erzielte er volle Übereinstimmung mit meinem Opa. Dede (türkisch) respektierte Ninas Opa. Das war mehr als außergewöhnlich. Ich glaube, Opa erkannte in Viktor einen Soul Brother und Zauberkollegen. Am vorläufigen Ende einer Rückschau nicht nur auf Viktors Leben, sondern auch auf das Leben meines Opas und meines eigenen Lebens, wird mir klar, dass es für einen Zauberer keine adäquatere Beschäftigung gibt als eine unternehmerische. Egoismus und Potenz gehören dazu. Ich kann mir einen Zauberer mit Potenzstörungen nicht vorstellen.
Zu einer Zeit, als Straßensperren der Besatzungsmächte den Verkehr störten, widerfuhr Viktor ein seltenes Unglück, das deshalb als Schicksalswink mit dem Zaunpfahl empfunden wurde. Eines Tages blieben drei Fahrzeuge seiner Spedition unterwegs liegen. Die Verhältnisse waren noch so, dass man ungebremst verschüttgehen konnte und nicht jeder, der weg war, gleich für verschollen galt. Deutschland war zerschlagen, in ländlichen Gegenden traf man manchmal tagelang auf keinen Inhaber eines Telefonanschlusses. Ein Fahrer meldete sich erst nach Ablauf einer Woche aus der tiefen Pfalz. Er hatte die erste Gelegenheit für ein Lebenszeichen genutzt. Viktor verlor das Vertrauen ins Fuhrgeschäft.
Die orientalische Lösung
Ich komme noch mal auf die Familiengeschichte meiner Schwägerin Nina zurück. Siehe „Erotisches Junkfood“. Eines Tages blieben drei Fahrzeuge des Speditionsbetriebs ihres Opas Viktor auf irgendwelchen Strecken liegen. Viktor verlor nach dem Desaster das Vertrauen ins Fuhrgeschäft. Es lag kein Segen auf dem Speditionswesen, fand er. Ich bin sicher, wäre seinem Organisationstalent auf dem Fuhrhof weiter Raum gegeben worden, Viktor hätte die Konkurrenz ausgestochen. Das aber, wozu er sich, erschüttert von Verlusten aus heiterem Himmel, veranlasst sah, lag ihm nicht. Er vergrößerte sein Unglück, indem er in unserem Landkreis Flurstücke kaufte - in einem Winkel der jungen Republik, der heute noch wie beiseitegeschoben daliegt in seinem osthessischen Knick.
Zu seinen Erinnerungsschätzen zählte die Geschichte vom Eichhörnchen, dass ein Onkel für ihn gefangen und in einen Käfig gesetzt hatte. Kein anderes Kind hatte ein Eichhörnchen als Haustier gehabt. In der Umgebung dieser Exklusivität vermutete ich Respekt vor den Bedürfnissen eines Kindes und eine Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft war und als Kampfmittel eingesetzt wurde.
Viktor bewahrte seinen Vorfahren ein ehrendes Andenken. Sie waren im 19. Jahrhundert von den Höhenzügen des Pfälzerwaldes nach Pirmasens herabgestiegen und in der ehemaligen Garnisonsstadt von der Industrialisierung erfasst worden. Töchter und Söhne folgten Müttern und Vätern in Fabriken, deren Portale an Paläste erinnerten. Hinter der Fassadenpracht herrschte ein harsches Regiment. Die Produktionsstätten gehörten Nachkommen von Soldaten. Ein knapp bemessener Sold zwang die Gründergeneration zum Nebenerwerb als Billig-Sauter, Flickschuster, Holzschuh- und Altmacher. Der Volksmund nannte sie Schlabbeflicker. Ihre aus Uniformfetzen gefertigten Schlabbe wurden von herumziehenden Händlerinnen unter die Leute gebracht.
Diese Notlösungen hatten zu einer Konzentration geführt, die der Schuhmetropole Pirmasens bis in die 1960er Jahre Vollbeschäftigung garantierte. Nachdem Viktor den Fuhrhof aufgegeben hatte, begann er, Pfälzer Magnaten zuzuarbeiten. Er produzierte für Neuffer, Rheinberger, Semler und Kaiser Holzabsätze. Holz war ein preiswerter Rohstoff. Aus den Wäldern geschlagene Eichen wurden geflößt. Flößer gingen weit und breit der gefährlichsten Beschäftigung nach. Man hielt sie für verwegen. Opfer von Berufsunfällen fielen aber auch im Heer der Kriegsversehrten nicht auf.
Kurz gesagt, der Schuhbodenkomponenten-Produzent Viktor war weit und breit Opas einziger Konkurrent. War es türkisch, georgisch oder lasisch, dass mein aus der türkischen Schwarzmeerregion (Karadeniz Bölgesi) eingewanderter Opa ein stabiles Bündnis mit dem Gegner anstrebte? Jedenfalls ermutigte er seine Enkel, Viktors Enkelin Nina zu freien. Nennen wir es eine orientalische Lösung.
Manche waren zuerst in Istanbul aufgeschlagen und auf diesem Umweg nach Deutschland gekommen. In den Verkleidungen der Assimilation waren sie heraufgebeten worden zu diesem zweifelhaften Friseurwissen, einem Vermutungswissen aus liegengebliebenen Zeitungen.
Dreifaltige Hölle
Opa schickte sich und seine Nächsten in die dreifaltige Hölle von Verleugnung, Verachtung und Verdrängung. Er trat jedem auf die Füße, der sie nicht schnell genug wegzog. Nachbarn überzog er mit Prozessen, schäumend vor Selbstgerechtigkeit. Er liebte juristische Winkelzüge. Seine Rechtshändel lenkten eine Neigung zur Tobsucht in geordnete Bahnen.
Der Kampf ging weiter, die Motoren des Krieges waren Aufstiegsmotoren. Opa hatte als türkischer Artillerist am Koreakrieg teilgenommen, auch das ist eine verschwiegene Geschichte, genauso wie die massenhafte Migration, sprich Autonomie von Türkinnen in den 1960er Jahren unter den Vorzeichen des Laizismus und Kemalismus. Ihre Freiheit feierten die Frauen auf einem Kontinent aus Arbeit in Übergangsheimen. Atatürk hatte die Türkei Europa entgegen gedreht, die Frauen war Patentöchter seiner Ideen. Die Religion war eine Dorfschuld, andere mochten sie im Geburtsland abtragen. Manche waren zuerst in Istanbul aufgeschlagen und auf diesem Umweg nach Deutschland gekommen. In den Verkleidungen der Assimilation waren sie heraufgebeten worden zu diesem zweifelhaften Friseurwissen, einem Vermutungswissen aus liegengebliebenen Zeitungen. Sie hatten noch nicht einmal eine Vermutung von sich. Alles, was sie annahmen, zersetzte sich in einem Säurebad widersprüchlicher Informationen. Sie klammerten sich an das Türkisch-sein, mit dem Gefühl, sogar ihren Atem kaufen zu müssen mit irgendeiner Kniefälligkeit. Es gab sie nur als Mägde. Und doch transferierte Istanbul Selbstbestimmungswissen auf ihr Konto. In Deutschland funktionierte das Programm noch besser. Die Ledigen in den Übergangsheimen bekochten sich wie Schwestern. Da war nichts Großes und selbst das Kleine war noch zu groß für jedes bekanntes Wort. Die Frauen beschwiegen ihr Erleben, wenn sie montagmorgens mit der letzten Kraft ihrer Jugend in die Fabrik einrückten und die Erschöpfungspausen auf dem Klo verlängerten. Bis wieder Freitag war, und sie sich mit von Gelegenheiten geschulten Männern trafen. In den betrügerischen Männerherzen war für besonders kein Platz. Keine Aussicht auf eine Ehe, aber das fistik kiz-Kapital, die Mädchenrendite, schon verbraucht. Schließlich reisten die Frauen zurück, die Sechzigerjahre als Schundroman im Koffer. Ein türkischer Mann musste her.
Opa hatte sich am Feldgeschütz von Herkunftsbeschränkungen emanzipiert. Informationen, die nur er beim Universum abrufen konnte, hatten ihn zu einem legendären Richtschützen gemacht und vor dem Tod bewahrt. Nun führten sie ihm dem Reichtum zu. Damit verband er den Brutalismus aus dem Donald-Duck-Kosmos. Opa wollte im Geld schwimmen.
Informationen aus dem Universum ließen ein Kind armer Leute am Wirtschaftswunder teilhaben. Opas Herkunftsfamiliengeschichte unterschied sich nicht grundsätzlich von den Lebensläufen anderer Arbeitsmigranten, die in der Spätzeit der Adenauerrestauration im Zuge der Anwerbeabkommen nach Westdeutschland gekommen waren. Aber der gelernte Schuhmacher war sofort eigene Wege gegangen. In einem unterbelichteten Winkel der Republik hatte Opa, direkt an der Zonengrenze, in einem Schuppen seine Holzabsatzproduktion gestartet.
Sieg der Vernunft
In seinem Herrschaftssitz ließ Opa Marmor verlegen und Buntglassteine vermauern. Der Salon spiegelte die Gemütlichkeit der Zeit. Schöner Wohnen war noch nicht erfunden. Wohnen war eine ernste Angelegenheit. Kalendersprüche klärten auf. Mein Zuhause ist meine Burg. Dem Hausherrn kamen königliche Rechte zu. Die Pantoffeln wurden gebracht.
Die Allmacht des alten Zauberers trieb das Leben in seinen privaten vier Wänden auf die Zehenspitzen. Im Herrenzimmer konnte er die Tür hinter sich zu machen, ohne mit Störungen rechnen zu müssen. Das war Luxus für einen Mann aus dem Volk. Ohne Notenkenntnisse spielte er auf einer Hammondorgel Phantasiemelodien, die sich harmonisch fügten. Ein Kelim wurde für mich zum Spielfeld. Musste Opa aufs Klo, zupfte ich subversiv am Teppich herum. Heute erkläre ich mir das mit einer heimlichen Neigung zur exorzistischen Revanche. Unter lauter Magiern ist jede unerkannte Überschreitung ein Triumph der Vernunft.
Außer Babaanne (Oma mütterlicherseits), die im Takt der Bedürfnisse ihres Mannes atmete, hatte keiner ein selbstverständliches Eintrittsrecht in Opas Reich. Man klopfte und wurde hereingerufen. Manchmal morgens um drei zum Rapport. Dann donnerte Großvater das Haus zusammen wegen irgendeiner schief gelaufenen Sache. Er machte den Sohn zur Schnecke und zwang die Schwiegertochter in die Duldungsstarre. Mutter erholte sich schnell von jedem Vorwurf ihres Schwiegervaters. Sie widerstand, ohne zu widersprechen. Das Gespräch der beiden hatte einen eigenen Ton, den man noch vernahm, wenn der alte Zauberer außer sich war. Manchmal brauchte er drei Tage, um sich von einem Exzess zu erholen. Das waren drei Tage, in denen er nicht im Zauberkasten auftauchte.
Zauberkasten ist mein Wort für die Fabrik, die Opa einst auf einer struppigen Wiese dicht an der Zonengrenze aus dem Boden stampfte.
Mutter wirkte nach einem Anschiss nicht angegriffener als sonst. Sie erfüllte ihre Pflichten. Beflügelt versah sie ihren Dienst. Sie war die heimliche Herrin jenes Reichs, das Opa für sich geschaffen hatte. Sie empfing ihn, wenn er wieder ansprechbar war, wie einen König, der heimkehrt. Ich glaube, sie wusste es in jedem Fall vorher. Jedenfalls traf er sie stets besonders geschmückt und aufgeräumt an ihrem Platz. Sie köderte ihn mit einer orientalischen Süßigkeit. Opa schwor auf Lokum, einem Gemisch aus Zucker und Stärke und - je nachdem - mit Granatapfelsaft oder Rosenwasser.
Orientalische Lösung
Ich komme noch mal auf die Familiengeschichte meiner Schwägerin Nina zurück. Siehe Erotisches Junkfood. Eines Tages blieben drei Fahrzeuge des Speditionsbetriebs ihres Opas Viktor auf irgendwelchen Landstraßen liegen. Viktor verlor nach dem Desaster das Vertrauen ins Fuhrgeschäft. Es lag kein Segen auf dem Speditionswesen, fand er plötzlich. Ich bin sicher, wäre seinem Organisationstalent auf dem Fuhrhof weiter Raum gegeben worden, Viktor hätte die Konkurrenz ausgestochen. Das aber, wozu er sich, erschüttert von Verlusten aus heiterem Himmel, veranlasst sah, lag ihm nicht. Er vergrößerte sein Unglück, indem er in unserem Landkreis Flurstücke kaufte - in einem Winkel der jungen Republik, der heute noch wie beiseitegeschoben daliegt in seinem osthessischen Knick.
Zu seinen Erinnerungsschätzen zählte die Geschichte vom Eichhörnchen, dass ein Onkel für ihn gefangen und in einen Käfig gesetzt hatte. Kein anderes Kind hatte ein Eichhörnchen als Haustier gehabt. In der Umgebung dieser Exklusivität vermutete ich Respekt vor den Bedürfnissen eines Kindes und eine Liebe, die nicht an Bedingungen geknüpft war und als Druckmittel eingesetzt wurde.
Viktor bewahrte seinen Vorfahren ein ehrendes Andenken. Sie waren im 19. Jahrhundert von den Höhenzügen des Pfälzerwaldes nach Pirmasens herabgestiegen und in der ehemaligen Garnisonsstadt von der Industrialisierung erfasst worden. Töchter und Söhne folgten Müttern und Vätern in Fabriken, deren Portale an Paläste erinnerten. Hinter der Fassadenpracht herrschte ein harsches Regiment. Die Produktionsstätten gehörten Nachkommen von Soldaten. Ein knapp bemessener Sold hatte die Gründergeneration zum Nebenerwerb als Billig-Sauter, Flickschuster, Holzschuh- und Altmacher gezwungen. Der Volksmund nannte sie Schlabbeflicker. Ihre aus Uniformfetzen gefertigten Schlabbe waren von herumziehenden Händlerinnen unter die Leute gebracht worden. Solche Notlösungen hatten zu einer Konzentration geführt, die der Schuhmetropole Pirmasens bis in die 1960er Jahre Vollbeschäftigung garantierte. Nachdem Viktor das Fuhrgeschäft eingestellt hatte, begann er, Pfälzer Magnaten zuzuarbeiten. Er produzierte für Neuffer, Rheinberger, Semler und Kaiser Holzabsätze. Holz war ein preiswerter Rohstoff. Aus den Wäldern geschlagene Eichen wurden geflößt. Flößer gingen weit und breit der gefährlichsten Beschäftigung nach. Man hielt sie für verwegen. Opfer von Berufsunfällen fielen aber auch im Heer der Kriegsversehrten nicht auf.
Kurz gesagt, der Schuhbodenkomponenten-Produzent Viktor war weit und breit Opas einziger Konkurrent. War es türkisch, georgisch oder lasisch, dass mein aus der türkischen Schwarzmeerregion (Karadeniz Bölgesi) eingewanderter Opa ein stabiles Bündnis mit dem Gegner anstrebte? Jedenfalls ermutigte er seine Enkel, Viktors Enkelin Nina zu freien. Nennen wir es eine orientalische Lösung.
Missachtete Feinstofflichkeit
Oft schrieb Opa sein Überleben in dieser und jener kniffligen Lage einem sechsten Sinn zu. Das war eine interessante Untertreibung. Wahrscheinlich überlebte Opa mit der Ruchlosigkeit des Überzeugungstäters hinter einem Schild der unsichtbaren Selbstbezogenheit. Es gelingt mir, den Schild für magisch zu halten, so wie Opa sein Überleben in Abhängigkeit von einer höheren Macht begreifen konnte. In anderen Schilderungen war das Überleben aber Ausdruck des freien Willens, den wir angeblich alle haben.
Opa warf mit Wurst und Käse, wenn ihm die Sachen nicht gut im Sinne von gesund und auch für einen Übersensiblen bekömmlich zu sein schienen. Er kreierte Zerwürfnisse, wann immer er seine Feinstofflichkeit missachtet fand. Mich beeindruckten die einfachen Wörter, mit denen er das Höchste ansprach. Großvater redete über das Universum wie ein Bauer über seinen Acker. Er lehrte mich eine Freiheit des Denkens und Fühlens, weit weg von allen Phrasen und jedem Abrakadabra.
Ich weiß, dass ich Ihnen jetzt etwas zumute, dass kein vernünftiger Mensch gelten lassen kann. Ich tue es trotzdem, nach einer Bedenkzeit von drei Tagen. Ich möchte so gern, dass Sie mich weiterhin für einen zurechnungsfähigen Verkehrsteilnehmer halten. Vorab gebe ich zu bedenken: Ich bin ein seit Jahrzehnten fest im Sattel sitzender mittelständischer Unternehmer. Zurzeit beschäftige ich 107 Angestellte. Darüber reden wir noch. Zu meiner Basis: Nach der Mittleren Reife habe ich Werkzeugmacher gelernt und Anfang der 1990er Jahre den elterlichen respektive großelterlichen Betrieb übernommen. Hervorheben möchte ich die neun Patente, die ich angemeldet habe. Wenn Sie mich also zwischen Rosenquarzen sitzen sehen oder ich Ihnen mit der Wünschelrute begegne, dann bedenken Sie bitte, dass von mir viele Menschen nicht zu ihrem Nachteil abhängig sind.
In Opas Aura sah ich zum ersten Mal erdgebundene Seelen, die nicht auf die andere Seite können und auf der Erde wie in einem Käfig festsitzen. Sie begreifen ihre Lage nicht. Sie wähnen sich noch unter den Lebenden. Sie ernähren sich von allem, was wir als unangenehm empfinden. Sie leben von Angst. Oft gehen sie einem Kind nach und erschrecken es. Mitunter erscheinen sie als weiße Schatten und hindern das heimgesuchte Kind am Einschlafen. Als Kind konnte ich solche Besucher sehen. Zwei meiner Töchter sahen sie auch bis zu ihrem siebten Lebensjahr.
Ich sah auch Dämonen. Wir zeugen sie selbst in Verdichtungen negativer Energie. Sie saugen Gier, Habsucht und Macht auf.
Loblied auf die Freiwilligkeit
Auf dem Grund einer Tiefkühltruhe, die ich 2005 vor ihrer Verschrottung enteiste, lagerten Erdbeeren, die 1971 unter Koteletts von 1980 und einem Beutel mit Geschmeide eingefroren worden waren. Meine Eltern konnten nichts wegschmeißen. Es wurde alles verarbeitet und aufgehoben. So entstanden Saftflaschenkolonien, auf die der Staub von Jahrzehnten sank.
Die Truhe war ein berstender Eisklotz. Mir ging die Bedeutung des Wortes Gefrierbrand auf.
Jeder Dampfkochtopf oder Einkochautomat aus der Großelternära bezeugt mit seiner brüchig gewordenen Kunststoffbeschichtung eine Hoffnung auf Vermehrung von Geld auf den Schleichwegen des Nebenerwerbs. Man handelte unternehmerisch, selbst wenn nur Kronkorken auf Flaschenhälsen angebracht wurden.
Ich erinnere mich an Obstorgien in den 1970er Jahren - Erdbeerernten mit der Schubkarre. Viel Zeug verschwand im Luftschutzbunker auf Brettern aus unbehandeltem Kiefernholz. Die Regale sollten im nuklearen Winter verheizt werden, nach dem Verzehr der letzten Konserve. Einrichtungsentscheidungen folgten Multifunktionsüberlegungen.
Die Wasserversorgung des Zauberkastens (mein Wort für den Maschinenraum der Fabrik) ging vom Bunker aus. Der Stahlbetonmantel war so massiv wie nichts zuvor, was jener Abbruchunternehmer aufzustemmen hatte, dem ich die Aufgabe übertrug. Es gab eine gewölbte Luftschutztür mit Drehkreuz. Alternativ konnte man sich ins Freie schaufeln.
Die Angst, lebendig begraben zu werden, saß tief. Opa empfand gleichermaßen apokalyptisch und martialisch. Die Gespenster seiner Albträume trieben ihn zu Vorsichtsmaßnahmen. Der Wunsch, unter allen Umständen zu überleben, wirkte sich auf die Architektur aus. Überall gab es Notausgänge und für jeden Notfall einen Katastrophenplan. Nicht zu schrecken, schien Opa die Vorstellung, als einziger übrigzubleiben. Ich frage mich, wie er sich die Welt dachte, in der außer ihm alles tot war. Eine Existenz ohne Gegenüber.
Neben dem Bunker steht eine Blockhaussauna. Inzwischen dient der Vorraum als Partyraum.
*
In Opas Geschichten triumphierte die Freiwilligkeit. Sie wurde mir eingebläut, vielleicht weil sich darin der Unternehmer vom Lohnabhängigen klar unterscheidet - auch und gerade in der Variante vom Landser mit seinem „Leck mich“ als dem Arbeiter im Krieg. Opa impfte mich mit dem Stolz der Freiwilligen.
Arbeit als Ausrede
Oma siechte klaglos dahin, das herbeigesehnte Ende vollzog sich im Halbdunkel einer Kammer voller Gerüche, die ich für giftig hielt. Schließlich ging es nur noch darum: Wach zu sein mit Schmerzen, die leicht unerträglich wurden, oder unterzugehen im Medikamentenschlummer nah der Bewusstlosigkeit. In ihren letzten Tagen blühte sie noch einmal auf. Noch einmal löste sich eine maskenhafte Starre und ihre Züge erinnerten an die Farben eines dem rechtzeitigen Verzehr entzogenen Apfels.
Alle waren froh, wenn der Witwer zweimal im Jahr auf Gran Canaria sein Bein kurierte. Er hatte die Südküste der Insel vor ihrer touristischen Erschließung entdeckt und mit dem Kauf einer Wohnung am Playa del Inglés Weitsicht bewiesen. Der Strand gehört zu San Bartolomé de Tirajana und in einer weiträumigeren Betrachtung zu Meloneras - einem Epizentrum des deutschen Fernwehs und Ferienfiebers im Zeitalter der Düsenflugzeuge.
Opa verlangte viel Geld für ein Auto, als gerade wenig Geld da war. Die wirtschaftliche Lage der Firma interessierte ihn nicht mehr. Er fuhr auch nicht mehr. Er guckte nur noch von oben auf das Auto. Das waren Betrachtungen am Fenster einer Eigentumswohnung, deren Wert ständig stieg, während überall auf der Insel Betonburgen hochgezogen wurden.
Opa saß die Restzeit ohne Freude an seiner Weitsicht ab. Lediglich zum Sterben kam er nach Hause. Bis zum Schluss erwartete er von den Nachkommen Unterwerfung und Einsicht in ihre Unzulänglichkeit. Beim Streuselkuchen nach der Beerdigung sagt Vater: „Gut, dass er tot ist.“
Mutter resümierte: „Endlich.“
Vater tabuisierte die Wohnung der Toten. Am Tag von Opas Beerdigung drehte er zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss seiner Kindheit. Nach Vaters Beerdigung betrat ich ein Museum. Die Exponate waren eingesponnen, die Dinge schienen im Staub zu schlafen.
Mutter nahm zügig den Raum ein, den ihr Schwiegervater auch in seiner Abwesenheit noch besetzt gehalten hatte. Sie strebte im Betrieb die Weltherrschaft an. Sie entmündigte und knechtete ihren Mann. Widerspruch machte sie krank. Jeden Angriff wehrte sie mit einem Kollaps ab.
Ein Vierteljahrhundert hatte Vater keinen Urlaub gemacht. Erst nach Opas Tod fing er an, eigenen Bedürfnissen zu folgen. Immer wieder verkroch er sich in der Ferienwohnung, ohne auch nur einen Stuhl auszutauschen. Er kaufte Mutter eine Wohnung im selben Haus.
Die Linien zwischen Arbeit und Leben waren unsichtbar. „Hoch die Hände, Wochenende.“ Das gab es nicht. Vater sagte: Ich arbeite nicht, um zu leben. Ich lebe, um zu arbeiten. Eine Klingel rief ihn. Er bestand darauf, bei jeder Kleinigkeit gefragt und zumindest beratend tätig zu werden. In der Regel packte er gleich mit an und stand schließlich allein da.
Vater wählte Arbeit als Ausrede, obwohl er gar keine Ausrede brauchte. Niemand interessierte sich für seine seelische Verkümmerung. Vaters Strategien erschöpften sich in unbeachteten Akten der Vermeidung. Er war die Bedürfnislosigkeit in Person. Als Dulder erschien er manchmal noch unerträglicher als seine cholerischen Gegenspieler. Er lieferte Stillleben der Resignation und versteinerte als Denkmal der Entsagung.
Handarbeit als Herzensangelegenheit
Das Leben war eine Repräsentationsleistung in den Augen meiner Mutter. Romantische Gefühle wurden von ihr als Erfindungen der Gazetten abgetan. Die Ehe und der Betrieb waren Domänen der Pflichterfüllung. Die Haltung bewies den Charakter. Es ging darum, die Folgen falscher Entscheidungen nicht ins Kraut schießen zu lassen.
Kehrte Mutter nach einer Kampfpause zu ihrer angestammten Rolle als Gegnerin ihres Mannes zurück, schnallte sie sich in den Harnisch des Selbstverständlichen. Fünfzehn Stunden in der Aluminiumgießerei die Hitze und den Sauerstoffmangel zu ertragen war eine Selbstverständlichkeit, die sie nicht aushalten musste. Sie sah gern - mit mir an ihrer Seite - Elizabeth Arden zu, wie die Unternehmerin in antiken TV-Reklame-Spots vorgeblich ihre Kosmetik im Tiegel selbst anrührte. Die Suggestion von Handarbeit als Herzensangelegenheit sprach uns beide an.
Die Erwartung ist das Einfallstor der Unzufriedenheit. Vater ließ das Tor ins Schloss fallen und sicherte es mit einem Riegel der Erwartungslosigkeit. Er wirkte ausgeglichen und erschien den Leuten angenehm. Dabei verachtete er sie und traute ihnen nichts zu. Getan ist nur, was du selbst getan hast. Er tarnte seine Verachtung mit Freundlichkeit. Er bürdete sich ein mörderisches Arbeitspensum auf und beschritt ansonsten den Weg des geringsten Widerstands.
In Opas Todesjahr zog Mutter den ersten Kontrakt mit einer polnischen Devisenbeschaffungsgesellschaft an Land, die sich als staatliches Unternehmen tarnte, sich in Düsseldorf eine feudal eingerichtete Filiale auf zwei Stockwerken leistete und alle sechs Monate das für unseren Betrieb jahrelang wichtigste Abkommen neu verhandelte. Mutter reiste allein nach Düsseldorf und erwehrte sich der Wodkaattacken mit Trinkfestigkeit. Sie trank die Polen unter den Tisch. Das ist verbürgt. Morgens um vier zeigte sie sich noch unterschriftsfähig.
Das passte natürlich überhaupt nicht in das traditionelle Rollenverständnis im Rahmen einer türkisch-lasischen Sozialisation. Es ging darum, dass es jemand tun musste, und mein Vater sich außerstande sah, durchsetzungsfähigen Persönlichkeiten die Stirn zu bieten. Ihn hatte Opas Machthunger ausgezehrt. Niemand würde so etwas je zugeben, aber wir waren gewiss nicht die einzige unternehmerisch erfolgreiche Gastarbeiterfamilie mit einer Frontfrau.
Mutters hingerissenen Vertragspartner verewigten ihre Trinkfestigkeit in einem Lied. Im Gegenzug garantierte Mutter den Funktionären festliche Wochenenden in einem Fünfsternehotel. Sie stellte für ihre Cashcow eine fürstliche Bewirtung sicher. Die Familie spielte mit. Der Gatte und die Kinder traten wie Komparsen in einer Operette auf. Familie gehört in Polen wie überall in Osteuropa zum Geschäft. Osteuropäer interessiert der Hintergrund ihrer Geschäftspartner. Sie erkundigen sich nach der Familie, um zu erfahren, ob der Andere zurzeit auf der Höhe seiner Intelligenz Entscheidungen treffen kann, oder abgelenkt wird von Dingen, die schwerer wiegen als das Geschäft.
Prisen der Zugehörigkeit
Wieder trifft mich die Einsicht, dass die allerengsten Beziehungen Einfallstore des Verrats sind. Ich muss mich vor denen am meisten schützen, denen ich am liebsten überhaupt nichts entgegensetzen möchte. Ich stelle den Wagen auf den Parkplatz vom Lüdersbacher Hof ab. Das Bewirtungsgeschäft ruht. Ich bin in diesem Lokal so gut wie daheim und bekäme meinen Cappuccino, notfalls auch koffeinfrei, jederzeit bei den Wirtsleuten im Wohnzimmer mit einem Keks serviert. Gern streiche ich die Prisen der Zugehörigkeit ein. Seit Vaters Tod erfüllt die Lüdersbacher Schlucht die Funktion des wissenden Zuhörers. Den Wald an den Hängen erlebe ich als Resonanzkörper meiner Gedanken. Ich stelle Fragen in den Raum und finde Antworten bei mir. So erging es mir manchmal in Gesprächen mit dem Vater. Ich unterbreitete ihm meine Ideen. Der wissende Zuhörer beschränkte sich oft auf stille Teilhabe und am Ende waren wir beide klüger.
Ursprünglich gab der Lüdersbach sein Wasser an die Werra ab. Er ist nur noch ein Zulauf des Hauptgrabens, der seinen quellenlosen Anfang als stehendes Gewässer in einer Wiese hat. Lüdersbach heißt auch der Ortsteil von Kraichhain auf dem Höhenzugsattel des Hahnenkamms. Die Schlucht führt zu dem wurzelechten Hochmoor in der Klingenbacher Aue. Das Moor wächst weiter und hat sein eigenes Klima. Seine Verluste sind Gewinne des Klingenbachs, der nach einer Verschwisterung mit der Schmalnau zur Werra entwässert.
Kein Name, der nicht Geschichte transportiert. Klingenbach ist ein Landschaftsbegriff und der Name einer Burg. Ein ruiniertes Kolossal des 12. Jahrhunderts und ein Tal, das die Werra in Schiefer schnitt, heißen so. Ich beobachte Uferschnepfen, Waldwasserläufer und Grauwürger auf einem Moosbeet voll Sonnentau und Schwarzer Krähenbeere. Jahrhunderte bot sich die Gegend zur Sichtung von Wildkatzen an. Im Mittelalter scheiterte der Versuch einer agrarischen Nutzung. Nichts deutet auf ältere Eingriffe hin.
Die Aue gibt einer Sehnsucht das Recht und die Ruhe, die Welt so zu erfahren, als sei sie neu. Eine pietistische Täuferbewegung nahm von hier ihren Weg nach Amerika. Die Leute nannten sich Tunker, daraus wurde Dunker. Ihren religiösen Betrieb halten sie in Pennsylvanien aufrecht.
Ein Fadenmolch zeigt sich. In der Natur ist mein Empfang des Universums am besten. Ich bemerke einen Holzmonarchen auf der Moorbrücke.
Bodenständiger Visionär
Als ich Morgan Freilich zum ersten Mal traf, stand es so schlecht um Aleko-Schuh, dass ich den Zauberkasten (mein Wort für meine Schuhbodenkomponentenfabrik) schon beinah aufgegeben hatte. Mit meinem letzten Geld beteiligte ich mich an einem als Multi-Level-Marketing deklarierten Schneeballsystem. Ich sollte zehn Investoren werben und gewann keinen. Erfolgreichere kriegten einen Galaauftritt.
Ich absolvierte einen Motivationsabend, die Wünschelrute riet dazu. Stundenlang sah ich dem Glück anderer zu. Ich saß neben einem, dem es offensichtlich nicht besserging als mir. Er stellte sich als Spezialist für Telefonakquise und frisch gekündigter Marketingchef auf der Suche nach einer neuen Aufgabe vor. Nun wusste ich, warum ich der Langeweile einer fremden Leistungsschau getrotzt hatte.
Ich rettete den Betrieb mit meiner Bereitschaft zu unorthodoxen Lösungen. Morgan war der richtige Mann, als Aleko-Schuh sich neue Vertriebswege erschließen musste. Er weiß, wie man die Verkäuferbinse Wir bieten keine Produkte, sondern Erlebnisse im konservativen Marktgeschehen der Sanitätshäuser und des orthopädischen Schuhhandels zum Klingen bringt. Seine Kompetenz kommt aus dem Lustzentrum.
Sag mir drei Dinge, die du musst und trotzdem gern tust.
Morgan ist ein obsessiver Verkäufer. Ich brauche Leute, die ihre Leidenschaften mit Schuhbodenteilen zusammenbringen können. Bodenständige Visionäre. Aktivträumer voller Gier und Ungeduld.
Ich bin mit dem Glauben an eine Welt voller Hexen und Heiler groß geworden, unbeschadet einer rationalen Phase, die niemand besonders ernst nahm. Was für andere der schieren Vernunft entsprach, erschien in meiner Familie wahnhaft und unterbelichtet. Opa lehrte mich, auf verborgene Schwächen da zu achten, wo ein Brustkasten besonders stabil wirkte. Er fand welk und zimperlich, was andere gesund nannten. Er erkannte, wenn jemand mit einem Fluch belegt war und wusste Mittel dagegen.
Manche Erscheinungen, die aus der Dunkelheit meiner Kindheit auftauchten, nahm das Licht nicht weg. Ich sah den Tod zu Nachbarn und Lehrern kommen. Gegen das Vorwissen sträubte ich mich. Um Kollisionen zu vermeiden, wollte ich lediglich achtsam sein. Ich entging Razzien, Massenschlägereien, Auffahrunfällen und Erdrutschen um ein Haar. Wie durch ein Wunder würde ein Ungläubiger sagen. Ein Gespür, wann ich wo nicht sein sollte, leitete mich.
Totalitäre Transparenznorm
Unterbrochen von Grünstreifen, Waldinseln und Bächen, die zu Hochwasserzeiten aufrauschen, schließen strotzende Nutzflächen Kraichhain ein. Die Gemeinde versorgte in der fränkischen Reichsfrühzeit einen Fürstenhof. In einer Schreibstube der Merowinger setzte ein Mönch den Ortsnamen auf eine Urkunde, als erste überlieferte Erwähnung einer Siedlung, die damals schon lange bestand. Im 9. Jahrhundert fiel sie im Rahmen einer Schenkung an das Kloster Fulda.
*
Zum ersten Mal seit Wochen betrete ich wieder Opas Wohnung. Die 1970er Jahre sind darin eingefroren. Ich ziehe einen Finger durch den Staub auf dem Vertigo und die Erinnerungen stellen sich ein. Opa fing viel an und brachte vieles nicht zu Ende. Die Ritterburg, die er mir unfertig in den Garten stellte und die so blieb, während die winterharte Lebensbaumhecke ständig in Form gehalten wurde, fällt mir ein. Die Hecke steht starr vor einer Laubbläser-Lärmwand.
Paradies sei nur ein anderes Wort für Zaun, sagte mal jemand, der glaubte, als promovierter Weltmann mir haushoch überlegen zu sein. Ich habe nur Mittlere Reife und weiß nicht mehr, in welcher Sprache Paradies angeblich Zaun bedeutet.
Ich lebe in einem Paradies. Es ist unsichtbar für Fremde. Sie sehen Hallen, Maschinen und Menschen, die gemächlich ihrer Arbeit nachgehen. Vor den Türen stehen Autos und Fahrräder in einer friedvollen Szene.
Jeden Tag hält ein Kantinenersatzfahrzeug auf dem Hof, zur Versorgung der Belegschaft mit belegten Brötchen und Salaten. Das Verpflegungsangebot entspricht dem Lebensstil junger Produktionshelfer, die frei von jeder Schwerfälligkeit sind. Ihre Eltern kamen aus Kasachstan und anderen Notstandsgebieten mit der Idee nach Deutschland, schlimmer als in der Sowjetunion könne es für sie nirgends kommen.
Es kam schlimmer. Ingenieure, Lehrer und Bibliothekare erlitten in der neuen Heimat den totalen Statusverlust. Sie stabilisierten sich im Stolz auf jede Arbeit, die sie kriegen konnten. Ich beschäftige auch die erste Einwanderergeneration, die Mütter und Väter der Smarten. Jeden Morgen absolviere ich eine große Betriebsrunde und stelle mich den Fragen an den Chef. Okay, nominell bin ich nicht allein der Chef. Ich führe die Geschäfte im Kartell der Geschwister. Am Geschäft beteiligt sind meine Schwester Lika und ihr Mann Sasa sowie mein Bruder Levan und eben Nina. Manchmal beobachte ich bei Levan Bewegungsmuster, die ich von unserer Mutter kenne. Ich glaube, er macht das mit Absicht. Er hat was von dem „Psycho“-Muttermörder Norman Bates. Alle arbeiten gut mit, der Streit hält sich in Grenzen. Wir fahren zwar getrennt in Urlaub, essen aber gemeinsam zu Mittag in meiner Wohnung.
Ich habe im Zauberkasten einen totalitären Transparenzstandard durchgesetzt. Der Bürotrakt ist ein Glaskasten - eine kolossale Vitrine, in der man sich nicht verstecken kann. Wenn ich einen potenziellen Kunden zum ersten Mal empfange, beginnt die Arbeit im Konferenzraum. Meine Schwägerin Nina bietet ihm Kaffee und Wasser an. Bevor sie meinen Bruder heiratete, war sie Flugbegleiterin. Es macht ihr Spaß, Flughafenflair in unseren Außenposten der Zivilisation zu bringen.
Liebe & Frieden. Drei Tage voller Spaß und Musik. Das erste Woodstock der Weltgeschichte fand im 8. Jahrhundert an der Werra statt. Eine irische Gruppe um den Barden Kilian animierte Leute, die schon lange nicht mehr wussten, wer sie waren, aber zweifellos nach fränkischem Recht rechtlos waren, mit dem Kopf zuerst in den Fluss zu tauchen. Das war der Auftakt einer Reihe von Massentaufen in irischer Regie.
Das Uferrelief der Biber Bucht sieht wie ein Dschungelsaum am Amazonas aus. Alles wächst, wie es dem großen Gärtner in den Tropen gefällt. Schilf, Lilien, Wurzelstöcke, Stauden und Büsche verschlingen sich bis zur Verwirrung der Eindrücke. Ich steure einen Fluchtpunkt meiner Kindheit an. Ich war so sonderbar, dass mich Gleichaltrige nicht interessierten. Ich las Bravo, um mich über sie zu informieren. Ich reizte ihre Spottlust, wie jeder Außenseiter. Ich erwartete von Erwachsenen, dass sie mich vor Kindern in Schutz nahmen und als konservativen Finanzexperten respektierten.
Im Vorgriff auf die von mir strategisch angestrebte totale Freizeit verbringe ich den Vormittag auf dem Wasser. Bei niedrigem Wasserstand schießt Vegetation durch die Schlammdecke. Steht das Wasser hoch, reißt es das Ufer in Stücke. Ich befahre den Fluss wie der erste Mensch in einem Einbaum der Rosenheimer Faltbootwerft Klepper.
Ich beschränke mich auf Individualdisziplinen, nach einer Jugend ohne Sport. Ein Tennislehrer klärte mich auf. Nach ein paar Übungsstunden, in denen ich mir eingebildet hatte, eine einigermaßen gute Figur abzugeben, erklärte er, was bei mir alles nicht vorhanden war und was es heißt, in den prägenden Jahren nicht athletisch sozialisiert worden zu sein.
Seine Rede trieb mich kurz an den Rand meiner Zuversicht. Er war ein Wissender. Er hatte den richtigen Kontakt zum Universum und setzte seine Vorsprünge effektiv ein. Das hatte ihn einst in die Nähe von Boris Becker geführt, dem der Untergang nun ins Gesicht geschrieben steht. Das Gesicht ist zum Heulen. Die Kortisonbeulen verraten, dass es gegen Beckers Schmerzen kein Mittel gibt, das ihn nicht zum Junkie macht. Seine frühen Siege in Wimbledon scheinen jetzt viel mehr meine zu sein als seine. Ein gestürzter Gott kann sich auf nichts berufen.
Das Kajak steckt im Schilf der Bieber Bucht fest. Ein Schiefermassiv buckelt am Ufer. Auf einem hakenförmigen Sporn zerfallen die Mauern einer Burgruine.
Der Volksmund nennt den natürlichen Hafen Kilians Becken. Kilian war ein irischer Missionar. Er organisierte Massentaufen, die aufgrund heiß diskutierter Formfehler Wiederholungen nach sich zogen. Mit den Wiederholungen kritisierten schottische Missionare das Prozedere ihrer irischen Kollegen, die oft nicht gut Latein konnten und ihre eigenen Taufformeln hatten.
Vorgebliche Mönche lehrten kultische Reinheitsrituale zum Zweck der Selbstheilung. Sie verbreiteten ihre Druidenlektionen und Diätpläne unter christlichen Vorspiegelungen.
Hanna - Die Geschichte einer verpassten Beziehung
Ich habe Hanna eine Finanzspritze unter der Hand versprochen. Noch nicht einmal ihr Mann soll davon erfahren. Hanna spielte die Hauptrolle in einem Kurzfilm meines Lebens. Uns verbinden ein paar Fuldaer, Frankfurter und Offenbacher Diskonächte vor langer Zeit. Hanna suggeriert mir unterschwellig ihre Bereitschaft zur Wiederaufnahme der intimen Beziehung. Meine Ablehnung der Angebote ist nicht immer gleich überzeugend. Es steckt ein Stachel des Begehrens in meinem Fleisch, auch da, wo Instinkt und Vernunft mir einvernehmlich Einhalt gebieten. Zu meiner unternehmerischen Kernkompetenz rechne ich den kühlen Kopf gegenüber verführerischen Arbeiterinnen.
Hanna ist Produktionshelferin im Zauberkasten. Ich hole die vereinbarte Summe aus dem Tresor. Fünftausend Euro. Das gute Gefühl, Geld in der Hand zu halten, durchkreuzt ein Auftritt meines Bruders. Levan schwebt auf einer Medikamentenwolke und hält nur pro forma inne auf dem Weg zu unserem Akquise-Genie Morgan Freilich. (Zu Morgan bald mehr.) Ich lasse die Gelegenheit für eine kritische Bemerkung zu seiner Krawatte verstreichen. Vermutlich käme sie eh nicht an.
Auf dem Weg zu Hanna stelle ich mir vor, wie es wäre, in Kraichhain so zu stranden wie Sean Penn als Bobby Cooper in U-Turn. Du kommst als Fremder in ein Kaff und da findet jeder einen Grund, dir sein ausgelutschtes Misstrauen zu präsentieren, dich an einer Knarre schnuppern zu lassen und dir zumindest die Zeit zu stehlen. Zum Schluss drehst du am Rad und vermutest hinter jeder Ecke ein Übel.
Kraichhain ist bestimmt keine touristische Offenbarung. „Idyllisch herb“ trifft des Nagels Kopf. Ich weiß nicht mehr, wo ich diese Beschreibung aufgeschnappt habe, aber sie passt zu dem flüchtigen Blick im Vorübergehen. Kraichhain hat ein paar Pensionen für den Urlauber ohne besonderen Anspruch. Urlaub in der Heimat als Alternative zu Ferien auf dem Balkon.
Man schickt die Genügsamen zu bröckelnden Resten einer Mauer, die an der nördlichen Stadtgrenze einst einen Geländesporn befriedete. Vor dreitausend Jahren könnte die Spornspitze Tag und Nacht bemannt gewesen sein. In einem Schacht an der Mauer fand man Knochen und Flintspitzen. In der Eisenzeit verschanzten sich die Leute auf dem Ochsenkopf in einem Ringwall. Eine von Muschelkalk überdachte Basalt- und Tuffsteinformation gibt dem Areal seinen Charakter. Das trutzige Relief bietet sich als Fotomotiv an. An einer anderen Stelle hätte es gewiss magnetische Wirkung auf ein großes Publikum.
Mich interessiert Geschichte mehr als Psychologie. Ich habe keinen Tiefgang und komme mit wenigen Erklärungen aus. Romane sprechen mich nicht an. Die meisten Bücher, die zu lesen ich vermieden habe, wirkten auf mich wie Maulwurfhügel im Vergleich mit Filmen. Kino ist ein Himalaya der Information. Ich glaube, dass in jeder gelungenen Unterhaltung ein starker Vermittlungswille steckt. Autoren sind zu egomanisch, um sich in einem Zusammenschluss zu verbessern. Mich interessieren Industrien mit der Potenz, Einzelleistungen zu bündeln und die Gaben kleiner Genies in einen großen Topf zu werfen.
Motown, Holly- und Bollywood schaffen gigantische Projektionsgebiete menschlicher Sehnsüchte. Der Starkult liefert magische Erscheinungen in 3D, die wiederum magische Erscheinungen in viel mehr Dimensionen auslösen. Das ruft an und ab, was von Märchen und Mythen in Cinderella und in sämtlichen Sandalen-Western übriggeblieben ist. Für mich verlängert Hollywood den Himmel der Antike. Mir gefällt die Vorstellung, dass es da Abteilungen gibt, die nur damit beschäftigt sind, das kollektive Unbewusste auszuforschen und die Essenzen der in Jahrtausenden nicht widerrufenen Hauptthemen der Menschheit auszuschlachten.
Ich sehe einen Langzeitarbeitslosen, der es auch mal im Zauberkasten versucht hat. Untüchtige seines Schlages setzen ihre Arbeitskraft mit ihrem menschlichen Wert gleich und müssen deshalb gegen ihre Geringwertigkeit ständig ankämpfen. Der Kampf verlangt ihnen alles ab. Sie suchen einen Ausgleich in merkwürdigen Vergleichen und Behauptungen. Lange war die Bahnhofsgaststätte ihr Treffpunkt. Da gingen Tagelöhner Saisonarbeitsverhältnisse mit Bauern ein. Das rustikale Kneipendekor dient nun der Galerie Gerster als Kulisse.
Entzündete Existenzzahnhälse
Ich überreiche das Geld zur Begrüßung wie ein Bote. Hanna drückt mich an ihren wispernden Busen. Die Luft brennt. Hanna wohnt mit Tochter Katinka, Hund Leo und Gatte Clemens zur Miete in einer Bausünde an der Bahnhofsstraße. Die Familie ist in Kraichhain so aufgeschlagen, als wäre in Berlin kein Platz mehr gewesen. Sie hat nichts mitgebracht, was vor Ort zählt. Hanna fühlt sich trotz entzündeter Existenzzahnhälse großstädtisch überlegen. Das fasziniert mich. Die Dreißigjährige ist an einer Karriere als Ballerina vorbeigeschrammt. Der Körper verweigerte die Tortur. Seine Waffe war der Schmerz. Er zwang Hanna zur Aufgabe.
Hanna verbirgt ihre Schmerzen und das Leiden am Statusverlust nach Kräften. Regelmäßig nimmt die gescheiterte Ballerina sich frei, um als Jurorin in Ballettgremien zu wirken. Das sadistische Programm ihrer aktiven Zeit überträgt sie auf die weichen Ziele der nachgewachsenen Eleven. Schäfchen heißen sie in der Sprache ihrer Abrichtung. Hanna hat noch einen Sohn, der in ihrem Leben kaum vorkommt. Ihre in einem Hanauer Plattenbau in der Nachbarschaft trister Verlierer verwitterte Mutter versorgt den Enkel. Für den Jungen ist Hanna vor allem eine Stimme am Telefon, zu der er manchmal Mutti sagt.
Hanna zieht mich in den Garten. In meinem Kalender steht, ich sei in Frankfurt am Main auf Kaltakquise, keine Ahnung, was mich davon abhält, meinen Erfolgshunger zu stillen. Ich stelle mir Hanna und mich beim Guerilla Gardening auf einer großstädtischen Verkehrsinsel vor. Wir tragen Bandanas und Sonnenbrillen und sonst extrem wenig. Der Phantasierauchsäule droht die zügige Verflüchtigung. Ich erlebe einen Moment der stillen Verzweiflung. Die erotische Stehgreifgeschichte muss weitergehen. Sonst werden die Möglichkeiten, die ich Frankfurt gerade nicht nutze, zur Hirnqual.
Die Sprinkleranlagen in der Nachbarschaft springen gleichzeitig an. Hanna erzählt von ihren Nöten mitunter so anschaulich, sodass ich ihren Zustand wie unter einem Mikroskop erkenne. Die Gebärden der Sorge gleichen sich überall. Armut stellt sich aber in der Stadt anders dar als auf dem Land. Während der insolvente Städter die Hände in den Schoss legt, der Vorsorge entsagt und zum maulenden Zaungast wird, bleibt die ländliche Dürftigkeit tätig. Der verarmte Dorfbewohner lebt meist weiter im Eigentum. In meiner Gegend wohnt keiner zur Miete, mit dem man spricht.
Hannas Tochter Katinka fährt Roller auf dem Bürgersteig. Leo vibriert zu meinen Füßen. Das Gras steht hoch. Nachbarn nehmen für die Zugezogenen die Post an und besprechen die Absender mit den anderen Eingesessenen. Eingeladen fühlen darf sich die neue Familie trotzdem nicht. Es wird nicht einfach ein Werkzeug über den Zaun gereicht, obwohl alle wissen, was fehlt und was gemacht werden muss.
Hanna schlägt um sich wegen der Mücken.
„Wir brauchen eine neue Waschmaschine, meine schleudert nicht mehr vernünftig“, verkündet sie. Wir. Hanna war Studentin, als sie sich für Clemens entschied. Er zog zu ihr. Selbstverständlich war es ihre Maschine, in die er seine Wäsche stopfte. Clemens hatte keine Haushaltsgeräte. Damals kam Hanna manchmal ein schlechtes Gewissen an, wegen all der Dinge, die zu besitzen sie nötig fand. Im Gegensatz zu ihr war Clemens Asket. Hanna fand es erst einmal gut und entkrampfend, dass er ihr Auto nutzte, ohne zu fragen, und das Benzingeld aus der gemeinsamen Kasse nahm. Fast immer, wenn sie es brauchte, rückte Clemens das Auto heraus. Oft war der Tank gerade leer.
Erlaubter Mutwille
Ich zappele unbequem in einer Liegestuhlfalle. Ich würde Katinka übernehmen, sollte Hanna etwas zustoßen und Clemens erwartungsgemäß außerstande sein, das Richtige zu tun. Zu spät erkannte Hanna in Clemens den von Grund auf erschlafften Charakter, der sich überall hin nur mitnehmen lässt; einen Hanswurst. Seine Leichtfertigkeit legt er Hanna zur Last. Er überlässt ihr die Hausarbeit. Hat sie Tanz studiert, um sich als ihre eigene Magd vorzusagen: Mir geht es gut?
Der Supermarkt wartet an der nächsten Ecke. Die Nachbarn sind nett. Mir geht es gut. Clemens ist rücksichtslos, Kati launisch, mir geht es gut.
Clemens weiß, wie man sich aus dem Alltag stiehlt und als promovierter Spinner alle und alles an sich vorbeilaufen lässt. Noch verdient er Geld. Er sieht dem Ende einer Serie befristeter Arbeitsverhältnisse entgegen. Danach rechnet er mit schwankenden Einkünften. Seine Resignation erlebt Hanna als Realismus.
Clemens taucht auf und schämt sich offensichtlich für die Frau, die ihn geheiratet hat. Ich strampele mich aus der Stuhlstoffbahn und versorge den Buhmann mit Kaffee und Streuselkuchen wie ein Gastgeber. Es gibt eine Ebene der Betrachtung, auf der sehe ich mich tatsächlich als Gastgeber dieser unglücklichen Familie. Das trockene Gebäck käme bei mir daheim in die Tierfutterdose.
Clemens beziffert die Auslandsschulden von Ulan Bator auf sechs Milliarden Dollar. Leute, die kein Geld haben, neigen dazu, hohe Beträge anzuführen. Clemens macht eine gute Figur im Anzug. Man sieht ihm die Niete nicht an.
Am Zaun bekundet ein Nachbar bodenständiges Interesse. Er grunzt Rauchzeichen, für die er einen Stumpen unter Feuer hält. Er stößt die Gartentür auf, mit erlaubtem Mutwillen. Er steht da wie ein Eigentümer oder wie der Klempner. Seine Legitimation steht in jedem Fall außer Frage.
„Der Spinner“, presst Hanna hervor. Sie wendet sich dem Hund zu.
„Leo, kommst du?“
Leo hechelt hinter Hanna ins Haus. Der Zaungast dirigiert seinen Vortrag rechthaberisch mit dem Stumpen. Er beklagt das Los der Obstbäume. Ich überlasse Clemens dem Nachbarn und suche Hanna im Haus. Unerklärlicherweise erhöht Clemens‘ Nähe Hannas Reiz. Wir könnten einmal wieder zusammen in großstädtischer Ferne ins Kino gehen.
„Ist er nicht schrecklich?“, fragt Hanna. Mich hebt das Gefühl, von allen negativen Betrachtungen ausgeschlossen zu sein. Plötzlich sind wir beide in einem Sog.
„Nimm mich mit“, bittet sie. „Lass mich hier nicht verrotten.“
Ich taumle aus der Umarmung. Mich weht der hässliche Gedanke an, Hannas Pech könnte ansteckend sein. Sie lässt nicht ab von mir.
Selbstherrlicher Erzeuger
Am Ende des algerischen Unabhängigkeitskrieges standen die Pied-noirs vor der Wahl: Koffer oder Sarg.
Die ersten Kampfhandlungen waren kaum alarmierend. Ab und zu mal ein Schusswechsel oder eine Detonation weit weg. Ein Viertel verlor seine Durchlässigkeit. Die Topografie wurde abenteuerlich. Zwei bewegten sich nach den Spielregeln der Liebe aufeinander zu. Alima tarnte ihre innere Unabhängigkeit mit religiösen Symbolen. Sie emanzipierte sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es gab keinen Himmel für ihre Höhenflüge. Alles musste sich heimlich vollziehen. Wie dann auch der Abschied.
Auf Mykonos endete die Europareise erst einmal in einem Lager. Ein dänischer OneWorld-Aktivist schleuste Alima und Said in die Freiheit. Said bezeichnet den Helfer als Passeur – Fährmann. Er wäre lieber nach London gegangen, aber Alima wollte nach Deutschland.
Alima und Said sitzen in meinem Konferenzraum. Ich beschäftige die syrischen Akademiker als Produktionshelfer. Etwas anderes habe ich nicht für sie. Ab und zu verbringen wir eine Kaffeepause gemeinsam, zur Erweiterung meines Horizonts.
Alima und Said sind viel zu höflich, um mir meine Provinzialität vor Augen zu führen. Said ist in London zur Schule gegangen. Er liebt den englischen Nebel und die Zauberstimmungen keltischer Landschaften. Er hat schon früh alles für vorläufig zu halten gelernt. Ich flüchte vor meinen Allgemeinplätzen in die Rolle des guten Zuhörers. Wieviel angenehmer ich es fände, Alima und Said an anderen Stellen im Betrieb zu sehen.
Said wirkt auf mich nicht besonders unternehmungslustig. Alima ist die treibende Kraft. Sie prüft die Lage und guckt, was geht. Ich bemühe mich um einen weichen Übergang, in Anbetracht der Tatsache, dass Alima und Said weiterarbeiten müssen, während auf mich nach dem Mittagessen mein Kajak wartet. Für meine Vorgänger wäre soviel Freiheit das Grauen gewesen. Sie waren mit all ihrer Kraft Betriebsmotoren. Ohne sie lief alles falsch. Sie wirkten mit schierer Präsenz. Wenigstens mein Vater herrschte mit der Bereitschaft zum Verzicht und zur Selbstverausgabung. Die Selbstverleugnung ging bei ihm viel weiter als bei seinem selbstherrlichen Erzeuger.
Türkischer Mainstream
„Wiewohl Fleisch und Blut das göttliche Wesen nicht ergreifen kann, sondern der Geist, wenn er von Gott erleuchtet und angezündet wird, so man aber will von Gott reden, was Gott sei, so muss man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur, dazu die ganze Schöpfung, Himmel und Erden, sowohl Sternen und Elementa und die Kreaturen, so aus denselben sind herkommen, sowohl auch die heiligen Engel, Teufel und Menschen, auch Himmel und Hölle.“ Jacob Böhme (1575 - 1624), Schuster, Mystiker und Philosoph
Opa nahm göttliche Anrufe entgegen. Der alte Zauberer unternahm nichts ohne himmlische Rückversicherung. Die Wünschelrute verband ihn mit der Vorsehung. Gott war in seinem Leben gegenwärtiger als die Gattin (meine Babaanne). Gottvater kam gleich nach Großvater und unterstützte den Berserker.
Um das Bild einmal wieder scharfzustellen …
Ab und zu finde ich es angezeigt daran zu erinnern, dass ich keine Wirtschaftswundergeschichte erzähle, in der Nachkriegsdeutsche von jetzt auf gleich wieder obenauf waren. Opa kam aus der Türkei in diesen osthessischen Zipfel direkt an der Zonengrenze. Mit dem Gros türkischer Gastarbeiter verband ihn wenig. Er gehörte zur lasischen Minderheit und fühlte sich eher als Georgier, wenn auch auf eine substanzarme Weise. Das lasische Erbe war verschüttet und ungreifbar. Es existierte nur als leere Differenz. Die Andersartigkeit ergab sich im Trotz nicht zuletzt. Trotzdem war da was. Oma und Opa stammten aus einem Hotspot unserer Minorität an der Schwarzmeerküste. Familiennamen, Bräuche, Rituale und Redensarten beatmeten eine abweichende Tradition. Das war aber alles zu schwach im Verhältnis zum türkischen Mainstream, zu einem schäumenden Nationalismus und dem von Kemal Atatürk in einen kurzen Schlummer gewiegten Islam.
Jedenfalls setzte Opa in Deutschland nicht auf das Türkische, Lasische und Muslimische, sondern auf einen Kult, in dessen Zentrum er selbst stand. Er avancierte zum Hohepriester von eigenen Gnaden. Wäre das sein Limit gewesen, würde heute niemand mehr über ihn reden. Er hatte aber größere Spielräume. Opa erwarb eine Lizenz für die Produktion von Spannhülsen. Das war sein erster Coup und die erste unternehmerische Sternstunde im Zauberkasten. Er fuhr nach Pirmasens und holte Aufträge.
Solange es Frauen gefiel, auf hohen Absätzen zu balancieren, war der Hülsenmarkt ein Hort des Absatzes. Vaters erstes geschäftliches Waterloo vollzog sich zum Lied gleichen Namens. Abba gewann mit Waterloo den Grand Prix d’Eurovision 1974. Die Musiker trugen Schuhe mit Plateauabsätzen, die keine raffinierten Verstärkungen mehr brauchten. Sie lösten einen Trend aus, der die Spannhülse historisch werden ließ.
Verbales Achselzucken
Auf den Starschnitten der 1970er Jahre stehen alle Musiker auf massiven Sockelsohlen. Meine musikalische Sozialisation fand in den Achtzigern statt, doch meine Erinnerung an die knapp vermiedene Pleite von Aleko-Schuh nach dem Siegeszug der Plateausohlen unterliegt einem Soundtrack, zu dem Gary Glitter und Alice Cooper Beiträge liefern. Vater konterte den Blockabsatz mit der waschbaren Einlage und rettete so den Betrieb. Die Einlagen nötigten Vater zur Erschließung neuer Absatzwege. Er meldete sich bei orthopädischen Schuhmachermeistern und besuchte Sanitätshäuser. Als Aleko-Schuh wieder einmal vor der Pleite stand, kam die Rettung von dort. Ein bayrischer Meister Eder, der seine Nase zwanghaft in Angelegenheiten anderer Leute steckte, versuchte meinen Vater für einen Gesundheitsschuhbodenkomponentenbau zu erwärmen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Fachmann hatte begriffen, dass viel Handarbeit bei der Herstellung eines Gesundheitsschuhs keine Meisterqualifikation braucht und folglich der Schuh in verkappter Weise zu teuer produziert wird. Vater zeigte sich skeptisch, ihm waren die Margen zu gering. Aleko-Schuh war auf millionenfachen Ausstoß eingestellt, der Betrieb widerstand Umstellungen und Anpassungen im Kleinbereich. So wie man sich auf kein Dreirad mehr setzt, wenn man erst mal Fahrrad fahren kann. Ich witterte eine Chance, meine erste Marke abzusetzen und meinen Willen zur Macht dem Betriebsprofil einzuprägen. Ich unterbreitete Vater Vorschläge zur Erweiterung unserer Produktion. Der Konfliktscheue antwortete mit einem verbalen Achselzucken: „Wenn du nach der Arbeit noch genug Energie für ein Hobby hast, kannst du ab acht von mir aus experimentieren bis in die Puppen.“
Die Bemerkung sollte mich entmutigen. Ich nahm sie als Ermutigung. Ich verstand Vater nicht absichtlich falsch. Obwohl ich wusste, dass Hobby für ihn ein Schimpfwort war. Er verachtete das Freizeitverhalten anderer Selbständiger, die es genossen, nach einem harten Arbeitstag sich an der Bar des TCK mit Longdrinks abzudichten. Außer ihm begriff die Clubmitgliedschaft kein Mensch als Hobby. Tennis setzte wirtschaftliches Handeln mit anderen Mitteln fort. Die richtigen Leute trafen sich im Club und verbesserten ihre Skills im entspannten Wettbewerb. Tennis gehört in Kraichhain nach wie vor zu einer mittelständigen Existenz, genauso wie privater Musikunterricht für den Nachwuchs.
Seit dem Siegeszug der Leichtbauweise sah alles nach Hangar aus und so auch der TCK, in dem Vater jederzeit willkommen gewesen wäre. Er verkniff sich jedes Vergnügen. Den Verzicht tönte er mit Verachtung. „Wer braucht ein Hobby, wenn er Arbeit hat.“
Ich musste mich beweisen. Nach Feierabend verwandelte ich jeden Raum, den ich kriegen konnte, in ein Labor. Ich experimentierte auf der Basis genauer Vorzeichnungen. Der Schuhmeister hatte sich bis ins Detail in seinen Plan verliebt. Ich musste nur noch liefern. Vater half zuerst als wissender Zuhörer, der mich stundenlang Sackgassen pflastern ließ. Nie schrieb er mir einen Weg vor. Er hatte sich alles selbst beigebracht und hielt es stets für möglich, dass ich eine bessere Lösung finden würde als er.
Thermoplastischer Kautschuk
1990 übergab mir Vater das Handbuch der europäischen Schuhindustrie. Als Unternehmer war er zweimal eingebrochen. Er zog mich in die Verantwortung, als die europäische Schuhindustrie zum Schauplatz eines Massensterbens wurde. Wir erlebten einen Markt im Todeskampf. Unsere Partner in Osteuropa fielen reihenweise aus. Die planwirtschaftliche Vollbeschäftigung funktionierte von jetzt auf gleich nicht mehr.
So endete eine Erfolgsgeschichte. Mutter hatte in Opas Todesjahr den ersten Vertrag mit einem polnischen Staatsbetrieb abgeschlossen. Von da an belieferten wir einen Betrieb in der Oberschlesischen Industrieregion (polnisch Górnośląski Okręg Przemysłowy) mit thermoplastischem Kautschuk, der dem Kriegswaffenkontrollgesetz untelag. Die Sache war so heikel, dass sogar der Ausschuss versiegelt in den Westen geschafft werden musste.
Unser Partnerbetrieb hatte die Ausmaße einer Stadt. Seine Versorgungszentren wurden während der Arbeitszeiten genutzt, bis 1992 36.000 Arbeiter auf einen Schlag entlassen wurden. In den frühen 1990er Jahren liquidiert der Ostblock eine Industrie, die in erster Linie der Devisenbeschaffung gedient hatte.
Wir bekamen von den Verwerfungen erst einmal nichts mit. Wir lieferten noch Material in ein Katastrophengebiet, als es da schon keinen Mann mehr zum Einlagern gab. Der thermoplastische Kautschuk wurde abgekippt und verrottete auf einem stillgelegten Werksgelände.
Im Nachgang bewältigten 2500 Arbeiter im Pfälzer Wald das Pensum der 36.000 Kollektivisten. Keiner ging während seiner Arbeitszeit zum Friseur oder ließ sich auf Betriebskosten die Nägel machen oder umging die Engpässe einer Mangelwirtschaft im Kombinats-eigenen Supermarkt.
Der Fleiß nutzte nichts. Die Pfälzer verloren ihre Arbeitsplätze an Inder und Chinesen. Vor allem in Indien definierte man billig neu nach Grundsätzen von Sklavenhalter-Gesellschaften mit Kinder- und Heimarbeit ohne Arbeitsschutz und Sozialkosten. Ein Branchenriese bot mir die Verlegung von Aleko-Schuh nach Tamil Nadu an. Jede Menge europäische Markenhersteller lassen in dem indischen Bundesstaat produzieren.
Ich habe mir die Verhältnisse vor Ort angeguckt, die absolute Armut im Gestank von Gerbereien. Das ist nichts für mich. Ein Konkurrent ließ sich aufkaufen und als Geschäftsführer einsetzen. Der eingegliederte Betrieb ging in einer größeren Struktur auf und das mitgebrachte Wissen diffundierte in verschiedene Richtungen. Im Grunde war das eine Selbstenteignung.
Vulkanisches Wesen
Lange stand meine Familie in Kraichhain und Umgebung unter besonderer Beobachtung. Wir sprengten den Rahmen des Üblichen als Gastarbeiter, die es zu etwas gebracht haben in einem ländlichen Milieu - und als sektiererisch Gläubige mit verdächtigen Zusammenkünften. Opa zog eine Schleppe des Misstrauens hinter sich her. Sein vulkanisches Wesen erschütterte eine wie in Stein geschlagene Ordnung. Man rieb sich an dem alten Zauberer, der mit seinem Erfolg Fremde dazu einlud, Claims in einem Gebiet abzustecken, auf das lange nur eine Handvoll scharfzüngiger Ureinwohner Zugriff gehabt hatte.
Opa folgten einige In den Heilgarten, er aber war der erste Gründer. In Feldnischen nahe der ersten Fabrikbaracke kobolzten kolossal-bauchige Figuren. Meine Phantasie mischt sie mit prähistorischen Idolen, der Kunst von Fernando Botero und dem Michelin-Männchen. Der alte Zauberer behauptete, sie seien von Feinden der Familie aufgestellt worden. Die Feldnischen verschwanden in der öden Topografie eines Industrieparks. Der wie ein Aussiedlerhof in der Landschaft lange isolierte Zauberkasten verlor seine Einzigartigkeit. In der Nachbarschaft liegt keine freie Fläche mehr, die groß genug wäre, um ein Haus daraufzustellen.
Opa beschäftigte Sonderbare und Ausgestoßene. Ungelernte aus der Landwirtschaft. Schnapsbrenner und Fallensteller. Deformierte, die nie zuvor in einem ordentlichen Beschäftigungsverhältnis gestanden hatten, und im Goldenen Grund der Klingenbacher Aue zwischen Wildrosen und Schwalbenwurz wie Aussätzige vegetierten, fanden im Zauberkasten ein proletarisch-solides Auskommen. Sie unterlagen in einem Verdrängungswettbewerb mit anderen Einwanderern. Sieger sind im Mittelstand angekommene Arbeiter, deren Kinder studieren und so einen Anschluss herstellen zu den Bildungswegen ihrer Großeltern.
Zum Beispiel Michail. In der Sowjetunion war er mit titanischen Bauvorhaben befasst. Als Ingenieur und Spezialist für Katastrophenmanagement gab er sechzig Leuten Anweisungen. Jetzt erschöpft sich seine Führungsaufgabe im Verhältnis zu einer Maschine, die er beherrscht wie kein zweiter. Ich beschäftige Michail seit Jahrzehnten mit gleichbleibender Hochachtung. Kündigt sich bei ihm eine Erkältung an, legt er sie aufs Wochenende. In seiner Loyalität gegenüber Aleko-Schuh steckt aber auch Frustration. Michail ist ein Mann der Verantwortung, jemand, der sich auszeichnen will. Ich glaube, er bittet Gott täglich um neue Herausforderungen.
Besonderen Wert legen Michails Leute auf musikalische Bildung. Sie leben in Clanstrukturen und bewegen sich flockig zwischen Sprachen und Kulturen. Sie erscheinen offen, doch das sind sie nicht. Sie haben ihre eigene Spiritualität in einem parallel-gesellschaftlichen Rahmen. Ihre naturheilkundlich beschlagenen Heiler wirken auch als Streitschlichter. Viele praktizieren eine esoterische Bewegungslehre zwischen Gymnastik und Krafttraining.
Sein letzter Coup
Kurz vor seinem Tod landete Vater noch einen Coup. Bei unserer Hausbank machte er einen Millionenkredit locker, angeblich für einen Fabrikhallenneubau, den ich überdimensioniert fand.
„Warte es ab“, sagte Vater, „du wirst noch jeden Zentimeter brauchen.“
Er behielt Recht. Mit dem Geld schoben wir die neue Produktion an und bauten die Halle, deren vollständige Ausnutzung sich im nächsten Schritt ergab. Mein Engagement wendete eine Pleite ab.
Neuen Kunden stelle ich Aleko-Schuh „als verlängerte Werkbank des orthopädischen Schuhmachers“ vor. Ich spreche von einer „Rückkehr zur Manufaktur“. Wir haben uns so weit von den Anmutungen des klassischen Gesundheitsschuhs und den Assoziationen in seinem Umfeld entfernt, dass unsere Anteile am Produkt wie Sportartikel vermarktet werden können. Unser Portfolio ist sexy. Getestet, präsentiert und repräsentiert von Osthessens erfolgreichsten Triathleten. Sie bilden eine Leistungsgemeinschaft, die zu dem Bild passt, dass in Zukunft mehr noch als heute Aleko-Schuh als Edelmarke zeigen soll. Ihre Energie ist mir im Betrieb willkommen. Sie organisieren sich als Halbprofis und machen jede Gaudi mit, um im Gespräch zu bleiben. Sie sind Stars des Landliebe-Kalenders, der Leute wie du und ich spärlich bekleidet präsentiert. Kein Fest im Landkreis findet ohne die schillernden Selbstoptimierer statt.
Der Korkausschuss wird in eine Mühle gesaugt. Das Mahlgut landet in einem Kasten, der im Lager über der Produktionsebene steht. Die weiträumige Trennung der Maschinen vom Material dient der Sicherheit. Wir verarbeiten Granulat. Kleinste Ausschüttungen, die vorschriftswidrig liegenbleiben, können jemandem in einer Rutschpartie das Genick brechen. Oft denke ich über Verbesserungen an Ort und Stelle nach. Als Kind badeten meine Geschwister und ich in der Mahlgutkiste. Wir machten so Reklame für uns und buhlten um Aufmerksamkeit. Die wertvollsten Instrumente im Zauberkasten habe ich zur Behebung von Mängeln erfunden. Meine Maschinen könnten nicht, was sie können, wäre nicht in wochenlangen Sitzungen jeder Schritt manuell vollzogen und weiter vereinfacht worden. Solche Laborphasen treiben Mitarbeiter über die Grenzen ihrer Vorstellungskraft. Etwas Unvorstellbares wird in Angriff genommen unter Einsatz aller Ressourcen, vom Grill über die Klebstoffexpertise eines Bekannten bis zu Ausstechformen für Weihnachtskekse und Modellen im Spielzeugformat. Ich bin mit allen im Betrieb per du, nur Jens verweigert die Zwanglosigkeit. Der Nigerianer erwartet von mir Regelungen seiner privaten Angelegenheiten. Er trägt Forderungen als Wünsche vor, die kein Nein vertragen. Ich habe Jens schon schwer enttäuscht. Ich beschäftige neunzehn Migranten mit einer Geflüchteten-Biografie. Gan ist der Älteste. Der Südvietnamese gelangte als Schiffbrüchiger vor Malaysia erst an Bord des Hospitalschiffs Helgoland und dann in das Grenzdurchgangslager Friedland. Weihnachten Achtundsiebzig verbrachte er an der Tafel des niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht bei einer Gala in Hannover. Die Eingliederung der vietnamesischen Boatpeople vollzog sich geräuschlos.
Abergläubische Aufklärung
Die Quelle der Salm tritt in der Rhön aus. Sie führt den überirdischen Kreisläufen Wasser aus einem Magma-Reservoir zu. Eine Vorstellung von reinem Wasser überschwemmt mich. Unter der Oberfläche macht die Erdgeschichte weiter Fortschritte im Schleudergang. Sie bleibt glühend schwarz und vulkanisch eruptiv.
Das Boot liegt federleicht auf dem Wasser. Der Fluss nimmt es einfach mit. Seine Kräfte wirken konzentriert in eine Richtung. Ich spüre keinen abweichenden Zug. Ein Regenbogen zeichnet sein Tor. Bartmäuler streben zu tanzenden Kongressen. So losgelassen empfinde ich das All-Einsein.
Wir sind Fleisch gewordenes Universum. Wir sind All-Bewusstsein. Bewusstsein ist nichts Individuelles. Die Menschheit ist eine Bewusstseinsbatterie. Bewusstsein - Energie - Information. Sehnt sich der Mensch nach Gott, zeigt er sich der Schöpfung gewachsen. Wir sind das Göttliche. Viele schließen die magische Welt für sich aus, weil ihre Erscheinungen ihnen zu spekulativ sind. Sie schotten sich vor inneren Ansprachen ab. Sie legen ihr präkognitives Potenzial auf Eis und ignorieren ihre Intuition. Hörte ein Grieche der Antike innere Stimmen, vernahm er den Rat der Götter. Er fühlte sich ausgezeichnet. Er war nicht allein im Universum - verloren im Nichts. Hätte man einem klassischen Griechen den Divinationsbetrieb rund um das Orakel von Delphi als schnöden Gelderwerb einer Kaste erklärt, wäre ihm die Aufklärung abergläubisch vorgekommen. Sein Platz in der Welt stand fest. Er war die Krone der Schöpfung. Die Einsicht bleibt im Kopfdickicht hängen wie das Treibgut im Ufergestrüpp. Pflanzennester schwappen in schwacher Dünung. Um es mit den Worten unserer Tourismus-Beauftragten Nina Gerster zu sagen: Der Fluss passiert das Eberhaupt im Hohen Ried, ertüchtigt sich im Sauwald, grüßt bei Lüdersbach die Klopfmühle und beim Hochberg die Sterntalermühle mit behutsamen Aufwallungen.
Ein singulärer Basaltbrocken trägt die Hochburg. Entlang ihrer Kriechgänge und vorgelagerten Schanzen verliefen Grenzen. Da endete einst das Christentum. An der Wildemann Mühle erreicht die Salm beinah Kraichhain. Sie streift die Klingenbacher Aue und bricht aus der Wildemann Schlucht in die Werra. Neandertaler brachten in den Werra-Auen Mammuts zur Strecke. Die Werra war damals so breit wie der Amazonas.
Eingesessene könnten Touristen Artefakte aus der Karolinger Zeit zeigen, sie zu einem Hügelgrab oder auf den Krimmer Trutz führen. Der historische Gemeindekern überformt ein paläolithisches Camp. Werkzeug, das vor 150.000 Jahren zum Einsatz kam, wurde hier gefunden. Die Gegend um Kraichhain ruht in sich. Ihre Gleichmäßigkeit geht über eine gleichmäßige Natur und ihre beschauliche landwirtschaftliche Nutzung hinaus. Auch die Gemeinden gleichen sich, so als schriebe die Gegend ihnen einen Verwaltungsschlüssel und den Einheimischen eine Daseinsform vor. Alles scheint einer Größenordnung unterworfen.
Der Geruch von gemähtem Gras erinnert mich an glühende Stunden vor Jahrzehnten im Flussbad.
Sture Nützlichkeit
Gute Stärke
Mein Vater konnte das Spiel des Lebens lesen, ohne daran teilzunehmen. Er ließ sich Ungeheures gefallen. Sein erstes Gehalt erhielt er mit dreiundvierzig. Bis dahin wurde er abgespeist. Mal gab es was, mal gab es nichts. Mutter empfing als Angestellte ein regelmäßiges Gehalt.
Vater führte das Leben eines Entmündigten. Zwar war er nach Opas Tod offiziell Fabrikherr, tatsächlich herrschte aber meine Mutter, die ihren Mann drangsalierte. Vaters gute Eigenschaften wurden unter den Familienteppich gekehrt. Er war einfallsreich und erfinderisch. Immer wieder brachte er Produktionsabläufe auf Vordermann. Er hatte unternehmerische Tricks auf Lager. Seine Tipps waren Gold wert. Als ich einmal einen Anbau zu großartig fand, wusste er schon, dass ich den ganzen Raum bald brauchen würde. Instinkt, Hellsichtigkeit, Rationalität und Wundergläubigkeit: das alles kam zusammen und verschmolz in einem unentdeckten Selbst.
*
Silvi nennt mich ihren Mann. Sie suggeriert jedem Kellner, sie sei meine Frau. Sie träumt von geordneten Verhältnissen wie andere von einem Urlaub in der Karibik. Ich kann sie nicht heiraten. Ich ertrage es nicht, noch jemanden für so bewaffnet halten zu müssen, dass er den Zauberkasten schließen könnte, um mich zu bestrafen. Meine Ex-Frau spielt auf dem Klavier meiner Verpflichtungen das Lied vom Tod der Fabrik. Ich habe Marion das Blaue vom Himmel versprochen, sie aus ihren Verhältnissen gelockt, zur Erfüllung meiner Sehnsüchte und Einzigartigkeitsphantasien herangezogen, drei Kinder mit ihr in die Welt gesetzt und sie schließlich doch ersetzbar gefunden. Marion redete lange von Bestimmung, wenn unsere Ehe auf dem Prüfstand einer Besprechung stand. Heute gehorcht sie nur noch der Einsicht, dass sich eine geschlachtete Kuh nicht melken lässt.
Nach der Scheidung wurden mir die Instrumente gezeigt. Ein Notar brachte die Eisen zum Glühen. Der Experte verkündete, dass fortan von jedem Euro aus dem Zauberkasten fünfzig Cent Marion gehörten. Seine brillant verschleppende Art erinnerte mich an Charles Laughton als Verteidiger Sir Wilfried Robarts in Zeugin der Anklage.
Ich fand mich schwach in der Verteidigung des Zauberkastens. Ich war so vor den Kopf geschlagen, dass ich meine Büroleiterin anrief und sie bat, mich abzuholen. Vielleicht wäre ich sonst gegen einen Betonpfeiler gefahren oder hätte eine alte Rechnung beglichen. Auch Marion rief nach Verstärkung, selbst im ausgebluteten Zustand war ich noch das Schwein. Ich schwankte zwischen Mord- und Selbstmordgedanken. Meine Angestellte aß mit mir Eis auf einer verlassenen Sommerpromenade. Ich sehnte mich schmerzhaft nach meinen Kindern. Keinen Augenblick gelang es mir zu vergessen, dass ich die Frau am Tisch bezahlte, letztlich auch für ihren Beistand. Sie hatte den Chef noch nie so neben der Spur erlebt. Meine Schwäche verunsicherte sie zunächst, dann fing sie ganz sachte an, mich wieder aufzurichten. Sie reagierte mit guter Stärke auf meine Schwäche.
Prophetische Einwände
In den letzten Monaten vor der Scheidung verbesserte sich mein Verhältnis zu Marion. Einmal kam sie, schön wie Rosenrot, in unserer vormals gemeinsamen Wohnung. Jahre zuvor hatte ich sie dahin verschleppt und keinen ihrer prophetischen Einwände gelten lassen. Marion brachte mir eine CD zurück, die ich nicht vermisst hatte. „Blue Sugar“ von Zucchero. Es gibt Situationen für Schmalzblues, von denen ich jetzt nicht anfangen will.
Nach einer Bob-Phase trug Marion das Haar wieder lang. Sie hatte sich so zurechtgemacht, dass an ihren Absichten kein Zweifel bestehen konnte. An jedem anderen Nachmittag wäre ich mit Marion in unserem alten Ehebett gelandet, um im Sumpf der Gewohnheiten feierlich zu versinken. Mich erwartete aber eine Neue. Daniela war kompliziert, ich hielt sie deshalb für besonders intelligent. Ich redete mir ein, an ihr wachsen zu können. Ich zog eine zu Depressionen neigende und zum Leben eher Unbegabte der körperlich und seelisch aus dem Vollen schöpfenden Mutter meiner Kinder vor, weil Marion mich sexuell langweilte und mir die Hemmungslosigkeit einer Verrückten gerade zur Verfügung stand.
Marion wusste, dass sie keine ersetzen konnte. Ich hatte von ihr etwas bekommen, dass sie einem anderen nicht mehr geben konnte. Ich war ihr Prinz gewesen und sie meine Prinzessin. Diesen Schatz sahen wir beide nicht immer. Stress brachte Streit. Marion zog mit den Kindern nach Schlitz, das Fahrpensum nahm zu, die Entfremdung wuchs mit der Entfernung. Marion blieb mir gegenüber aufgeschlossen. Manchmal zeigte sie sich einladend an der Haustür, wenn ich die Kinder zurückbrachte.
Dieser Zustand in der Schwebe bot mir den größten Spielraum. Er machte mich zum Zocker. Ich überreizte mein Blatt. Gelähmt wie im Traum sah ich den Monstertruck des Desasters auf mich zurollen. Aus Zuneigung wurde Abneigung. Vertrautheit schlug in Verachtung um. Die Verachtung sprach sich in den Kindern heftiger aus als in Marion, die dann auch jemanden fand, der sie richtig zu schätzen wusste. Bald wird sie mit ihm länger zusammen sein als sie es mit mir war. Das schwächt die Fama einer schicksalhaften Verbindung zwischen uns. Ich halte mich trotzdem für den wichtigsten Mann in Marions Leben.
Auch das ist wahr. Meine Kinder haben mich öfter zum Weinen gebracht als meine Frauen. Ich verglich sie in allen Entwicklungsstadien mit mir, so wie ich mir in Erinnerung geblieben bin. Ihre Entwicklungen helfen mir, mich zu verstehen.
Drakonische Devisen
Die Familie, die Marion und ich entstehen ließen, erlöste mich nicht von dem Albtraum eines Dreijährigen, der sich selbst überlassen die Hitparade nachbetet und später im Kindergarten vor unlösbare Rätsel gestellt wird, weil Gleichaltrige ihm wie Aliens vorkommen. Missmutig sitzt der Einzelgänger seine Zeit im Kindergarten ab. Die ersten Sanktionen seiner Eigenarten lässt er über sich ergehen, als wäre er gar kein fühlendes Wesen. Die Verweigerung jeder Gruppenzugehörigkeit füllt die Lücke zwischen hilflosen Reaktionen und einer dilettantischen Verweigerung von Lebhaftigkeit. Der Familienidiot sagt zu den Eltern und seinen normal herumstrolchenden Geschwistern: „Ich wünschte, ich wäre ein Einzelkind und ihr wärt tot.“
Zu seiner Erleichterung will auch mein Sohn Kazim nur noch in einer Welt leben. Das ist Marions Welt. Die Geburt meines einzigen Sohnes war ein Albtraum. Ich wünschte, ich hätte nicht gesehen, was ich gesehen habe. Trost und Zuversicht brauchte ich, während Marion viehisch ihre Schranken durchbrach. Kazims Geburt ging über meine Kraft.
Meiner Geschwister zum Trotz war ich allein gewesen. Meine Kinder waren das nicht. Sie hatten keine Mutter, die in ihrer Krankheit unbegreiflich war, und keinen Vater, der erschöpft und überfordert sein Bestes gab, als gäbe es kein von schierer Daseinsfreude federleicht gemachtes Leben. Meine Kinder juchzten und johlten. Mein Ehrgeiz ging dahin, sie glücklich zu sehen. Es gibt viele Fotos, die Marion und mich mit unseren Kindern zeigen. Kaum ein Foto zeigt mich als Kind mit meiner Mutter. Fast immer guckt Vater freundlich kastriert neben mir in die Kamera.
Ich war so fett, dass die Eltern mir die Kur in einem Camp verordneten. Vor allem war das eine Maßnahme aus dem Katalog drakonischer Devisen, an dem sich Mutter orientierte. Wohin Schwäche führte, erlebte sie bei ihrem Mann. Man schickte mich in ein Ferienheim. Der Umgang mit Gleichaltrigen verstörte mich. Ich brockte mir ungeheure Lektionen ein, weil ich Regeln nach der Hackordnung unter Kindern und Jugendlichen nicht beachtete. Ich besaß den Vorwitz, der Heimleitung anzuzeigen, dass mir mein Kassettenrekorder weggenommen worden war. Dafür setzte es nachts Dresche mit Socken voller Seifenstücke. Ich fand mich einem Terrorregime ausgesetzt. Die informierten Eltern verweigerten meine Rettung. Sie überließen mich dem aufgehetzten Sadismus Heranwachsender. Meine Schwäche provozierte Stärke noch bei den Schwächsten. Ich verkroch mich unter Treppenaufgängen. Kein Erwachsener griff ein. Ich zerbrach unter den gleichgültigen Augen von Pädagogen. Sie empfahlen meinen Eltern, die von meinem Zustand als Heimkehrer bestürzt waren, von einer Anzeige absehen.
Vier Wochen später stellte man bei Mutter einen bakteriellen Befall der Niere fest und überwies sie in eine Klinik. Eine zwanzig Jahre währende Flucht in die Krankheit begann mit der Diagnose: Wir geben Ihnen noch sechs Wochen. Kurz darauf erklärte ich selbst meine Mutter für tot, um von ihren Schwierigkeiten nicht länger erreicht werden zu können. Noch ahnte ich nicht, dass jede Krankheit ihre Gründe hat. Dass man die Krankheiten kriegt, die man braucht.
Schuldbewusstseinsautomatik
Leuchtend von einer geheimen Freude kommt Arianna in mein Arbeitszimmer. Silvis Älteste ist fünfzehn. Sie schafft es spielend, mich mit einer Umarmung an Versäumnisse zu erinnern. Die Berührung ermahnt mich. Ich krame in meinem Gedächtnis, bis ich der Schuldbewusstseinsautomatik gewahr werde und sie abstelle.
Meistens will Arianna kein Kind mehr sein. Sie produziert Überschwang, prüft ihre Wirkung. Sie sucht meine Zustimmung. Sie vermutet die Komplexität eines Menschen in jedem Baum. Geknickte Halme werden aufgerichtet.
Arianna erträgt gerade vieles nicht. Kein Käferpanzer darf in ihrer Gegenwart unter eine Sohle geraten. Jedem verletzten Vogel möchte sie die Flügel richten. Sie isst trotzdem mit Appetit gebratene Hühnerbeine. Sie füllt mit überspielter Unsicherheit einen Raum, in dem ich meine eigenen Kinder aufwachsen sah.
Ich empfinde kaum je Wehmut, wenn ich an die Vergangenheit denke. Ich habe nie einen Nachsendeantrag gestellt. Gucke ich mir abends ab acht das Elend aus aller Welt an, das Deutschland wie ein rettendes Ufer anstrebt, dann überfällt mich die Müdigkeit der Verweigerung. Ich kriege mein Glück nicht unter einen Hut mit dem Unglück der anderen. Allerdings wähne ich mich im Besitz einer Herstellungsformel für Glück. Könnte ich mir die Formel patentieren lassen, wäre ich bereit, sie in einem Franchisesystem auf den Markt zu bringen.
Silvis Töchter haben einen kubanischen Vater. Er kam als Student nach Deutschland. Zumindest gab Ernesto das an. Nach der Scheidung engagierte er nachweislich einen in Würzburg lebenden Voodoo-Priester, der Silvi für dreihundert Euro mit einem Fluch belegte. Der Priester verwandelte Silvis Anziehungskraft in abstoßende Energie. Niemand interessierte sich mehr für sie.
Als ich sie kennenlernte, war Silvi am Ende. Ihre Aura war zerstört. Ihre Kinder kommandierten sie und bestimmten das Fernsehprogramm. Silvi konnte sich kaum noch artikulieren. Ihre Sätze wurden von Atemlosigkeit zerhackt. Ich trat mit ihrem Peiniger in eine Gedankenkraftverbindung. Er weigerte sich, Silvi loszulassen. Ich warnte ihn. Drei Monate später war Ernesto tot. Das hat erst einmal nicht viel zu bedeuten, er könnte einfach nur seine Gestalt gewechselt haben. Auch wenn Ihnen das paradox erscheint, für mich ist Gedankenmord reine Fiktion. Für Silvi nicht. Ich bin ihr Erlöser und das Licht. Trotzdem hält Silvi den Vater ihrer Kinder für ein Ungeheuer, dass sie niemals loslassen wird. Sollte er Silvis Vernichtung auf seine Ahnen geschworen haben, könnte er selbst unter Druck geraten sein. Ermahnungen der Altvorderen entfalten mitunter verheerende Kräfte.
Seelisch erdrosselt
Ernesto behandelte Silvi wie einen Gegenstand. Er verfügte über ihr Einkommen. Sie ernährte die Familie, hatte aber nicht das Recht zu fragen, woher die Mittel stammten, die ihrem Mann außerdem reichlich zuflossen. Er unterzog sie einer Gehirnwäsche und erklärte seine Töchter zu Vormündern ihrer Mutter. Er wollte Silvi seelisch erdrosseln als einer Spielart des perfekten Verbrechens und der absoluten Herrschaft.
Ernesto zeigte das Verhalten eines uralten, mit allen Wassern gewaschenen Biests, dem die Schliche seiner Bekämpfung vertraut sind. Vermutlich setzte er den Würzburger Voodoo-Priester wie einen Köder ein, um zu sehen, wer oder was nach ihm schnappt.
Arianna lehnte sich zwar unbewusst gegen die väterlichen Forderungen auf, folgte aber ohne jede Zurückhaltung der jüngeren Schwester, die bereitwillig den Auftrag annahm. Die Mädchen tyrannisierten ihre Mutter. Sie errichteten eine Kinderdiktatur, die ich zu ihrer Erleichterung beendete. Ich befreite sie von ihrer Sucht nach Fertiggerichten, die einherging mit Hass auf Obst.
Arianna und Chisoma können sich schon lange wieder ohne Brechreiz gesund ernähren. Sie haben die Vorteile vorbildlichen Verhaltens erkannt. Seit Chisoma ihre Mutter nicht mehr quälen darf, versucht sie Silvi zu überflügeln und auszustechen. Sie möchte nun einen Gemüsegarten ausgerechnet da anlegen, wo die Schaukel und die Wippe meiner leiblichen Kinder neben einem leeren Sandkasten verrotten. Chisoma weiß nicht, dass es von ihrem Plan eine historische Vorzeichnung gibt. Ich habe dem Spielplatz großmütterliche Beete geopfert.
Ich erinnere Babaanne (Vaters Mutter) kniend im Salat. Mit einem Kneipchen (Tourniermesser) sticht sie einen Kopf aus. Ich sehe mich bei der Johannisbeeren-Ernte ihr kindlich zur Hand gehen, auf einem Streifen voller Miere neben der Rübenreihe. Am Saum der kultivierten Fläche quert eine namenlose Betonpiste einen stillliegenden Schienenstrang, der im Gelände vor einer Steinbruchhalde endet. In einer Mulde liegt eine zerschlagen abgekippte Grabsteinernte. Ohne architektonische Umgebung ragt davor eine Esse auf. In nächster Zukunft werden monumentale Umbrüche ein neues Umgebungsbild entstehen lassen. Die Esse wird bald abgebrochen, die Halde abgetragen. Eine Investorengemeinschaft rund um Opa wird ein Hotel in die Gegend stellen - als kostengünstige Alternative zu den Bettenburgen im Rhein-Main-Ballungsraum. Heute steht der Heilgarten im Zentrum eines Industrieparks, der in den 1970er Jahren ein Neubaugebiet war. Die Teerrinnen sind nach verlorenen Ostgebieten benannt.
Die Freude an der Gartenarbeit ist mir vor langer Zeit abhandengekommen. Ich habe keine Lust, irgendwas aus dem Boden zu ziehen und die Erde von den Wurzeln zu trennen. Chisoma weiß das nicht. Frenetisch performt sie ländliche Daseinsfreue. Meine Ziehtochter muss einen Raum nur betreten, um alle Aufmerksamkeit zu kriegen. Ich glaube, dass sie das kubanische Biest von ihrem Vater übernommen hat.
Der Schuh als verderbliche Ware
Väterliche Unbeholfenheit macht mich wütend. Man sollte keine Kinder in die Welt setzen und so tun, als könne man ein erwachsenes Leben führen, wenn man nichts in den Griff kriegt. Die Firma gehört Vater und er kennt noch nicht mal die Zahlen. Ich hasse das süffisante Lächeln, mit dem er Überlegenheit vortäuscht und die Verachtung für einen Ausschuss produzierenden, jede Schuld von sich weisenden Arbeiter kaschiert. Vater lächelt seinen Ärger und die Geringschätzung weg. Er hat trotzdem keine Chance, dem Spottgericht der Arbeiter zu entgehen. Sie werden ihn heute Abend in der „Drehscheibe“ oder gleich in ihren beheizbaren Nasszellen und maroden Elternhäusern herabsetzen und sich über ihn erheben und sich so erleichtern.
Das Herzstück jeder Schuhfabrik ist die Modellabteilung. Vater beschäftigt einen Modelleur, der auch für einen großen Hersteller arbeitet. Er steckt uns die neusten Trends. Das gehört zu seinen Aufgaben. Die Schuhindustrie braucht für vier Kollektionen pro Jahr dynamische Zulieferer. Die Doppelrolle des Modelleurs gestattet uns plötzliche Anpassungen von Fußbettformen an den letzten Schrei der Saison.
Um 1950 kostete ein Lloyd Schuh 120 Mark. Der Preis entsprach dem Wochenlohn eines gelernten Arbeiters. Solange Schuhe teuer waren, mussten Begeisterungskäufe einer Qualitätsnorm genügen, die eine kritische Konsumentin zufriedenstellte.
Ein Blick in die Zukunft
Metro und Aldi starten in den 1990er Jahren einen Unterbietungswettbewerb und schlagen den Fachhandel nach den Regeln der Discounter. Sie schaffen neue Gleichungen. Für das Geld passt der Schuh. Dafür hat er lange genug gehalten. Diese Einstellungen greifen die Lebenszeit eines Schuhs an. Sie machen ihn zur verderblichen Ware und zum Modeartikel.
Wir kaufen keine Produkte mehr, sondern Markenerlebnisse. Der Konsument erscheint als Fan zumal von Megamarken und will in kurzen Abständen von seinen Favoriten angesprochen werden.
Die Vision
Mit zwölf hatte ich eine Vision. Ich sah meine Zukunft als Siegfried der Schuhbodenindustrie mit einer perfekten Frau in einem paradiesischen Alltag. In der Vision war ich dreißig und hatte nach fünf Jahren Ehe vier Kinder.
Ich fing an zu sparen, gewann einen peniblen Sparkassenmitarbeiter als Finanzberater. Bald war ich fit in Anlagefragen. Ich begnügte mich mit der Mittleren Reife und lernte Werkzeugmacher. Die Lehre war für mich ein langer Urlaub.
Stolpernd bewegte ich mich auf meine Ziele zu, bis ich in den Bann einer wunderbaren Kraft geriet und ohne Aufwand weiterkam. Von jetzt auch gleich hatte ich Wind in den Segeln. Wie auf einer Schiene glitt ich über meine Ideallinie. Die Vision wurde zu einer sich selbst beinah vollständig erfüllenden Prophezeiung. Alle Voraussagen erfüllten sich mit Abweichungen, die sich retuschieren und kleinreden ließen. Das Große und Ganze des Gelingens waren unbestreitbar.
Allerdings feierte ich auch noch meinen sechsundzwanzigsten Geburtstag ohne Traumfrau. Der Tag danach fühlte sich an wie eine Fahrt mit stotterndem Motor. Ich beschränkte mich auf das Pflichtprogramm. Abends war ich froh, meine Ruhe zu haben. Ich war schon auf dem Weg ins Bett, als sich das Radio einschaltete. Der Sendersuchlauf fand mein Lieblingslied des Jahres 1997, So strung out von C-Block. Das war ein kosmischer Wink. Ich vergewisserte mich bei meiner Wünschelrute. Sie riet zum späten Aufbruch. Nicht ganz überzeugt zog ich mich an und suchte mein Glück in Fulda.
Im Why not rieben sich meine Zweifel gleich wieder an der Langeweile. Ich fühlte mich von meinen Sehnsüchten verladen. Um Mitternacht drehten sich altersschwache Vierzigjährige auf der Tanzfläche. Erinnerungen an Foxtrott, Walzer und Rock’ n‘ Roll lebten auf. Ich hatte das ganze Programm auf dem Schirm als geübter Tänzer.
Die Tanzschule, bürgerliche Jugendschmiede und Eheanbahnungsinstitut, war lange mein Revier gewesen. Ich hatte es dahin gebracht, ein begehrter Partner zu sein. Versiert in den Feinheiten und Verdrehungen eines Kodexes mit Knicks und Diener, tanzte ich gekonnt an der Benimm-Stange. Ich überzeugte als Gastherr. Mein Tanzlehrer bereiste mit mir den Landkreis. Regelmäßig löste der Ausputzer im Anzug Bedauern aus, wenn dem Beweis guter Manieren keine Liebeserklärung folgte.
Wieder lief So strung out. Unter die Tanzenden mischte sich eine Schönheit. Das war Marion. Ich quatschte sie an: „Deinetwegen bin ich hier. Dich habe ich beim Universum bestellt. … Ich habe den Plan für dein Leben. Du kannst vergessen, was du dir bis heute vorgenommen hat.“
Marion hielt das für möglich, ich spürte ihre Bereitschaft, in mir nicht nur einen esoterischen Armleuchter zu sehen. Wir waren sofort in unserer eigenen Umlaufbahn und stritten über die Zahl der Kinder, die mit uns eine Familie sein sollten. Marion wollte zwei, ich vier. Mit der zauberhaften Großzügigkeit des Anfangs einigten wir uns auf drei.
Fehlende Weitsicht
Marion wollte nicht in den Zauberkasten. Nach der Hochzeit bat sie mich, nicht in dem Unternehmerhaushalt meiner Eltern durch den Fleischwolf eines Lebens ohne Feierabend gedreht zu werden. Sie wollte das Schwiegertochterschicksal meiner Mutter nicht wiederholen.
Klug und praktisch zugleich übersprang Marion viele Hindernisse. Ihr war klar, als Eingeheiratete, der Vater war Ingenieur ohne Vermögen, die Mutter Hausfrau, erwarteten die Rechtsanwaltsgehilfin Demütigungen. Man erweitert einen Kreis und muss sich einfügen. Marions Plan, sich zu bewahren, ohne mich zu verlieren, zerschellte an meiner Ignoranz. Ich war zu blöd, ihre Weitsicht anzuerkennen. Ich nötigte sie in die Tyrannenschmiede meiner Herkunft, wo sich alles als Wahrheit ausgab, was unwidersprochen hingenommen werden sollte. Mutter besaß eine scharfe Witterung fürs Geschäftliche. Ich war ein brauchbarer Versager. Ohne zu fragen, heiratete mich Mutter. Mir fiel das erst auf, als mich Marion darauf ansprach. „Du bist doch mit deiner Mutter verheiratet.“
Ich rutschte aus dem Prinzensattel und fiel aus allen Wolken. Wie viel glücklicher hätten wir sein können, wenn ich nach der Arbeit sonst wohin nach Hause gekommen wäre. Ich glaubte so lange Marions Bestimmung zu sein, bis sie es selbst glaubte. Ich unterwarf sie dem Regime meiner eigenen Abrichtung. Wir setzten unsere drei Kinder in die Welt und spielten die Kugeln unserer Enttäuschungen über Bande. Wir wurden da schwerfällig und nachtragend, wo wir einmal leichten Herzens gewesen waren. Von Mutter lernte Marion, wie man mich lenkt.
Ich zerriss mich, sobald es um Firma und Familie ging. Entnervt flog ich zu einer Messe nach Sankt Petersburg. Ich war dreiunddreißig, vollkommen eingespannt ins Geschäft und sexuell ausgehungert. Am Stand holte mich etwas aus dem Nichts von den Füßen. Als ich wieder zu mir kam, war ich halbseitig gelähmt. Der Arzt diagnostizierte einen Schlaganfall. Er bot mir eine Wette mit dem Tod an und ich schlug ein. Ich spielte Russisch-Roulette und gewann die Wiederherstellung sämtlicher Funktionen in vierundzwanzig Stunden mit einem Medikament, das in Deutschland nicht zugelassen ist. Die Blitzgenesung erlebte ich in einer Klinik mit der Ausstattung eines Fünfsternehotels. Ich hatte eine Schwester für mich allein. Ich kehrte an den Messestand zurück und überstand auch noch einen Wodkaabend als gedopter Rekonvaleszent. Mich hatte eine Entscheidung gerettet, die in sieben von zehn Fällen zum Tod führte. Die Alternative hätte mich auf keinen Fall umgebracht, aber auch die Lähmung nicht beseitigt. Mein Mut war belohnt worden. Ich fühlte mich titanisch. Auf dem Heimflug beschloss ich, der Langeweile in meiner Ehe ein grausames Ende zu bereiten. Ich konfrontierte Marion mit dem Entschluss, kaum dass ich im Zauberkasten angekommen war. Ich ließ ihr zehn Minuten, um ein paar Sachen zu packen. Mit dem Schwung des Survivors setzte ich sie vor die Tür.
Hafersack der Genügsamkeit
Marion erflehte einen Aufschub. Durchgeknallt wie ein Caligula auf Koks verlängerte ich die Frist bis zum nächsten Morgen. Ich fand mich generös und fühlte mich aufgehalten auf meinem Weg zu einem von Lustraketen beschleunigten Leben. Marion flennte die Nacht durch. Bis zum Frühstück hatte sie mich mit meinem eigenen Text weichgekocht. Was uns verbindet, ist Fügung. Wir gehören zusammen nach einem kosmischen Konzept, das sich erst mir und dann Marion offenbarte. Dagegen anzugehen bedeutete, sich gegen die stärksten Lebenskräfte zu versündigen. Ich gab Marion recht, nur meine Gefühle gingen nicht mit.
Halbherzig beendete ich das Geplänkel mit einer Frau, die mich glücklich zu machen versprach. Wir hatten uns konsequent in Wallung gebracht und tändelten nun auf der letzten Vorstufe. Ich zweifelte daran nicht, dass sie ihr Versprechen halten würde - im lauschigen Flausch eines Offenbacher Apartments voller verlockender Düfte und ausdauernd zusammengetragenem Nippes. All das Arrangierte war genau das, was ich bei Marion ausgeschlagen hatte, weil meine Vision sie mir in meinem Elternhaus präsentiert hatte. Wie gern wäre Marion die Gastgeberin in ihrer eigenen, perfekt eingerichteten Wohnung gewesen. Genau das war ursprünglich ihre Verhandlungsposition gewesen. Du kommst zu mir und ich erspare mir die systematische Unterwerfung einer Eingeheirateten.
Ich schraubte meine Erwartungen herunter. Marion band mir den Hafersack der Genügsamkeit um. Ich bekam in jeder Hinsicht gerade genug, um nicht seelisch zu kollabieren. Ich hielt mich an Durchhalteparolen. Es gab Schönes mit den Kindern. Mir war auch der Blick auf Marions Schönheit nicht verstellt. Ich erkannte in ihr weiterhin mein Ideal. Ab und zu erreichten wir gemeinsam die Schlossstraße meiner Phantasie. Marions spukhafte Bereitschaft, sexuell nicht nur die Gemüsesuppe für unter der Woche auszuteilen, blieb rätselhaft. Ging sie aus sich heraus und auf mich ein, hörte ich der Schritte Hall in jener dunklen Siegeshalle, von der ich lange nie mehr sah als vier Säulen und ein Licht wie von letzten Sonnenstrahlen. Der Raum bildete das Zentrum meines Kopfkinos. Heute sehe ich die Halle der Magier in ihrer ganzen Pracht. Sie leuchtet wie ein auf einem nächtlichen Fluss gelandetes Ufo. Zwei Säulenreihen tragen die Decke eines zwei- bis dreitausend Männer fassenden, zwanzig Meter hohen Vestibüls. Konzentrationspunkt ist ein Thron, der seinen Inhaber nicht nur erhöht, sondern auch vergrößert. Damals identifizierte ich den Hall der Schritte mit einem Beweis meiner Meisterschaft.
Dann löste sich etwas, die Verbindung leierte aus. Marion fing an, sich anderweitig zu verlieben.
Verjährtes Interesse
Bei einer Vasektomie zog ich mir einen multiresistenten Keim zu. Meine Hoden schwollen an, eine Orchiektomie erschien unvermeidlich und wurde doch abgewendet. Mit unternehmerischem Kalkül wandte ich mich Lovescout24 zu, während meine Ehe vor sich hin dümpelte. Ich wollte meinen Marktwert testen. Sechszehnhundert Interessentinnen signalisierten Interesse. Ich sondierte wie im Fieber. Das überwältigende Angebot legte meine kritischen Instanzen lahm. Eine Weile lebte ich in einer Flirt-Blase wie in einem Labyrinth voller Verheißungen. Alles schien möglich, bis hin zu Verabredungen mit einem halben Dutzend Frauen an einem Tag.
Die Pisten des Wahnsinns mündeten in einer Spur der Normalität, zu der es dann keine Alternative mehr gab. So wie ich irgendwann aufgehört hatte, Diskotheken abzuklappern, ernüchterte ich als Teilnehmer an dem virtuellen Liebeswettlauf.
Ich reagierte auf Silvi, ihre verhaltene Selbstdarstellung sprach mich an. Trotzdem ließ ich den Kontakt schleifen. Ich kam darauf zurück. Silvi erinnerte sich beim zweiten Anlauf an jenes Profilbild, das mich bei der ersten virtuellen Begegnung anziehend erscheinen lassen sollte. Der Schnappschuss zeigte mich im Kajak auf der Werra.
Offenbar gefiel ich Silvia auf dem Foto. Das nicht verjährte Interesse nahm uns beide aus der Beliebigkeit. Wir hatten schon so etwas wie eine gemeinsame Geschichte. Das bot einen Anreiz.
Manche Kandidatinnen äußerten viel dringlicher ihr Interesse als Silvi mit ihrer mir unbegreiflichen Ambivalenz. Sie begehrten offensiv und stellten sich sexy dar, während Silvi stets auch von sich abzuraten schien. Obwohl ich spürte, dass sie in mich Hoffnungen zu setzen begonnen hatte. So wie ich mir oft wünschte, der zu sein, von dem sie sich alles versprach.
Ich vermutete Silvi in Schwierigkeiten, konnte mir aber nicht vorstellen, welcher Art die Schwierigkeiten waren. Ich bat um ihre Telefonnummer. In den ersten Gesprächen wähnte ich Silvi in einer Grube. Manchmal verstand ich sie überhaupt nicht. Dann kamen bei mir nur Geräusche wie beim Gurgeln an. Als ich sie zum ersten Mal mit ihren Eltern telefonieren hörte, glaubte ich einer Unterwasserunterhaltung nicht folgen zu können.
Silvis Familie stammte aus Ungarn. Ich skizziere kurz die Geschichte. In verwaisten Gebieten von Ungarn, Slowenien und dem Banat siedelten ab dem 17. Jahrhundert Deutsche. Vielfach verlangte die Staatsräson von ihnen das katholische Glaubensbekenntnis. Protestanten mussten konvertieren oder in protestantische Territorien ausweichen. So erklärt sich ein Endpunkt der Schwabenzüge in Harta an der Donau.
1723 ließen sich die ersten Luther-Deutschen auf den Ländereien des protestantischen Diplomaten Pál Ráday nieder. Nach 1945 wurden 287 deutschstämmige Familien vor die Tore ihrer Höfe gesetzt und im Weiteren des Landes verwiesen. Einige fanden den Weg nach Hessen. Da waren sie nicht ganz so unwillkommen wie daheim.
Soziales Todesurteil
Rückblende - Der Erzähler erinnert sich an seine Jugend. In der Gegenwart des geschilderten Geschehens ist er vierzehn und cruist in der Limousine seines soeben verstorbenen Großvaters durch das Kraichhain der frühen 1980er Jahre. Opas Benz-Limousine fährt sich leicht mit Servolenkung. Im Heilgarten übe ich an der Lenkradschaltung. Ich darf jederzeit die Autoschlüssel vom Brett nehmen und Runden auf dem Hof drehen. Ich träume von Beschleunigung und Geschwindigkeit bei Tempo Fünfundzwanzig. Ein Radiosprecher verkündet, dass Giuseppe Saronni den Giro d‘Italia gewonnen hat. Das Radio ist ein Blaupunkt mit extra schmaler Blende. Es empfängt Ultrakurzwelle. Ein Lieferwagen rollt vom Hof. In seinem Schlepp werde ich zum öffentlichen Verkehrsteilnehmer.
Aus dem Off der Handlungsgegenwart
Erst vor wenigen Jahren ließ man sich in Kraichhain dazu herab, gemeinsam mit Nestern in der Nachbarschaft größer zu werden. Dazu muss gesagt werden, dass der Bürgermeister stets ein Kraichhainer war. Inzwischen haben wir eine Bürgermeisterin. Allerdings ist Simone Gerster Tochter und Enkelin von Kraichhainer Bürgermeistern. Die Gemeinde verblutet schleppend als Riss der Bestien Gebietsreform und kommunale Neuordnung. Für pendelnde Zugezogene stellt sich das anders dar. Sie überschlagen sich wegen der günstigen Verbindungen in die Ballungsräume. Lässt einer, der etwas Vernünftiges gelernt hat, die Sterne am Himmel, ist er in Kraichhain nicht verkehrt. Zum Kraichhainer macht ihn das noch lange nicht.
Wir Koyuncus sind in der dritten Generation vor Ort ansässig und für viele Kraichhainer immer noch Fremde.
Back to Flashback
An einer Ampel wartet Onkel Adem geduldig auf den Tod. Er wurde aus dem Zauberkasten gedrängt und dann auch in seinem Elternhaus nicht mehr geduldet. Er hatte seinen eigenen Kopf und wagte den Widerspruch. Er lehnte sich gegen seinen Vater auf. Man nennt den Renegaten einen Versager. Das ist ein soziales Todesurteil. Sagt Babaanne (Vaters Mutter) von einem Verwandten, dem mussten wir das Hochzeitsgeld vorschießen, dient die Information einer Vernichtung. Ein mittelloser Hochzeiter wird es nie zu etwas bringen. Das bedeutet, lass dich mit dem auf nichts ein. Der goldene Mercedes vor seiner Haustür ist Blendwerk.
Der Onkel gilt so wenig wie ein Fremder. Wer fremd ist, wohnt auch so in einer umgebauten Scheune oder in einer Baracke. Den bewacht ein Schäferhund. Der wird morgens auf die Baustelle gefahren und abends vor der Barackentür abgesetzt. Er schließt sich am besten freiwillig ein. Sonntags sieht man ihn auf dem Bahnhof. Da ist er angekommen mit seinem Koffer.
Zwei Söhne des alten Zauberers mussten den Zauberkasten verlassen. Einer lebt nicht mehr. Monate vor seinem Tod wurde eine Lebensversicherung über eine halbe Million fällig. Der Onkel hob alles ab, ohne noch in der Lage zu sein, großartig Geld auszugeben. Dennoch fand man nach seinem Tod keine zweitausend Mark. Ich rechne fest damit, irgendwann auf das Vermögen zu stoßen wie auf einen Piratenschatz.
Der Kraichhainer ist sich selbst genug. Heimlich hält er sich für den Nabel der Welt. Das ist lächerlich und kaum zu glauben. Geschichte wird im Kaff großgeschrieben. Alle prahlen damit, dass die Gegend von Kraichhain schon vor vierzigtausend Jahren (angeblich) besiedelt war. Die zum Beweis aus dem Boden gefischten Knochen- und Steinsplitter beweisen meines Erachtens gar nichts. Ein überdachter Ausgrabungsabschnitt versagt als Publikumsmagnet. Es gibt nicht viel zu sehen. Ein hinter Glas gesetzter Abstich zeigt Schichtwechsel in Jahrhunderten und Jahrtausenden. Schwarze Streifen erzählen von Busch- und Waldbränden. Beispiele für Feuersteinbearbeitung liegen vor. Die Illustrationen sind im „Was ist Was“-Stil gehalten. Die Grabungskonserve ist so was von trist. Hinter dem Rathaus vermoost der Brunnenstein. Das Brunnenhaus steht nicht mehr, aber eine überdachte Haltestelle gestattet es für möglich zu halten, im Brunnenhaus auf einen Bus in die Vergangenheit zu warten.
In einer Broschüre des Fremdenverkehrsamts brilliert der Brunnenstein als Keltischer Opferstein. Die dramatisierende Umdeutung verdankt sich Bürgermeister Julius Gerster. Unbefangen oder weggetreten grüßt seine Nichte Sarah den Unternehmersohn im Daimler. Ich hoffe, Sarah in der Tanzstunde zu treffen. Mein Interesse an Mädchen erreicht schmerzhafte Ausmaße. Ich fürchte, in die Falle einer seltenen Krankheit getappt zu sein. Ständig muss ich mich zurückziehen, um nicht verrückt zu werden. Mein Fahrverhalten ist vorbildlich. Nichts hat sich mir so eingeprägt wie das Vokabular eines gewissenhaften Fahrzeugführers. Nichts regt mich so unmittelbar zur Nachahmung an. Opa trug am Steuer Handschuhe aus durchbrochenem Leder. Er hielt einen Vorrat interessant verpackter Fruchtbonbons in der Konsole. Die Kabine bewahrt den Rasierwassergeruch des alten Zauberers.
Ich bemerke eine formlose Kreatur auf dem Beifahrersitz, wie jene, die ich im kommenden Jahr in Ghostbusters sehen werde. Der Dämon löst sich nicht vollständig in Luft auf. Robin Gibbs „Juliet“ endet im Radio. Da das Lied es in meine persönlichen Top Ten geschafft hat, suche ich nach einer Verbindung zwischen Juliet und der mitfahrenden Erscheinung. Ich rätsele noch, als Bananaramas „Cruel Summer“ angekündigt wird.
Die Spritztour bleibt unbemerkt. Ich tauche im Betrieb ab. Für mich ist der Maschinenraum von Aleko-Schuh mit dem Maschinenraum des Universums verbunden.
Tagtraum-Turbo
1983 - Rückblende
Niemand zweifelt daran, dass bis an unser aller Lebensende die Suchscheinwerfer der Grenzanlagen Lichtschneisen in die Dunkelheit schneiden werden. Das DDR-Grenzregime leistet fantastische Theaterarbeit. Leute, die in der Provinz Theater machen, ich rede nicht von Fulda und Gießen, sondern von Weilern an Werra und Weser und im Sumpf der Auen halb versunkenen Gemeinden, werden als problematische Persönlichkeiten wahrgenommen. Den Stigmatisierungen zum Trotz gibt es solche Enthusiasten.
In der Regie der Matriarchin Sieglinde bringt Familie Rauschenbach Singspiele nach Grimms Märchen auf die Gemeindehausbühne. Sieglinge R. kann kein Hang zum Höheren nachgesagt werden. Sie verkleidet sich gern. Der gute Wille in allen Lagen, die Standfestigkeit und der gesunde Menschenverstand entlarven sich in den Inszenierungen als pausbackige Weltaneignungen mit dogmatischen Hebeln.
Es gibt Country- und Westerntanzwettbewerbe im Landkreis. Drei Schwestern und eine Cousine mit einer evangelischen Hausmusiksozialisation bilden die Swamp Hedgehogs. In Kraichhain und Umgebung kommt die Bluegrass-Combo gut an.
Ich führe mein Leben im Rhythmus der Anwandlungen meiner Mutter. Unzufriedenheit untergräbt sie. Vor der totalen Verknöcherung bewahrt sie die Aussicht auf noch mehr Geld. Dahin ist ihre Lust geflutscht. Mir erscheint sie kalt, fischig, tyrannisch und unzuverlässig. Ich bewundere aber ihre Verhandlungsintransigenz. Natürlich habe ich das Wort noch nicht zur Verfügung. Für mich verkörpert Mutter die rentable Penetranz.
Ich starte meinen Tagtraumturbo zu Michael Sembellos „Maniac“. Vater kreuzt auf und scheitert bei dem Versuch, dem Sohn freundliche Aufmerksamkeit als Gratifikation zukommen zu lassen. Vater verdampft im nächtlichen Akkord. Im Schmelzofen der Gießerei unterhält er sein eigenes Höllenfeuer. Er gießt Formen wie im Fieber. So dicht an der Glut wähnt er sich in Sicherheit. Babaanne (Vaters Mutter) siecht klaglos dahin, das herbeigesehnte Ende vollzieht sich im Halbdunkel einer Kammer voller Gerüche, die ich für giftig halte. Schließlich geht es nur noch darum: Wach zu sein mit Schmerzen, die leicht unerträglich werden, oder unterzugehen im Medikamentenschlummer nah der Bewusstlosigkeit. In ihren letzten Tagen blüht Oma noch einmal auf. Noch einmal löst sich eine maskenhafte Starre und ihre Züge erinnern an die Farben eines dem zeitigen Verzehr entzogenen Apfels. Als ich mich verabschiede, nimmt die Sterbende mich kaum wahr. Ich entdecke kein Zeichen von Rührung. Das kränkt mich.
Glück auf Knopfdruck
Rückblende - Was 1983 die Gemüter in meiner Gegend erregt
Jahrzehnte ist die Tochter einer russischen Zwangsarbeiterin, die ihren Vater nie gesehen hat, landfahrerisch unterwegs, eine Nomadin des Unheils, die sich in Kleingärtner-Kolonien einnistet und die Unbeholfenheit randständiger Jugendlicher nutzt, um sich mit drakonischer Fürsorge eine Gefolgschaft zu sichern. Ihre Mündel verwendet sie auch zuhälterisch. Sie vermietet sie an Drücker- und Putzkolonnenführer. Erika S. wirkt selbst wie eine Schwachsinnige. Sie besitzt aber eine kalte Intelligenz, die so asozial ist, dass sie als Defekt wahrgenommen wird. Mit ringkämpferischen Zugriffstechniken überwindet sie die Abwehr ihrer Opfer. Als von jedem Liebreiz befreite Vierzigjährige bewegt Erika einen schwer herzkranken Philippsthaler, der von der Welt aus eigener Anschauung nicht mehr kennt als Mallorca und Phuket, sie erst zu heiraten und dann in einer Lebensversicherung zu begünstigen. Er stirbt erschreckend pünktlich nach Ablauf der Fristen. In den Tod folgen ihm ein vermögender Briefträger im Ruhestand und ein passionierter Taubenzüchter, der die Mittel für ein Leben als Privatier aus Vermietung und Verpachtung gezogen hat. Die Leute im Bermudadreieck zwischen Philippsthal, Hersfeld und Fulda munkelten lange vor Erikas Verhaftung von einer schwarzen Witwe, beunruhigt wie eine Herde von der kaltherzigen Tatkraft. Verwandte der Opfer, die sich um ihr Erbe geprellt sehen, erstreiten Exhumierungen und gründliche Leichenschauen. Erika streitet das Offensichtliche ab.
Glück empfinde ich am Ufer eines vollgelaufenen Trichters. Ich angle mit Schnur und Faden nach Anweisungen aus einem Überlebenshandbuch von Rüdiger Nehberg, in Kennerkreisen „Sir Vival“ genannt. Die Delle ist der Nachtrag eines kosmischen Eintrags im Buch des Lebens - die letzte Zuckung eines Kometendoppelschlags in weiter Ferne. Den Impaktkrater im Nördlinger Ries datieren Fachleute auf die Gegenwart vor vierzehn Millionen Jahren. Die Zusammensetzung von Meteoriten reicht nicht weiter als der irdische Bestand: Sauerstoff, Eisen, Silicium, Magnesium, Schwefel, Calcium, Nickel, Aluminium, Natrium, Chrom, Kalium, Kohlenstoff, Kobalt, Phosphor, Titan und Kupfer. Im Himmel geht es zu wie auf der Erde. Ich entdecke für mich den namenlosen Weiher noch einmal anders als verschwiegene Brutstätte. Das brackig stehende Gewässer wird nie zu einer auf Fahrrädern und Mopeds angefahrenen, von Geschrei drangsalierten Sommerattraktion, obwohl im Schutz der allgemeinen Gleichgültigkeit sich eine Idylle mit Erlen, Weiden, Entengrütze, Schwimmendem Laichkraut und Froschbissgewächsen weiter auswächst. Eines Tages bemerke ich Reste eines Lagers. Eine Plane, die dem Windschutz dient, weht von einem Ast. Weggeworfenes und Liegengebliebenes vermehren sich. Die Spuren der Verwahrlosungen führen zu weiteren Schlaf- und Feuerstellen, die mit Müll möbliert sind. Das auf der unteren Stufe des Mittleren Miozäns der Landschaft eingeprägte Becken zieht menschliches Elend an.
Deodorierte Dienstbereitschaft
Rückblende auf das Jahr 1986 - Wenn Sie etwas beklagen, ohne das eine Not ersichtlich ist, dann erzeugen Sie womöglich die Not.
Die Herrscherin lagert in einem futuristischen Fernsehsessel. Ihre Vampirlippen saugen am Bildschirm, als sähe sie mit dem Mund fern. Seit sie das Leben einer Leidenden führt, wird Mutter im Trainingsanzug häuslich. Sie hat sich an solche Anzüge in den Aufenthaltsräumen der Krankenhäuser gewöhnt. Da sind sie in Farben wie zum schreienden Hohn der Hinfälligkeit ihrer Träger verbreitet. Sie verdrängen den Bademantel, der als Überwurf aus einem Patienten eine legendäre Erscheinung machen kann. Kaum zu übertreffen ist der Raucher im Bademantel, wie er den Katheter am Galgen zu einem mit Kippen gespickten Sandkübel am Eingang führt.
Michail Gorbatschow ist Generalsekretär der KPdSU. Über Kraichhain brechen Wolken. Barbara Dickmann erwähnt die Challenger-Katastrophe vom Februar. Die Sprecherin sieht aus wie eine Sympathisantin der Roten Armee Fraktion. Ich möchte in einer Nachrichtensprecherin eine Repräsentantin des Staates sehen dürfen. Ich gebe Fernsehpersönlichkeiten den Vorzug, die mit ihren Themen bis in die Fingerspitzen bürgerlich-süffig vertraut zu sein scheinen so wie Friedrich Nowottny und Alfred Biolek.
Der NASA-Weltraumflug STS-51-L endete gleich nach dem Start. Die Raumfähre zerbrach in einem großartigen Bild. Ein vielfach gewundener Explosionsschweif mäanderte am Himmel. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Doch die Information war im kollektiven Unbewussten längst gespeichert. Was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen (Murphys Gesetz).
Im April befiehlt der amerikanische Präsident Reagan die Operation El Dorado Canyon. Die amerikanische Luftwaffe bombardiert Ziele in Libyen. Eine Serie restlichtverstärkter Bilder ersetzt dem Zuschauer die Realität und schafft ein neues Design der Wüstenkriegsberichterstattung. Es folgt das nukleare Menetekel Tschernobyl.
Evelyn Hamann übernimmt die Aufgabe, den Abend für mich und Mutter in Gang zu halten. Sie verkörpert die anspruchsvolle Unterhaltung. Ich stoße mich an ihrer quietschenden Darstellungen von Spießern wie du und ich. Ich erachte die Entlarvungen als Verrat an der bürgerlichen Sache, so wie sie mir beigebracht wurde. Was ist schlecht an der deodorierten Dienstbereitschaft mit dem Willen zu vorausschauendem Handeln? Was ist schlecht an Bausparverträgen? Die gehobene Mittelklasse vor der Haustür und ein gepflegtes Gebiss: Worum sonst könnte es gehen?
Mutter und Sohn kommen in den Genuss ihrer Lieblingsserie. Wir sind zusammengeschweißt in einem Einfühlungsvorgang, der nur im Hass gelingt. Ich bin nicht das Wunder, dass Gott Mutter zur Entschädigung zu schicken versprochen hatte, sondern ein uncharmanter Klugscheißer. Die übrige Familie bietet nichts Erfreulicheres.
Hochstapler der Natur
Mimikry und Mimese: Gute Tarnung wirkt sich positiv auf den Fortpflanzungsbetrieb aus. Camouflage-Virtuosen konkurrieren mit Hochleistungsnachahmerinnen. „Die Hainschwebfliege ahmt mit ihrer gelb-schwarzen Färbung eine wehrhafte Wespe nach, um sich gegen Fressfeinde zu schützen. Sie selbst hat keinen Stachel und ist völlig harmlos. In Deutschland gibt es insgesamt etwa 450 Schwebfliegenarten.“ Quelle
Die Kombination Gelbschwarz lässt uns intuitiv zurückweichen, sagt der Wahrnehmungspsychologe Axel Buether. Harmlose Tiere nutzen solche Warneffekte. Große Flügelpunkte suggerieren aufgerissene Augen. Der Witz dabei: Fressfeinde fallen tatsächlich darauf herein.
Von der Mimikry zur Mimese
Wer zu schwach, zu langsam oder zu unflexibel ist, darf nicht erst flüchten müssen, sondern muss schon (vor jedem Angriff) geflohen sein. Eine totale Vulnerabilität erfordert die Minimierung der Angriffsflächen in Verstecken. Das Hochamt in dieser Kirche des Überlebens ist die Unsichtbarkeit bei voller Präsenz. Man sitzt da, kann vom Feind aber nicht wahrgenommen werden. Das passiert, wenn die Tarntracht mit ihrem Hintergrund verschmilzt. Dazu gehört „die hohe Kunst des Farbwechsels“ (Axel Buether). Menschen praktizieren den Farbwechsel mit ihrer Kleidung. Sie liefern ihrer Umwelt Aufstiegs- und Abstiegsmarken.
„Bei den Siegern von Hahnenkämpfen sorgen genetische Veränderungen in … kurzer Zeit für ein farbenprächtigeres Aussehen. Aus dem sub-dominanten wird ein dominanter Phänotyp.“ Axel Buether
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„Der liebe Gott sieht alles außer Dallas“, sagt Vater lahm. Die Bereitschaft, sich zu wiederholen und den Raubtieren in seiner Wohnung harmlos zu erscheinen, zeugt von Schwäche.
Keine Enttäuschung ohne Erwartung - Fadenscheinig erscheint mir der väterliche Schutzmantel. Der Trick mit der Bedürfnislosigkeit zur Vermeidung von Enttäuschungen funktioniert nicht. Man muss wollen. Ich reduziere das Wesentliche auf vier Punkte: Welche Erwartungen, Bedürfnisse, Wünsche und Träume habe ich?
Da gibt es eine Hierarchie. An erster Stelle stehen Erwartungen. Erwartungen sind Forderungen, die man an sich selbst richtet. Bedürfnisse sind das Fundament. Wünsche sind Fernziele. Auf Träume hat man keinen Einfluss.
Vater hat die Macht abgegeben. Die Fernbedienung wäre nutzlos in seinen Händen. Das Programm bestimmt Mutter.
Quickie Manie
Ich stehe neben unserer Bürgermeisterin Sarah Gerster vor dem unvollständigen Nachbau einer mittelalterlichen Holzfestung - unserer Motte, vollständig Château à motte. Sie verdankt sich einer bürgermeisterlichen Schnapsidee. Ich betrachte die Gerster-Sippe mit ihrem Willen zur Macht als überlegenen Magier-Klan. Sie ziehen das meiste Geld aus den örtlichen Verhältnissen und gehen den angenehmsten und prestigeträchtigsten Beschäftigungen nach. Ein paar Familien umkreisen die Gerster-Sonne wie Trabanten. Ich rangiere in dieser Hierarchie hinter der ’Ndrangheta, die in Kraichhain von Luciano Montana verkörpert wird. Ich versichere Sarah meine Unterstützung bei der Bewahrung einer allgemein ignorierten Sache. Das Replikat könnte wie ein Kartenhaus einstürzen, die Aufschüttung unter der Attrappe könnte der Wind abtragen: Es würde keinen kratzen. Sarah bietet ihren Joint an, obwohl sie weiß, dass ich Rauch in den Lungen hasse. Ich genieße aber die zärtliche Genauigkeit, mit der Sarah Dinge bei ihren ursprünglichen Namen nennt. Sie hat die Geburtsnamen der einheimischen Ehefrauen parat, die Berufe der Väter so wie alle lokalen Stammbäume und großväterlichen Eigenarten. Ich finde Sarahs überschäumenden Lokalpatriotismus sexy. Für sie beginnt der Globale Süden an einer Gebietsgrenze, die außer ihr keiner kennt. Sie trägt ein lavendelblaues Kleid, das knapp über den Knien endet. Der konservative Look reizt mich. Normalerweise bin ich sozial stärker als die andere Person, aber in dieser Konstellation ist das nicht der Fall. Ich stelle mir Sarah im Bett vor. Sarah sieht mich an, als könne sie meine Gedanken lesen. Ich sammle meinen inneren Schwung für ein kurzes häusliches Vergnügen. Ich verabschiede mich von Sarah und kündige meine baldige Ankunft bei Silvi telefonisch an. Ich gebe auch mein Stichwort für ein bestimmtes Arrangement durch. Sollte sie sich an meiner Quickie-Manie stören, verhehlt sie mir das geschickt. Mein Lustding geht so: Ich brauche eine monotone Eröffnungseinstellung auf ein einziges Detail. Das sehe mir gern die kleine Ewigkeit von zehn Minuten an. Die Penetration bildet dazu nur noch den Abschluss. Natürlich mache ich das wieder gut mit einfühlsam-ausführlichem Sex und einem adäquaten Setting. Auf dem Heimweg passiere ich Peggy Peridots Imperium. Die Mini Mall verbindet ein Nagel- und Massagestudio mit einem Imbiss, Sushi inklusive.
Wir wechseln die Perspektive
Wer sich zu wem ins Bett legt, ist Gott egal, denkt Peggy. Sie liegt mit Luciano Montana im Bett ihres rechtzeitig verstorbenen Mannes. Er brachte es gebraucht mit in die Ehe. Manche nennen Luciano den Paten von Kraichhain. Er war zehn, als ihn ein hartes Los zum Ernährer der Familie bestimmte. Er besprach sich mit der Großmutter, die noch nicht vierzig war und keine Gelegenheit bekommen hatte, vor lauter Daseinsverdruss fett zu werden. Im Grunde ihres Herzens war sie die übertrieben starke Minderjährige geblieben, die einem zurückhaltenden Jungen anvertraut worden war. Der Junge hatte bis zu seinem unnatürlichen Tod keinen Eifer, aber einen tiefen Ernst gezeigt. Die Großmutter riet Luciano, seine Familie als Scherenschleifer zu ernähren. Doch sah ihn nie jemand etwas anderes abziehen als sein Rasiermesser.
Die Kraft für eigensinniges Verhalten
Die Kombination Gelb-Schwarz lässt uns intuitiv zurückweichen, sagt der Wahrnehmungspsychologe Axel Buether. Harmlose Tiere nutzen solche Warneffekte. Große Flügelpunkte suggerieren aufgerissene Augen. Der Witz dabei: Fressfeinde fallen tatsächlich darauf herein.
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Nach einem Perspektivwechsel spricht nun der allwissende Erzähler. Im Augenblick beleuchtet er die Herkunftsverhältnisse des Paten von Kraichhain Luciano Montana
Die Familie wohnte in San Luca über dem Chemiemonsun einer Wäscherei. In ihrem Dorf verlängerte die 'Ndrangheta im Verein mit der Armut Traditionslinien. In einem Regime gelockerter Leibeigenschaft bestimmten Verbrecher Lebensläufe. Seit dem Tod seiner Mutter war Luciano die Stütze seiner Großmutter und nach ihr die wichtigste Person im Haus. Abends schickte sie Luciano auf die Straße, wo er Touristen mit einer Polaroid-Kamera fotografierte und für die Abzüge einen fairen Preis verlangte. Das Geschäft lief gut. Luciano vergrößerte sein Revier. Endlich klapperte er wie ein Scherenschleifer die Küste der Götter ab.
Die Westküste Kalabriens erhebt sich über dem Tyrrhenischen Meer. Etrusker, Griechen, Römer, Vandalen, Normannen, Genueser, Spanier und Franzosen waren Luciano vorausgegangen. Er kam nach Gioia Tauro, bekannt für seinen Containerhafen. Viel kolumbianisches Kokain erreicht da Europa. Die Importeure tarnen sich als Olivenöl-Magnaten. Die 'Ndrangheta kümmerte sich um den jungen Mann. Sein anstelliges Wesen schrie nach Verwendung.
Die Arbeit als Fotograf lehrte Luciano das Handwerk des Regisseurs als einer Spielart der Herrschaft. Er inszenierte Szenen lebhafter Freude und einmaliger Augenblicke. Mochten sich die Leute fühlen, wie sie wollten, auf seinen Fotos fühlten sie sich sichtlich gut. Luciano begriff, dass er sie in Sekunden neu erschuf. Er war ein Verführer von Männern und Frauen, die ihm nichts bedeuteten. Er verachtete sie. Ihre Leichtgläubigkeit fand er lächerlich. Für seine Kunden war Luciano ein Erzeuger von Gegenwart.
Ein Capo nahm ihn mit nach Tropea. Vierzig Meter über dem Meer sitzt die Siedlung auf einem Felsen. Man sieht Stromboli. Luciano verwandelte weiter Leute in Bilder. Am besten gefielen ihm jene, die sich nicht bewegen ließen, die in ihrer Gleichgültigkeit die Kraft für eigensinniges Verhalten entdeckten. Sie nahmen sich die Fischplatte vor, schlenkerten eine Nudel zum Mund und schenkten sich nach, während ihre Angehörigen und Freunde auf den Strandräuber hereinfielen.
Schließlich schickte man Luciano nach Deutschland, wo er und seine Leute in Kraichhain der 'Ndrangheta eine Basis schufen. Der Großmutter unterstehen immer noch die Kassen im Familienbetrieb. Von Luciano verlangt die Matriarchin, dass er die weiblichen Familienmitglieder wie Männer behandelt.
Lieblingskind
Manchmal kommt Marion N., geschiedene Koyuncu, nach Kraichhain. Es gibt alte Verbindungen, Bekannte, Verwandte. Ihr Ex-Mann, der Unternehmer Adem Koyuncu, steht nie auf Marions Besuchsliste. Nora, die älteste Tochter der beiden, taucht ständig im Kaff auf. Ihre beste Freundin ist die einzige Tochter des Paten von Kraichhain. Luciano Montana gibt den zupackend-herzhaften Gastwirt und hilfsbereiten Nachbarn. Er kann alles besorgen. Wenn Sie ihn morgens um zwei aus dem Bett klingeln, weil Ihr Keller unter Wasser steht, hat er die Pumpe schon gut gelaunt in der Hand. Seiner Umgebung erscheint er gleichermaßen tüchtig und treuherzig. Seit einer Weile fühlt sich Nora auch zu Julias Bruder Jumbo hingezogen. Sie glaubt, dass ihre unbegrenzte Zugangsberechtigung im Reich der Montanas bei der Tarnung ihrer Absichten hilft. Die Vorstellung, Meister der Camouflage mit einem adoleszenten Repertoire hinters Licht führen zu können, verfehlt die Realität auf der ganzen Linie.
Familienleben in der Gaststätte. Jumbo hat ständig eine Hand in der Hose, als würde ihm da sonst was fehlen. Der älteste Sohn des Kalabresen will bestimmt nicht unmanierlich erscheinen. Seine Posen sind ihm nicht bewusst. Er steht im Zentrum groß-familiärer Obhut wie ein Mastochse angepflockt vor einem Nahrungsüberangebot. Jumbo ist nicht nur fett und faul, er ist auch von milder Gleichgültigkeit. Man hat ihn bis zur Formlosigkeit verwöhnt und seiner Eigenständigkeit beraubt. Er verschluckt Laute, sodass die Leute raten müssen, was er gesagt haben könnte, bevor er es selbst vergisst. Nora stört das nicht. Sie trägt ein Kleid, das so sitzt, dass sie darin nicht vernünftig sitzen kann.
Jumbo übersieht Noras Interesse an seiner Person. Er fährt lieber zur Casa della Chiocciola (Schneckenhaus), als sich den Belastungen einer festen Beziehung mit wiederkehrenden Verpflichtungen auszusetzen. Jumbo spürt Suchtdruck. Er braucht einen Schuss TV. Nicht, dass Sendungen im Nachmittagsprogramm ihn von Langeweile befreien könnten. Er ruft Luca, seinen jüngsten Bruder, weil er zu faul ist, selbst nach der Fernbedienung zu angeln. Lucas Hilfsbereitschaft tarnt Gerissenheit. Er peilt die Lage mit einem Blick. Luca durchschaut Jumbo mit der Erbarmungslosigkeit eines kühlen Kopfes. Er erkennt und würdigt das Potenzial seiner Eltern. Geld findet man im Haus der Montanas in jeder Ritze. Eis gibt es rund um die Uhr. Luca amüsiert der träge Sack, den Gott zu seinem ältesten Bruder gemacht hat. Das ist kein Gegner.
Adem kommt in die Trattoria, gerade als Nora an allen vorbeirauscht. Der Geschäftsbetrieb ruht noch, aber der Privatbär tobt. Nora spricht noch mit ihrem Vater, zumindest erwidert sie seinen Gruß, anders als ihre Schwester Ella, die am Tourette-Syndrom zu leiden beginnt, sobald „der Erzeuger“ ihr begegnet. Adem verlangt regelmäßig Entschuldigungen, die er nicht kriegt. Ella dreht vollkommen frei, sobald es um Adem geht. Jeder Versuch, sie einzuspinnen ins Vertraute und die alte Gemeinschaft wieder aufleben zu lassen, schlägt fehl. Ella sucht den Skandal. Angeblich belastet sie die Schande, von Adem abzustammen. Sie ist von Geburt an seine Lieblingstochter. Adem weiß, man soll kein Lieblingskind haben, und wenn doch, soll man es für sich behalten.
Kalabrischer Klan
Was zuvor geschah
Sie, meine verehrten Leserinnen und Leser, haben den Unternehmer Adem Koyuncu als Ich-Erzähler kennengelernt. Ich erhöhe die Wahrnehmungsreichweite mit einem Perspektivwechsel. Nun spricht ein Allwissender. Adem kommt in die Isola Bella, um sich mit seinem Geschäftsfreund Luciano Montana abzustimmen. Seine älteste, in einem rabiaten Scheidungskampf ihm entfremdete Tochter rauscht an Adem vorbei. Nora lebt bei ihrer Mutter. Als Freundin des Montana-Nachwuchses zählt sie zur Familie des Paten von Kraichhain. Adem betrachtet die Vertrautheit seiner Tochter mit dem kalabrischen Klan mit gemischten Gefühlen. Sorge ist die stärkste Empfindung in den Verhältnissen zu seinen Kindern.
So geht es weiter
Adem greift in eine Schüssel voller Cannoli siciliana - sizilianische Cannoli mit frischer Zitronen-Füllung. Die Waage in seinem Kopf schlägt sofort aus. Schlank zu bleiben ist die härteste Arbeit, die er sich abverlangt; ein Projekt seiner Eitelkeit, dem gerade der Kollaps droht. Luciano taucht aus einer Kellerluke auf. Er ist ein Mordskerl, immer lustig. Grenzenlos umgänglich. Sein bacchantisches Format verbirgt eine zweite Fassung, eine furiose B-Seite. Der Pate nähert sich dem dynastischen Unternehmer wie ein balzender Pfau. Er liebt die Übertreibung, das Grandiose und Geschmetterte. Der fulminante Auftritt seines Herrn treibt den Koch aus der Küche. Er muss auf dem Laufenden bleiben und darf die Stichworte des Abends auf keinen Fall verpassen.
Adem will gleich weiter. Das kommt gar nicht in Frage. Adem ist Gast des immer noch geschlossenen Hauses. Er muss die hausgemachten Spinat-Gnocchi in Pilzrahmsoße und Salsiccia al forno con patate probieren. Und das ist nur der Anfang. Beim Alkohol beißt der generöse Gastgeber auf Granit. Adem trinkt nur Wasser. Er nennt das Kaloriensparen, da wo es nicht wehtut.
Lucianos Isola Bella war der ewig rotweiß eingedeckte Lieblingsitaliener seiner Eltern. Die Wachsmanschetten an Flaschenhälsen und das von Plastikkrebsen bevölkerte Fischernetz wichen gemeinsam mit der Wurlitzer Musiktruhe schließlich einem sachlichen Schick. Die Eltern trafen manchmal erst abends um elf ein. Sie wären morgens um drei noch ohne Abstriche bewirtet worden. Sie rutschten von ihren persönlichen Gletschern in ein warmes Auffangbecken. Mensch sein dürfen hieß das. Nichts brachte die Wirtsleute aus der Ruhe. Sie erschienen immer gleich freundlich und das Personal schien nie zu wechseln. In Wahrheit wird in der Isola Bella kein Kellner alt. Die Trattoria ist ein Durchlauferhitzer. Junge Männer kommen und gehen. Alle tragen ihre Schürzen und Krawatten auf die gleiche locker korrekte Weise. Ich beobachte Anflüge von Förmlichkeit, sobald der Patron ins Spiel kommt. Mit Luciano spaßt man nicht. Keiner nimmt seine Söhne auf den Arm. Die Kinder des Paten stehen vor dem Lokal und sprechen mit einem älteren Verwandten, der Stunden in seinem Auto mit laufendem Motor sitzt, aber keine Zeit hat, auszusteigen.
Smalltalk der Körper
Von der Mimikry zur Mimese - Wer zu schwach, zu langsam oder zu unflexibel ist, darf nicht erst flüchten müssen, sondern muss schon (vor jedem Angriff) geflohen sein. Totale Vulnerabilität erfordert die Minimierung der Angriffsflächen in Verstecken. Das Hochamt in dieser Kirche des Überlebens ist die Unsichtbarkeit bei voller Präsenz. Man sitzt da, kann vom Feind aber nicht wahrgenommen werden. Das passiert, wenn die Tarntracht mit ihrem Hintergrund verschmilzt. Dazu gehört „die hohe Kunst des Farbwechsels“ (Axel Buether). Menschen praktizieren den Farbwechsel mit ihrer Kleidung. Sie liefern ihrer Umwelt Aufstiegs- und Abstiegsmarken.
Adem wittert eine Verschwörung. Seit zehn Minuten steckt sein Vertriebschef Morgan Freilich in einer Konspiration mit der Flüchtlings- und Fremdenverkehrskoordinatorin vor dem Café Arkana. Therese Gerster ist eine Nichte der Bürgermeisterin Sarah G. Im Rathaus residiert sie auf der Chefetage. Therese organisiert die Kraichhainer Filmfestspiele und kuratiert die Ausstellungen in der Bahnhofsgalerie. Ihr Hochmut fragt nicht nach den Erwartungen des Steuerzahlers. Zurzeit mutet sie Kraichhain Arte Povera von Michelangelo Pistoletto zu. Adem möchte nicht wissen, was das kostet, einschließlich der Versicherungen. Er traut Therese, in seinen Augen ist sie eine Hexe, alles zu, auch dass sie Kunst abgreift und in der Besenkammer neben dem Heimatmuseum hortet, dass ein Ahne der amtierenden Gerster unter dem Rathausdach in zwei Räumen einrichten ließ. Adem stellt sich Therese und Morgan in der Besenkammer vor - Honoratioren beim Smalltalk der Körper zum Bolero in einer Aufführung des Londoner Symphonieorchesters und der Deep Purple.
Der Gerster-Klan hält das Rathaus besetzt. Man ist CDU im Geist der CSU. Der Freistaat fängt vor der Tür an und färbt schon ab. Rechts von der Kraichhainer CDU beginnt eine menschenleere Öde. Auch die vorgeblich linksdrehende Therese löckt nicht wider den Sippenstachel. Politische Differenzen sind Dekor, wenn sich die Machtfrage stellt. Ein unverbrüchlicher, von Einfallsreichtum getunter Familiensinn, bestimmt alle Gerster. Was Therese von der christdemokratischen Karrieristin auf dem Thron trennt, steht in keinem Parteibuch.
Therese wringt ihr Haar. Adem ist nicht sicher, ob er eine Geste der Verzweiflung beobachtet, oder, ob Therese wie Rapunzel für Morgan ihr Haar herunterlassen möchte. Morgans geistige Hartleibigkeit macht Therese zu schaffen. Die Caféchefin gesellt sich zu den Verschwörern. Sina war in Fulda auf dem Domgymnasium, während die spätere Fremdenverkehrsfee im Betrieb eines Onkels Werkzeugmacherin lernte. Ja, Therese ist zwar eine Intellektuelle, aber keine Akademikerin.
Adem richtet seine Antennen aus. Sina, Therese und Morgan reden über den Zauberkasten. Morgan soll Adem empfänglich machen für Thereses Wunsch, Aleko-Schuh in ein Auffanglager zu verwandeln. Adems Empörung erzwingt einen kindlichen Trost. Er kehrt zur Isola Bella zurück und nimmt zwei Kugeln Stracciatella von Nonna Montana persönlich entgegen. Sie herrscht mit den Eigenschaften eines Greifvogels. Ihre Enkel sind weich und bequem, sieht man von Luca ab.
Vorgetäuschte Entrückung
Die Isola Bella steht für das moderne Verbrechen, während im Eisensteiner Stier die eingesessenen Gangster an ihrem Stammtisch vergreisen. Ihre Grundstücke nennen die dynastischen Kraichhainer Länder, wie zu den Zeiten, als man noch Güter herrschaftlich bewirtschaftete. In den 1960er Jahren kaufte Adems Großvater von ihnen spekulativ Äcker, die dann doch nicht Bauland wurden.
Man spielte dem alten Zauberer übel mit. Kein Geburtsrecht sicherte ihm einen Platz in der Fraternität Marienwerk, die sich auf eine vom Papst bedachte Gemeinschaft beruft und einen informellen Senat bildet, an dem kein Bürgermeister vorbei regieren kann. Die organisierte Nächstenliebe reicht von der Geldwäsche bis zum Exorzismus.
Teufelsaustreibungen sind eine Spezialität der Bruderschaft, in der Schwestern mittun. Austreibungen finden weltweit statt. Eine im Vatikan archivierte Schirmherrschaft des von Karl dem Großen gegründeten Königsklosters Neustadt am Main schützt die religiöse Bande. Das ist eine mafiöse Struktur. Dagegen erscheint Luciano Montana als Waisenknabe, jedenfalls so lange niemand ins tödliche Detail geht. Der kalabrische Pate gönnt sich ein Eis auf dem Rathausvorplatz. Nicht zum ersten Mal sucht er sein Verhältnis zur Kunst vor Ort. Aus einem mit Kopfsteinpflaster verniedlichten Oval ragt eine Stele. Der Künstler ist in der weiten Welt vollkommen unbekannt. Interessanterweise fordert sein Beitrag zur Moderne im öffentlichen Raum keinen Bürgerunmut oder jugendlichen Vandalismus heraus. Bisher gab es keine Verschönerungen, die entfernt werden mussten. Ein Protegé der Kraichhainer Kulturbeauftragten Therese Gerster hat das Werk verbrochen. Die Nichte der Bürgermeisterin steht im Mittelpunkt eines Auflaufs vor dem Café Arkana. Eine der schrägsten Gestalten des Landkreises erweitert gerade den Kreis. Der Modelleisenbahner und Hobbyfotograf Olm gestaltet gemeinsam mit Therese den Heimatkalender Landliebe. Er zeigt Leute wie du und ich zwischen Tür und Angel einer restaurierten Backstube, auf dem Traktor oder elegisch mit Forke vor einem Misthaufen. Therese selbst hat sich auf einer Eisenbahnbrücke mit traumhaften Bögen im Zustand vorgetäuschter Entrückung fotografieren lassen. Olm ist seit seinem vierzehnten Lebensjahr in der freiwilligen Feuerwehr aktiv. Als Thereses Hoffotograf hat sich der Spanner neu erfunden. Er verkörpert jetzt eine um sich greifende Persönlichkeit, nach Jahren, in denen sein Leben geschlossen hatte wie ein Edeka am Sonntag (in den 1970er Jahren). In den Heftchenromanen vom Bahnhofskiosk kamen seine Vorlieben nicht vor.
Rausch als Antwort auf die Erfahrung Einsamkeit. Olm stand noch nicht einmal das Volkshochschulvokabular für seine Wünsche zur Verfügung. Saß er mit der Mutter vor dem Fernseher, dachte es mörderisch in ihm: Die Alte hat Schuld. Sie hat das Monster zur Welt gebracht. Alles war alt. Die Decken, das Sofa, der Fernseher. Das Haus, die Fensterläden, der Aufgang. Alles sah so aus, als wäre es schon immer alt gewesen. Auch die Mutter sah so aus. Ihre Liebe gab sich nicht zu erkennen. Dabei hätte einen die Mutter doch wenigstens lieben müssen, wenn sie sonst schon nichts für einen tun konnte.
Kalabrischer Klan
Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, haben den Unternehmer Adem Koyuncu als Ich-Erzähler kennengelernt. Ich erhöhe die Wahrnehmungsreichweite mit einem Perspektivwechsel. Nun spricht ein allwissender Erzähler. Adem kommt in die Isola Bella, um sich mit seinem Geschäftsfreund Luciano Montana in einer eher unbedeutenden Angelegenheit abzustimmen. Seine älteste, in einem rabiaten Scheidungskampf ihm entfremdete Tochter rauscht an Adem vorbei. Nora lebt bei ihrer Mutter. Als Freundin des Montana-Nachwuchses zählt sie zur Familie des Paten von Kraichhain. Adem alarmiert, eher noch verängstigt die Vertrautheit seiner Tochter mit dem kalabrischen Klan. Da sind nicht bloß gemischte Gefühle. Sorge ist Adems stärkste Empfindung, sobald es um seine Kinder geht. Wir reden hier von drei leiblichen und zwei angenommenen, nach allen Seiten ausschlagenden Persönlichkeiten.
So geht es weiter
Adem greift in eine Schüssel voller Cannoli siciliana - sizilianische Cannoli mit Zitronen-Füllung. Die Waage in seinem Kopf schlägt sofort aus. Schlank zu bleiben ist die härteste Arbeit, die er sich abverlangt; ein Projekt seiner Eitelkeit, dem gerade der Kollaps droht.
Luciano taucht aus einer Kellerluke auf. Er ist ein Mordskerl, immer lustig. Grenzenlos umgänglich. Sein bacchantisches Format verbirgt eine zweite Fassung, eine furiose B-Seite. Der Pate nähert sich dem dynastischen Unternehmer wie ein balzender Pfau. Er liebt die Übertreibung, das Grandiose und Geschmetterte. Der fulminante Auftritt seines Herrn treibt den Koch aus der Küche. Er muss auf dem Laufenden bleiben und darf die Stichworte des Abends auf keinen Fall verpassen.
Adem will gleich weiter. Das kann er sich abschminken. Adem ist Gast des immer noch geschlossenen Hauses. Er muss die hausgemachten Spinat-Gnocchi in Pilzrahmsoße und Salsiccia al forno con patate probieren. Und das ist nur der Anfang. Beim Alkohol beißt der generöse Gastgeber auf Granit. Adem trinkt nur Wasser. Er nennt das Kaloriensparen, da wo es nicht wehtut.
Die Isola Bella war der ewig rotweiß eingedeckte Lieblingsitaliener seiner Eltern. Die Wachsmanschetten an Flaschenhälsen und das von Plastikkrebsen bevölkerte Fischernetz wichen gemeinsam mit der Wurlitzer Musiktruhe schließlich einem sachlichen Schick. Die Eltern trafen manchmal erst abends um elf ein. Sie wären morgens um drei noch ohne Abstriche bewirtet worden. Sie rutschten von ihren persönlichen Gletschern in ein warmes Auffangbecken. Mensch sein dürfen hieß das Programm zum Feierabend. Nichts brachte die Wirtsleute aus der Ruhe. Das Personal schien nie zu wechseln. In Wahrheit wird in der Isola Bella kein Kellner alt. Die Trattoria ist ein Durchlauferhitzer. Junge Männer kommen und gehen. Alle tragen ihre Schürzen und Krawatten auf die gleiche locker korrekte Weise. Adem beobachtet Anflüge von Förmlichkeit, sobald der Patron ins Spiel kommt. Mit Luciano spaßt man nicht. Keiner nimmt seine Söhne auf den Arm. Die Kinder des Paten stehen vor dem Lokal und sprechen mit einem älteren Verwandten, der Stunden in seinem Mercedes S 600 mit laufendem Motor sitzt, aber keine Zeit hat, auszusteigen.
Esoterisches Hochamt
„In jedem Augenblick tauchen wir in ein Feld undifferenzierter Materie ein, aus der unsere Sinne Informationsfetzen sammeln.“ Rick Rubin
Authentizität ist das Neppwort des Jahres. Adem vergleicht Steffis Älteste mit einem gefärbten Weißling (Dismorphia amphione), der unter falscher Flagge in einer Schar prächtiger Nachtfalter fliegt. Der Ziehvater fragt sich, wann Arianna auffliegen wird. In diesem Moment kommt sie spaghettiträgerisch um die Ecke und sucht den Schulterschluss mit ihrem Versorger.
Machen wir uns nichts vor. Das ist der Deal: Adem ermöglicht, sprich finanziert Steffis Kindern eine solide Ausbildung und verhilft ihnen als Unternehmer und Erbe einer eingeführten Firma zu einem hohen Status, und im Gegenzug stellt Steffi kaum je Ansprüche. Sie löffelt aus, was sie sich eingebrockt hat. Sie zahlt für Fehler, die sie ‚Jugendsünden‘ nennt. Erachtet Steffi ihre Töchter als Jugendsünden?
Das ist eine ungeschönte Version.
Arianna heuchelt Interesse für Adems esoterische Hochämter. Auch jetzt bittet sie wieder um Erklärungen. Adem fühlt sich gestört zwischen seinen Mineralaggregaten. Er nimmt Ritualhandlungen in der schützenden Aura großkalibriger Amethyst- und Calcit-Drusen vor. Vor seinem geistigen Auge manifestieren sich prähistorische Konstellationen, die unmittelbar auf die Gegenwart wirken. Er befragt Wächter, die Adems Gen-Dynastie schon dienten, als ihre Herrschaften die menschliche Gestalt noch nicht angenommen hatten.
Adem schätzt Ariannas mediales Potential gering; anders als ihre Schwester Chisoma, die den Teufel im Leib hat.
*
Dies ist beinah das Ende der Geschichte. Ich will mich nicht mit durchsichtigen narrativen Manövern aufhalten, sondern in der Schlussphase dem arrondierenden Element mehr Raum geben. Während der Recherche saß ich mit Adem, Steffi und den Töchtern in der Küche der Familie, die zuvor die Küche der ersten Familie gewesen war, die Adem gegründet hat. Seine Ziehtöchter streckten sie da in jugendlichem Unbehagen, wo vorher die leiblichen Kinder agiert hatten. Arianna und Chisoma zeigten sich zurückhaltender und befangener als es vermutlich die Erbberechtigten gewesen wären. Die Situation war voller Interferenzen. Für mich fühlte es sich so an, als würden die Töchter ihrer Mutter unter die Arme greifen und deren Position mit gefälligem Verhalten stärken. Der soziale Krampf überlagerte all das, was eigentlich im Vordergrund hätte stehen sollen, nämlich der in der dritten Generation esoterisch begründete Reichtum.
Als mir Adem von seinen Geistern und Biestern erzählte, hatte ich keine Referenz. Jahre später las ich in einem Buch von Alexander Kluge etwas, dass für mich zur Brücke wurde. Kluge schreibt:
„(Die Virologin) Karin Mölling hat mir von einem Element in unserem Erbgut erzählt. Das ist ein über fünf Millionen Jahre altes Virus. Das ist übergelaufen zu den Vorfahren von uns, als wir noch nicht Menschen waren …
We have information which are older than humanity. All of the body's reactions have genetic roots that goes back billions of years. As soon as we leave the thermoneutral zone, everything revolves around restoring homeostasis. Almost all genetic variants have their origins in evolutionary events long before our journey starts. And this is where epigenetics begins. Frei nach David A. Sinclair
… Es sitzt in uns und verteidigt uns immer noch wütend und träumend gegen Gefahren von Bakterien und Viren von vor fünf Millionen Jahren. Die Gegner unserer Vorfahren, die hier abgewehrt werden, gibt es längst nicht mehr. Wenn wir mit diesem Urvirus und Überläufer, der wie ein Hugenotte nach Preußen in unser Erbgut überlief, sprechen könnten, hätten wir vermutlich Zugang zu einem Universalimpfstoff.“
Seit ich diese Einlassung kenne, bilde ich mir ein, Adem etwas besser zu verstehen.
Die Wüsten von Europa
„Ich schreibe auch Dinge, die ich nicht verstehe. Ich lasse sie in meinen Büchern stehen und lese sie wieder, und dann bekommen sie einen Sinn.“ Marguerite Duras
*
„Unser Zentralnervensystem ist eine gigantische energetische Bibliothek, in der alles hinterlegt ist, was sich je in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ereignet hat.“ Thomas Hübl
In jedem Gasthaus sitzt einer, der was weiß und der wen kennt. Zum Beispiel kennt er einen freien Mitarbeiter vom Fulda Kurier, dem sollte mal jemand stecken, wie eigenmächtig und selbstherrlich die Gerster-Gang in Kraichhainer Rathaus vorgeht. Oder was Adem Koyuncu mit Luciano Montana zu tun hat. Deutsches Unverständnis für kalabrische Eigentümlichkeiten animierte Luciano einst zu der Bemerkung: Wir vom Carbonara-Clan wissen inzwischen auch, was Umweltschmutz wert ist.
Und wieder einmal sind die Koyuncus zu Gast in der Isola Bella; wenn auch in einer relativ neuen Besetzung. Luciano begibt sich zu Adem und dessen Zweitfamilie. Er nimmt Silvis Töchter in Augenschein. Man könnte mit ihnen einen Animationsfilm für die Willkommenskultur drehen. Die Flüchtlinge und der Terror bestimmen die Tagesordnung. Angela Merkels „Wir schaffen das“ und Barack Obamas „Yes we can“ liefern dem Augenblick die Slogans. Das Jahr hat in Paris hart angefangen. Am 7. Januar 2015 erschossen Islamisten zwölf Menschen in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“. Es gab Brandanschläge auf Notunterkünfte und weitere Ausschreitungen. Vor ein paar Tagen zogen Polizisten auf einer österreichischen Transitstrecke einundsiebzig Passagiere tot aus einem Lastwagen.
Ohne die Ausbeutung des Globalen Südens seit den westindischen Abenteuern des Kolumbus wäre Europa zu schwach, um auch nur eine Grenze zu halten. Die alten Kolonialreiche erheben als Demokratien weiterhin Anspruch auf Überlegenheit. Sie wollen die Armut an einem anderen Ende der Welt festhalten. Jahrhundertelang konnten sie vom Überschuss junger Männer über die Lohnkosten und den Müll bis zu ihren Schwerverbrechern Belastungen exportieren und sonst wo vergesellschaften. Nun formuliert sich der europäische Standpunkt auf einem Berg von Leichen, der zur Abschreckung täglich im Fernsehen gezeigt wird.
Adem sieht Massengräber der Hoffnung, ausgehoben von Schergen an der Peripherie. Die Migranten geraten aus Metropolen in ewignächtliche Randgebiete. Sie entdecken die Wüsten von Europa. Der Dschungel von Calais bricht durch den Asphalt der Pariser Boulevards. Die Bestie Europa reißt und frisst, bis sie gefressen wird. Luciano kennt einen Dreh, aus den Flüchtlingen Geld herauszuholen. Er weiß, wie man die Ärmsten schröpft. Darüber will er mit Adem gelegentlich reden. Der alte Verbrecher betrachtet sich als Freund der Koyuncu-Familie, egal wie sie sich gerade zusammensetzt. Luciano und Adem haben ein gemeinsames Baby, von dem nicht viele wissen; eine Bettenburg in der Pampa von Kraichhain.
Kein Himmel für Höhenflüge
„Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie mit mir sprächen.“ Adorno in einem Brief an Thomas Mann
Die ersten Kampfhandlungen waren kaum alarmierend. Ab und zu mal ein Schusswechsel oder eine Detonation weit weg. Ein Viertel verlor seine Durchlässigkeit. Die Topografie wurde abenteuerlich. Zwei bewegten sich nach den Spielregeln der Liebe aufeinander zu. Alima tarnte ihre innere Unabhängigkeit mit religiösen Symbolen. Sie emanzipierte sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Es gab keinen Himmel für ihre Höhenflüge. Alles musste sich heimlich vollziehen. Wie dann auch der Abschied.
Auf Mykonos endete die Europareise erst einmal in einem Lager. Ein dänischer One-World-Aktivist schleuste Alima und Said in die Freiheit. Said bezeichnet den Helfer als Passeur – Fährmann. Er wäre lieber nach London gegangen, aber Alima wollte nach Deutschland.
Alima und Said sitzen im Konferenzraum des Zauberkastens. Adem beschäftigt die syrischen Akademiker als Produktionshelfer. Etwas anderes hat er nicht für sie. Ab und zu verbringt der Chef eine Kaffeepause mit dem weltläufigen Paar, zur Erweiterung seines Horizonts.
Alima und Said sind viel zu höflich, um Adems Provinzialität beim Namen zu nennen. Said ist in London zur Schule gegangen. Er liebt den englischen Nebel und die Zauberstimmungen keltischer Landschaften. Er hat schon früh alles für vorläufig zu halten gelernt.
Adem mimt den guten Zuhörer. Said wirkt auf ihn nicht besonders unternehmungslustig. Alima ist die treibende Kraft. Sie prüft die Lage und guckt, was geht. Adem bemüht sich um einen weichen Übergang, in Anbetracht der Tatsache, dass Alima und Said weiterarbeiten müssen, während auf ihn nach dem Mittagessen ein Wassersportvergnügen wartet. Für seine Vorgänger wäre soviel Freiheit das Grauen gewesen. Sie waren mit all ihrer Kraft Betriebsmotoren. Ohne sie lief alles falsch. Sie wirkten mit schierer Präsenz. Adems Vater herrschte mit der Bereitschaft zum Verzicht und zur Selbstverausgabung. Die Selbstverleugnung ging bei ihm viel weiter als bei seinem selbstherrlichen Erzeuger.
Ignorierter Nachwuchs
Adem riecht nach Garibaldi von Abbate Y La Mantia, seine Frisur ist von Meisterinnenhand. Molina Beretta, Enkelin eines Geschäftsfreundes von Luciano Montana, gibt der erfolgreichen Integration ein Gesicht. Sie führt den Salon Latin Lover in der Frankfurter Straße.
Ohne Voranmeldung geht nichts. Als Kunde muss man sich hochdienen, Geduld haben und Zeit mitbringen. Wer bei Molina ein Stein im Brett hat, darf vorbei schneien, sich nach dem Befinden der Familie erkunden, einen Caffè trinken, eine Zigarette im Laden rauchen und sich endlich Molinas Gestaltungswillen ergeben.
Adem passiert den seit Ewigkeiten verrammelten Eingang der Bahnhofsgaststätte. Die Drehscheibe war in seiner Jugend ein Geheimtipp für World’s End-Stimmungen wie in den Filmen von David Lynch und Jim Jarmusch. Amerikanische Soldaten wirkten stilbildend auf Schüler. Ab und zu gab Adem da den Zaungast. Man war freundlich zu ihm in der Jim Beam-Höhle. Die lokalen Schluckspechte ignorierten den Nachwuchs in ihrem Revier. Ihnen war alles recht, solange die Spritpreise nicht stiegen.
Die Amerikaner verbesserten die Performance deutscher Rocker. Sie gaben Nachhilfeunterricht in Lässigkeit. Viele waren in Fulda und in Hersfeld stationiert. McPheeters Barracks hieß das Barackenkonglomerat in Bad Hersfeld, das die US Army von 1945 bis 1993 nutzte. Niemand unterrichtete die GIs in hessischer Landesgeschichte. Sie wussten nicht, wo sie gerade verloren gingen oder anderen rieten, zügig abzuhauen. Keine Ahnung hatten sie, dass Fulda zum Herzogtum Ostfranken gerechnet und 1114 zum ersten Mal als Stadt erwähnt worden war.
In der Bahnhofsstraße versucht ein Inder sein Glück mit einem Internetcafé. Er kommt zu spät. Genauso gut könnte er einen Telefonladen aufmachen oder ein altes Tabak Trafik wiederaufleben lassen, dass in den 1990er Jahren an dieser Stelle den Betrieb eingestellt hat, weil es keine anspruchsvollen Raucher mehr gab.
Adem erinnert Liebhaber exotischer Marken, die mit Zigarrenkisten und Zigarettenstangen aus dem Laden kamen, um auf dem Trottoir in ein Gespräch verwickelt zu werden, dass sich garantiert an den beiden großen Themen Geschäft und Familie entzündete. Ihre Respektabilität stand außer Frage. Damals verbaute man Naturstein und der letzte Schrei war ein in einem gestuften Rahmen tiefliegendes Wohnzimmer voller Bäume in Kübeln.
Adem hat sich in Indien umgesehen. Eine Weile trieb ihn die Idee an, im Ausland zu expandieren. Doch schließlich empfahl er sich: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Er betritt den Laden, von Neugier wie an einer Schnur gezogen. In dem ursprünglichen Verkaufsraum stehen gebrauchte Einrichtungsgegenstände wie auf einem Trödelmarkt. Die Kasse ist verwaist. In den Regalen hinter dem Schalter stecken Süßigkeiten, die Adem noch nie gesehen habe. Die Leute an den alten Rechnern in dem Raum, der früher das Lager war, gehören vermutlich zur Familie.
Natürliche Hohlräume
Adem hat sich in seinem eigenen Kaff verirrt. Jedenfalls fühlt er sich so in dem Internetcafé, dass ein ahnungsloser Inder in den Räumen eines einst gediegenen, bereits vor zwanzig Jahren in der fünften Generation erloschenen Tabakwarenfachgeschäfts (vormals Kolonialwaren) eröffnet hat. Seit der Liquidation des Schips'schen Zigarren-Imperiums fand vor Ort nur noch Murks statt. Das Scheitern in all seinen Facetten uferte aus und diente dem lehrreichen Klatsch. Trotzdem passt die Tapete noch zu den Vorhängen. Die floralen Motive haben einen Fin de Siècle-Stich. Nicht, dass Adem so etwas erkennen könnte. Der Feuerlöscher klemmt als Fremdkörper auf einer verschrammten Täflung.
Wie schnell sich die Dinge an einem vorbei entwickeln. Eben noch obenauf ist man im nächsten Augenblick schon abgehängt. Eine böse Vorahnung meldet sich bei Adem. Seit dem Niedergang des Warschauer Pakts wähnt er sich in der VUCA-Welt.
VUCA ist ein Akronym aus Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity.
Ursprünglich stand das Stammhaus der Händler-Dynastie im östlichen Vorland. Da unterbrach die Werra einen Handelsweg von Nürnberg nach Leipzig. In Kraichhain führt die Nürnberger Straße zum Leipziger Tor. Nichts erinnert an einen Durchgang; nichts an Routinen, die bis nach Nürnberg reichten. Zur ersten Jahrtausendwende war das Markt- und Münzrecht von Fürth auf die salische, das heißt edelfränkische Krondomäne am Keuperfelsen (dem Sitz der Kaiserburg) übergegangen. Privilegien machten Nürnberg groß und brachten ein Geschlecht der Stadt ins Spiel der Weltpolitik. Die Zollern fingen um das Jahr 1190 als kaiserliche Hausmeister von Saliern und Staufern an, nach den Sternen des Reiches zu greifen.
Als bis Kassel längst jede Blindschleiche vorgab, christlich zu sein, schworen weiter im Osten Sachsen und Slawen noch auf die alten Götter. Vor dem Jahr Tausend unserer Zeitrechnung erreichten Händler eine slawische Siedlung in einem Lindenkreis, wenn sie nach Leipzig kamen. Die Fürsten der Gegend begriffen den Herrschaftsnutzen des Christengottes noch nicht. Das Christentum war ein Brechmittel im Einsatz gegen lokale Festungen. Jede Herzogstaufe verband sich mit Entwürdigungen, die im kollektiven Gedächtnis unter dem Schlüsselwort zu Kreuze kriechen abgespeichert sind. Auch dies variiert das Thema der transgenerationalen Weitergabe von Informationen. Man muss Erfahrungen nicht machen, um von ihnen geprägt zu werden. Das vorchristliche Konzept leitete sich von der Vorstellung ab, dass menschliche Selbstbehauptung auf dem Sockel eines Arrangements mit fordernden und gewährenden Jenseitskräften gelingt. Es gab einen fabelhaften Himmel, der Verhandlungsspielräume mit den Göttern und Respekt vor den Göttern anderer Leute bot. Der monomane Alleinvertretungsanspruch des Christengottes gestattete keine Kompromisse. Deshalb verwahrten sich viele heimlich dagegen und blieben in Generationen Christen nur zum Schein. Sie zeigten sich an in Giebelritzungen der Suebenfaust und des Chattenzeichens. Sie trafen sich in der Klingenbacher Aue. Die Götterminne hielten sie in Mulden, Nischen und anderen natürlichen Hohlräumen ab.
Schreckenskammern der Kindheit
Adem inspiziert die vollendete Tristesse eines mit gebrauchten Rechnern bestückten und mit Sperrmüll möblierten Internetcafés. Aufgeschwemmt von hochmütiger Ablehnung, registriert er die Details. In dieser Bruchbude stößt ihn alles ab, einschließlich der vertrockneten Topfpflanzen. Der Inhaber lässt sich ewig nicht blicken. Endlich kreuzt jemand auf, der zur Erbärmlichkeit der Verhältnisse passt. Adem findet die Flohmarkt-Koryphäe unerträglich selbstbewusst. Mimisch deutet der Café-Chef an, dass er zu beschäftigt ist, um sich anzuhören, was Adem zu sagen hat. Als Kunden nimmt er die modernste Version eines Patriarchen nicht wahr. Offenbar hält er Adem für einen Behördenvertreter, der gekommen ist, um das Café dichtzumachen. Ungerührt öffnet er einen Karton und nötigt Adem den Anblick von unverpacktem, abstoßend zusammengebackenem Süßkram auf.
Adem fühlt sich zurückgeworfen in die Schreckenskammer Kindheit. Er sitzt mit seinem Bruder Birol auf der klebrigen Rückbank eines brüllend heißen Autos. Die beiden sind mit Laufgeschirrleinen fixiert. Sie haben genug Bewegungsfreiheit, um sich zu traktieren. Adem greift Birol in die Haare, furchtbar erbost.
Das brüderliche Faustrecht sagt: du oder ich. Birol wehrt sich mit der Wut des Schwächeren. Er wird nie jene Macht beanspruchen können, die Adem selbstverständlich ausübt. Adem ist der Alleinerbe des alten Zauberers. Kindlich beansprucht er eine Vormachtstellung. Birol bleibt im weiteren Verlauf der Reibereien gar nichts anderes übrig, als Bündnisse anzustreben, die ihn in den Konfrontationen mit dem Älteren stärken. Der Keim des Verrats liegt in der Schwäche.
Der Inder hält an seiner stummen Reserve fest. Er schweigt sich vor der vermeintlich amtlichen Erscheinung aus. Die Tür fliegt auf, und Chisoma segelt in den Laden. Ihre Pupillen sind geweitet. Silvis jüngste Tochter sieht so aus, als sei sie gerade noch einmal mit dem Schrecken davongekommen.
Sie grüßt den Inder wie einen Kumpel. In der verbindlichen Ansprache steckt eine Frage. Chisoma rauscht durch bis zu der Rechnerbatterie, bevor der Inder reagiert: „Nummer drei.“
Im Zauberkasten stehen Chisoma drei iPads der vierten Generation zur Verfügung. Wozu braucht sie den Müll des Inders? Dieses Drecksloch ist selbst für die einheimischen Versager zu abgewrackt.
Adem schnappt sich seine Ziehtochter, sie ist in dem Alter der Rekordumschwünge. Eben noch von allen Furien gehetzt und im nächsten Augenblick im Was-kostet-die-Welt-Modus. Geistesgegenwärtig aller adoleszenten Theatralik vorbeugend, lässt Adem die Szene völlig selbstverständlich erscheinen. Er bietet Chisoma an, sie nach Hause zu fahren. Sie steigt zwar in den Audi, schottet sich aber ab. Unter ihr seufzt das Material. Erst kurz vor dem Zauberkasten erlaubt sie sich eine Bemerkung. Adems entgegenkommende Entgegnung lädt sie dazu ein, den nächsten Satz mit Papa enden zu lassen.
Kindheit im Kühlschrank
„Wir sind Überlebensmaschinen - Roboter, blind, programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.“ Richard Dawkins
Von den Eltern verlassen, bei Verwandten aufgewachsen - das Schicksal von „Gastarbeiter“-Kindern türkischer Herkunft ist im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft bis heute nicht vorhanden.
In der Ära der Anwerbung ging es nur um die Arbeitskraft. Das erste Abkommen mit der Türkei kam 1961 ohne Berücksichtigung der Kinderfrage zustande. In der deutschen Administration ersetzte man „Fremd“ mit „Gast“, um die Arbeiter dann wieder fast genauso unterzubringen wie gehabt: Das heißt konzentriert in Baracken. Die Perspektiven koinzidierten: alle gingen von kurzer Dauer der Arrangements aus. Kinder wurden bei den Großeltern geparkt. Das ist ein ausgespartes Thema. Mitunter hielten die Zurückgelassenen die Großeltern für ihre Eltern. Wenn sie dann nach Deutschland verbracht wurden - in der Konsequenz mutierter Lebensplanungen - kollabierte ihre stärkste Bindung unbesprochen. Nun konnten die gesetzlichen Eltern schlecht erklären, warum sie den nachkommenden Nachwuchs erst einmal ausgeschlossen hatten.
„Das zurückgelassene Kind entwickelt Schuldgefühle“, erklärt Gülcin Wilhelm, siehe „Generation Koffer. Die Pendelkinder der Türkei“. Das Kind vermutet Gründe für die Isolation in der eigenen Unzulänglichkeit. „Aus dem Muster der Selbstverurteilung rührt der Drang, sich extra zu beweisen“, in der vergeblichen Hoffnung auf immediate-return. Gülcin Wilhelm findet dafür das Bild: „Du wirfst einen Stein nach dem anderen in einen bodenlosen Brunnen“.
Trainingssache Mutterliebe
„Es gibt keinen Mutterinstinkt“, sagt Gülcin Wilhelm. Auch Mutterliebe ist Trainingssache. Da gerieten in vielen Konstellationen Fremde aneinander und sollten sich doch als Familie verstehen. Wie darüber reden?
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Könnte Adem den Geisteswissenschaften eine angemessene Bedeutung zubilligen, fiele es ihm leichter etwas zu verstehen, was in seiner Familiengeschichte nie aufgeklärt wurde. Die Aufklärung führt zu einem Abgrund. Der Abgrund tut sich dann auf, wenn einer erkennt, dass er für die gefühlskalte Mutter keine unerwiderten Gefühle aufgebracht hat. Eine Kindheit im Kühlschrank.
Wohnzimmersonntag - Eine Rückblende
Ein öder Wohnzimmersonntag in den 1970er Jahren. Die Schokoladentorte versöhnt Adem mit der Langeweile. In der Plattentruhe steigen und fallen die Schallplatten in einem magischen Geschehen. Rudi Schuricke ist Oma Erikas Mann am Mikrofon. Rudi Schuricke war ein Star von „Hitlers Hitparade“ - so der Titel eines Films von Oliver Axer und Susanne Benze. Erika Hölzenbein ist natürlich nicht Adems Oma, sondern die Schneiderin seiner Mutter. Erikas Wohnzimmer bleibt unter der Woche geschlossen. Die meisten Möbel und so auch das Sofa sind so lange abgedeckt. Am meisten interessiert Adem eine Schallplattenvitrine mit Intarsien. Die Vitrine firmiert als Truhe und glänzte neben einem Vertiko. Die Maschine ist der teuerste Gegenstand, den Oma Erika besitzt.
Ihr Alltag spielt sich in der Küche ab. Da bäckt sie für den Besuch Pfannkuchen oder füllt mit dem Teig die Negativform eines schweren, jugendstilistisch verzierten Waffeleisens. Als Frau eines Verschollenen mit zwei Kleinkindern und einem Baby war Oma Erika nach dem Krieg kaltgestellt worden. Während ihr fast alles peinlich ist, tritt ihre Schwester Erna mit dem weltweit kopierten Schwung von Marika Rökk auf. Das ist Oma Erika erst recht peinlich. Erna lacht herzlich über ihre genante (von genieren) Schwester. Sie fegt Oma Erikas Bedenken vom Tisch, aufgehellt vom mitgebrachten, im Einkaufsbeutel flaschenweise herumgetragenen Likör, dem Erna ausdauernd zuspricht. Oma Erika nippt hasenherzig mit hochgezogener Oberlippe. Erna kippt. Sie schließt den Vorgang ab, indem sie sich mit dem Handrücken tatkräftig über den Mund fährt. Erna ist den leichten Weg gegangen. Sie hat einen Ami geheiratet. Onkel Bob aus dem Sonnenstaat Florida. Er fährt zwar einen Straßenkreuzer, der doppelt so breit ist wie ein Opel Admiral, vermeidet sonst aber alles Auftrumpfende.
Jahrzehnte später besuchen Adem und seine Ehefrau Marion Erika und Bob in Cedar Key am Golf von Mexiko. Eine Inselgruppe vor der Küste heißt Cedar Keys. Bob zeigte den Gästen die Gegend und so kommen sie dahin, wo Rosewood einst existierte. Rosewood ist heute eine Wüstung. Der nach einem Massaker an der überwiegend Schwarzen Bevölkerung 1923 aufgegebene, rund fünfzehn Kilometer östlich von Cedar Key gelegene Ort, ging 1847 aus einem Holzfällercamp hervor. Cedar bedeutet Zeder. Auch Rosewood bezieht sich auf (die Farbe der) Zeder. Zedern stifteten dem Weiler eine kleine Industrie. Zu einem Sägewerk kamen Holz- und Kiefernölmühlen (Terpentinmühlen). Nach dem Sezessionskrieg erhielt Rosewood einen Gleisanschluss. Es formierte sich eine Schwarze Gemeinschaft.
Die weiße Lüge
1923 behauptete eine verheiratete Weiße namens Fannie Taylor nach einem handfesten Streit mit ihrem weißen Liebhaber, von einem Schwarzen angegriffen und verletzt worden zu sein. Fannie Taylor brauchte eine Erklärung für ihre Blessuren, die sie nicht als Ehebrecherin desavouierten. Die weiße Lüge löste einen Pogrom aus. Die Schwarzen kämpften. Die Zahl der Toten auf beiden Seiten ging in politischen Feststellungen unter.
Kommunale Aussprache
Sarah Gerster erreicht den Stammtisch des Marienhilfswerkes Kraichhain im Eisensteiner Stier, der neben dem Runden Tisch im Gemeindehaus seit Jahrzehnten der kommunalen Aus- und Ansprache dient. Wirtstochter Iris liefert prompt ein Damengedeck, bestehend aus „Stierkopf komplett“, eine Kurzform für Bier und Schnaps. Sarah sitzt noch gar nicht, da stehen die Getränke schon an der amtlichen Stelle. Die Bürgermeisterin bestellt ein Zwiebelmettbrötchen. Dann unterzieht sie sich dem Procedere der Begrüßung der Stammtischschwestern und -brüder.
1530 ließ Karl V. die Feststellung zu Papier bringen, das Land zwischen Frankfurt und Würzburg sei voller Hexen und heimlicher Versammlungsstätten. Protestantismus, Missbildungen, Unfruchtbarkeit, Impotenz, Brände, Koliken und plötzlicher Wohlstand kamen nach gelehrter Auffassung von daher.
Wo war es denn noch ruhig und katholisch?
1573 gründete ein Vorfahre der Bürgermeisterin die Fraternität Marienwerk als Basis für einen katholischen Schulterschluss gegen eine Flut von Feinden. In Fulda zeigte er eine Magd an, da er sich von ihr verflucht wähnte. Mehr als ein Gerster zählt heute zu den Verschworenen des Marienhilfswerkes.
Sarah beäugt den neuen Koch, ein Unikum aus der Weltstadt Frankfurt am Main. Der Koch trägt ein Kopftuch wie im Karneval so albern. Sarah wendet sich an Alwin Wagner, den Präsidenten der Borussia Kraichhain. Als junger Mann vertrat der Präsident Kraichhain an der Tischtennisplatte. Er macht immer noch einen auf drahtig und reaktionsschnell. Dabei verbringt er die Nachspielzeit seines Lebens in halbseitig steifer Verfassung. Sein Habichtsblick schließt eine freundliche Betrachtung von Personen aus. Allein die Natur vermag Wagners Zärtlichkeit zu wecken.
In einer Aufwallung von Verbindlichkeit bittet Sarah den Schuhheini aus dem Heilgarten an den Stammtisch. Geht es um Spenden und Flüchtlinge, ist Adem einer von uns. Geht es ans Eingemachte, fehlen wenigstens dreihundert Jahre zur Zugehörigkeit.
Viele Formen der Mimikry bleiben im Verborgenen. Wir übersehen Abläufe, die das Geschäft der Natur stetig vorantreiben, so wie von Täuschungen stimulierte Bestäubungsakte in Interaktionen zwischen Orchideen und Insekten. Essbare Arten imitieren die Signale ungenießbarer Arten, um Fressfeinde zu täuschen. So erwerben sie einen ökonomischen Vorsprung gegenüber jenen Strategen, die auf Gift setzen, das erst einmal produziert werden muss, als eine Leistung des Körpers. Anverwandlungen distanzieren sie von den Erscheinungsformen ihrer Verwandten. Sie tragen fremde Kleider, die sie wie gefälschte Pässe zu Pseudobürgerinnen gattungsferner Republiken machen. Die Co-Evolution der Imitatoren von Eigenschaften treibt im Eisensteiner Stier phantastische Blüten.
Erotische Hartplätze
Nichts bleibt haften vom Eröffnungsbeitrag der Kraichhainer Filmfestspiele. Adem schleust Silvi in Therese Gersters Bahnhofsgalerie. Da hält die Crème de la Crème Abstand zum Volk. Ein Lied weht Adem an, Carly Rae Jepsens “I Really Like You”. Es könnte sein Lied des Jahres werden.
Die Festspiele sorgen jedes Jahr für einen Aufstand. Den zugezogenen Besserverdienenden bleibt unbegreiflich, dass nur unbekannte Schauspielerinnen und Regisseure zum Zug kommen und das hochtrabende Elend dann auch noch von wahnsinnigen Feuilletonisten mit Relevanz gepimpt wird. Da findet ein Kulturkampf statt. Auf der eine Seite verbohrt sich Therese, unterstützt von ihrer bürgermeisterlichen Tante Sarah Gerster. Reaktionäre ü70-Revolutionäre, die alles feiern, was spießige Neubürger die Wände hochgehen lässt, geben der Gerster-Gang Flankenschutz. Die internationalen Gäste lassen auf sich warten, aber die lokale Prominenz ist komplett am Start, um allen klarzumachen, wo, wer und was oben ist in diesem Winkel der Republik. Sarah G. greift Silvi mit einem freundlichen Wort unter die Arme, Adems Lebensabschnittsgefährtin bewegt sich auf dünnem Eis. Sie fürchtet, dass ihr Kleid den falschen Eindruck erweckt.
Adem entdeckt Hanna. Er seilt sich von Steffi ab und schneidet Hanna den Weg zur Bar ab. Die beiden verbindet nicht nur eine wiederbelebte Körperfreundschaft. Am liebsten würde Adem Hanna auf der Stelle aus dem Verkehr ziehen, um intim mit ihr zu verkehren. Eine schwüle Brunst treibt ihn an. Irrlichternd taucht er vor Hanna auf. Adems doppelbödig-anzügliche Galanterie verheißt nichts Gutes. Der diskrete Charme der Bourgeoisie fällt nicht in sein Fach. Die unglücklich Verheiratete fürchtet eine unangebrachte Begrüßung. Was Silvi übrigens auch nicht weiß, Adem sah letzte Woche in einem Frankfurter Kino A World Beyond gemeinsam mit der studierten Tänzerin Hanna, die im Zauberkasten ihr Auskommen als Produktionshelferin gefunden hat; nach Jahren der künstlerischen Überspanntheit, fragt man denn Adem. Hanna und Adem surften in den 1990er eine Weile gemeinsam auf der Eurodance-Welle mit einer Vorliebe für erotische Hartplätze.
Damals schlüpfte Adem nach und nach in die Rolle eines Mannes, der Erwartungen erfüllt, um Enttäuschungen zu vermeiden. Hanna ermutigte Adem, aus seinem Schneckenhaus der schamhaften Förmlichkeit herauszukommen. Hannas unprätentiöse Art gefiel Adem. Trotzdem war klar, dass Hanna für die Rolle der Traumfrau nicht geeignet war. Zum Schluss erzähle ich etwas, dass Adem nie jemandem erzählt hat. Auch mir nicht. Ich habe es herausgehört. Wenn Adem als junger Mann zum ersten Mal Sex mit einer Frau hatte, duschte er danach nicht. Er konnte willkürlich Sex haben, emotionale Klarheit erlangte er jedoch erst in einer post-koitalen Klärung. Das olfaktorische Urteil gab den Ausschlag.
Hanna roch bloß nach einer Affäre.
Ende