Lob!
Lieber Herr Tuschick, eben las ich Ihren Text zu meinem neuen Roman und frohlockte: Sie sind der Einzige, der zu meiner doch so wichtigen Macedonia-Figur etwas geschrieben hat. Ganz herzlichen Dank! Liebe Grüsse aus Zürich, Dana Grigorcea
Das Lob bezieht sich auf diese Besprechung.
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Spielzeug für Erwachsene
Die gesamtdeutsche Provinz bleibt bis auf Weiteres ein unterschätzter Erzählraum. Dabei ist sie im Osten wie im Westen ein Eldorado des ungeheuren Alltags in all seinen Spielarten zwischen herausgeputzt und heruntergekommen. Hier wie da bietet sie der Restauration Refugien. Mitunter schillert eine Avantgarde des Zurückgebliebenen. Ab und zu übersteigt die ländliche Zukunftsfähigkeit das urbane Maß. Interessant sind nicht zuletzt Dönerbuden und Bushaltestellen, asphaltierte Freiflächen im Schatten von Einkaufszentren, die wie Aussiedlerhöfe in der Pampa stehen, sowie Wochenmärkte, Dorffeste - und Cafés in allen Schattierungen der freihändigen Gestaltung. Ich nenne noch die Flüsterfilialen des Einzelhandels für den gehobenen Bedarf im Spektrum zwischen Spirituosen, Keramik und Gewebtem. In diesem von Enttäuschungen verschrammten Rahmen darf die Boutique fürs Intime nicht fehlen.
Uta Bretschneider und Jens Schöne beginnen ihre Recherche im sächsischen Oschatz. Da ist der „Sexshop besser ausgeschildert als das Rathaus“. Die Inhaberin hat das Geschäft - gemeinsam mit einem Schreibwarenladen - von ihren Eltern übernommen. In ihren Einlassungen triumphiert die Sachlichkeit.
„Ich verkaufe die Sachen und gut ist.“
Uta Bretschneider, Jens Schöne „Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland“, mit Fotografien von Karen Weinert und Thomas Bachler, 221 Seiten, Ch. Links Verlag, 35,-
Das Angebot unterliegt gleichwohl Diskretionsgeboten. Die Kundschaft verlässt das Geschäft mit neutral-blickdichten Tüten. Bewährte Vertrauensverhältnisse zur Stammkundschaft gehören zum kleinstädtischen Survival Kit.
Die Autor:innen haben vollkommen recht, ihr Thema für bahnbrechend und beinah schon touristisch wegweisend zu halten. Bretschneider und Schöne liefern ihrer These großartige Belege. Sie entdecken das Sensationelle knapp über den Bodenwellen von Land- und Dorfstraßen.
Sie haben sich auch im Westen und in ostdeutschen Großstädten umgesehen, die schönsten Geschichten verbinden sich aber mit Schauplätzen in Brandenburg und Sachsen, die wie halbwegs aufgegebene Vorposten einer kränkelnden Zivilisation dem unbefangenen Durchreisenden das Gefühl einer Geisterbahnfahrt geben. Es grüßen Gespenster der Wiedervereinigung.
Die Autor:innen registrieren kaum merkliche Ausschläge eines Nachbebens der „Transformationszeit“ - unmittelbar nach 1989 im Zuge des „nachholenden Konsums“. Sie machen journalistische Abstriche und analysieren Gemütsgewebeproben. Manche „Fachgeschäfte für Ehehygiene“ gleichen Zeitkapseln. Sie konservieren Stimmungen aus einer Boom-Ära, die um 1995 endete. Bis zu dieser Zäsur bildeten alle Alters- und Berufsgruppen Schlangen vor den oft einfallsreich an den Start gebrachten Sexshops.
Als Ladenhüter dient „ein Fahrradsattel mit Vibration“. Der stationäre Handel profitiert von der haptischen Unmittelbarkeit. Anprobieren, ausprobieren.
Bretschneider und Schöne spüren das obsolete Flair im „Erotik-Eck“ von Aschersleben auf. Da existiert ein Rotlichtviertel in der Größenordnung einer provisorisch aufgemöbelten Ruine. Man erzählt den Autor:innen von einst rasend florierenden Sex-Kinos in umgewidmeten Wohnzimmern. In einem frei stehenden Haus, die Rede ist von einem Grundstück „in Alleinlage“, bewahrt Wolfgang Heidler ein Mix aus Aquaristik und Sexspielzeugen vor der Pleite.
Die Gehöft-Idylle prägt eine Vergangenheit als Kaninchenzuchtanlage in den Ausmaßen eines DDR-Familienbetriebs. Ein Foto zeigt den Laden mit dem euphorisch-improvisierten Interieur der 1990er Jahre. Die nostalgische Patina überlebt in einer Randlage zwischen Herzberg und Falkenberg im Süden Brandenburgs.
Aus der Ankündigung
Die Letzten ihrer Art – Sexshops in der ostdeutschen Provinz
Die Jahre nach dem Ende der DDR waren eine Zeit zwischen Wut und Wunder, der enormen Hoffnungen und der großen wie kleinen Enttäuschungen, eine Zeit des Zusammen- und Aufbruchs in vielen Lebensbereichen. Aufbruch auch und besonders für den Handel mit Erotikartikeln, Pornografie und Sextoys. In der DDR existierte dieses Geschäft offiziell nicht und nahm in den frühen 1990er-Jahren eine sprunghafte Entwicklung.Uta Bretschneider und Jens Schöne beschreiben anhand der Erfahrungswelten und Lebenswege von Erotik- und Sexshop-Inhaber:innen die Möglichkeitsräume und -grenzen sowie die Wandlungsprozesse in ländlich geprägten Regionen und Kleinstädten bis heute. Der Band gibt Einblicke in ein intimes Kapitel der Transformationsgeschichte.Autorin und Autor sprachen mit Erotikshop-Betreiber:innen in Aschersleben, Cottbus, Freiberg, Herzberg, Ilmenau, Lauchhammer, Oschatz, Quedlinburg, Suhl, Weimar und Zwickau sowie in Berlin, Biebertal und Leipzig. Die Fotografin Karen Weinert und der Fotograf Thomas Bachler haben Interviewte und Orte porträtiert.
Zu den Autor:innen
Uta Bretschneider, 1985 in Burgstädt geboren, ist Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. Als Kulturwissenschaftlerin und Soziologin arbeitet sie u.a. zu Erinnerungskulturen, Alltagswelten der DDR, Biografien und zur Geschichte ländlicher Räume. Veröffentlichungen u.a. »›Vom Ich zum Wir‹? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG« (Leipzig 2016) und »LPG-Dinge. Erinnerungen an die Landwirtschaft der DDR« (Dresden 2019).
Jens Schöne, 1970 in Staßfurt geboren, ist Historiker und Stellvertreter des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Veröffentlichungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der DDR, Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts und Geschichte des geteilten Berlins, u.a. »Die DDR. Eine Geschichte des ›Arbeiter- und Bauernstaates‹« (Berlin 2014) und »Ronald Reagan in Berlin. Der Präsident, die Staatssicherheit und die geteilte Stadt« (Berlin 2017).