Natürlich wussten auch unsere Genossen, dass „die historische Normalität des globalen Turbokapitalismus die Krise“ ist, und der Neoliberalismus, der damals noch anders hieß, „das Leben in eine Ware verwandelt“ (César Rendueles). Trotzdem durfte das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.
In den Augen meines Vaters war der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) „eine Modeerscheinung“. Eine leise Verachtung für „die Kommunisten spielenden Studenten“ sprach sich aus, wenn sich die Genossen des sozialdemokratischen Ortsvereins nach einer Sitzung noch zwischen Tür und Angel, das heißt zwischen den Klos im ersten Stock des Bürgerhauses, das Jahrzehnte als Volksschule gedient hatte und vom Kohortenmief imprägniert war, und einem umgewidmeten Klassenzimmer, das einige aus der Kindheit kannten, auf einem hallenden Korridor mit quietschendem Linoleumboden, stets auf die gleiche Weise merkwürdig unterhielten. Heute weiß ich, worum es ging, darum nämlich, Traditionen nicht ins Sediment sinken zu lassen, sondern sie fleißig im Gedächtnis und folglich am Leben zu halten.
Wem was gehörte, war ein unerschöpfliches Thema. Allerdings erschöpfte sich das einschlägige Interesse im Dorf und in der dazugekommenen, auf Äckern, die „Länder“ genannt wurden, einst in Rekordzeit hochgezogenen Waschbetonsiedlung, in der nun auch individuell gestaltete, mit Spalieren in den Vorgärten bürgerlich erscheinenden Eigenheime bildbestimmend waren. Nach den Begriffen des Dorfes lange kennen konnte die Alte Schule, die jetzt Bürgerhaus war, nur, wer aus dem Dorf kam. Wer aber aus dem Dorf kam und trotzdem Genosse war, geisterte als Außenseiter herum. Ich erinnere zerschossene Typen, die im Sommer samstags in der Versehrtensportanlagen an der Fulda unter sich blieben. Das waren sie – Versehrte. Die Geschichtsvergessenheit der Bundesrepublik einschließlich der zügigen Wiederbewaffnung empfanden sie als persönliche Katastrophe.
Man war so schnell abgerückt von der Losung „nie wieder Krieg“.
Die Dorfgenossen bildeten eine verschwindende Minderheit unter reaktionären so wie politisch gleichgültigen Verkehrsteilnehmern, die alle CDU wählten, man sagte, der CDU nahestanden, und ihren eigenen Chieftain hatten, dessen Stellvertreter der Vater eines Pfadfinderführers war.
Bilderbuchkarrieren führten von den Christlichen Pfadfindern über den Fuß- und Handballverein sowie die Freiwillige Feuerwehr in die CDU. Kommunisten waren überhaupt nicht vorgesehen, obwohl sich alte Genossen noch an richtige Kommunisten erinnern konnten, die sie in den 1950er Jahren mit dem Ruf begrüßt hatten:
„Wer hat uns verraten: Sozialdemokraten.“
Die SPD meiner Kindheit war ein Relikt aus der Zeit vor dem Godesberger Programm. Sie bestand tatsächlich aus sich ermächtigenden Arbeitern, wenn auch nicht nur. Kein Lehrer, kein Arzt, kein Anwalt gehörte dazu. Nach oben aus riss allein der Unternehmer Brinkmann, der nach dem Supermarktleiter Wagner mein zweiter Arbeitgeber wurde. Ich grub seine Beete um und zog einen Versorgungsgraben von der Waldemar Straße bis zu seinem Haus. Schließlich legte ich den feuchten Frontsockel frei und verlegte eine Drainage. Da war ich vierzehn und stolz auf meine Schwielen. Meine Einnahmen und Ausgaben musste ich vor meinem Vater schriftlich verantworten. Das wurde abgezeichnet.
Gern beobachteten mich Schauspieler vom KBW („Kommunistendarsteller“) bei der Arbeit. Sie agitierten hämisch über den Zaun, zwei, drei Unentwegte, die im Selbstermächtigungswahn Gewaltdelikte und andere Verbrechen aus Dummheit verwirkten. Ich sagte gegen sie vor Gericht aus. Da waren sie kleinlaut und hofften, mit einem blauen Auge davonzukommen. Wenigstens wurden sie verurteilt. Ich traf sie wieder und wieder in Kneipen, auf Konzerten. Sie lösten sich ohne Veteranenstatus in der Normalität auf; während mein Vater zumindest in der Nachbarschaft legendär war. Der eiserne Fritz hatte allen die Stirn geboten, mit nicht mehr Rüstzeug als Sinn für und Freude am Mittelmaß.
Mittelmaß ist nicht mittelmäßig. Mein Vater wusste, dass „die Krise die historische Normalität des globalen Turbokapitalismus“ ist, und der Neoliberalismus, der damals noch anders hieß, „das Leben in eine Ware verwandelt“ (César Rendueles). Doch durfte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Das Machbare war die heilige Kuh der SPD. Machbar war der Umzug aus dem Waschbeton in den Fertigbau. Fertigbauhäuser waren der letzte Schrei und wurden von Schülern, Studenten und anderen Hiwis binnen vierundzwanzig Stunden bezugsfertig gekloppt. Gestern noch Mieter, heute schon Hausbesitzer auf dem Weg zum Eigentum. Das war machbar, angesichts „der atomaren Bedrohung“, die für Endzeitstimmung sorgte. Die Rote Armee stand vor der Tür in Thüringen, und der Amerikaner wollte auf deutschem Boden gucken, was nukleartechnisch in der Vorhölle des Kollektivselbstmords möglich war. Schon Strauß hatte als Verteidigungsminister Mittel aus dem Giftschrank der Menschheit geordert, ungefähr zu der Zeit, als Willy Brandt den „blauen Himmel über der Ruhr“ forderte.
Von den Schauspielern musste keiner ins Gefängnis. Die Genossen bedauerten das. Auch „der Strahlenkrieg“, so unvermeidlich er schien, fand nicht statt. Stattdessen löste sich die SPD auf und diffundierte zwischen Dorf und Siedlung in der Anpassung an eine neue Zeit. Die Vermögensumverteilung hatte soweit stattgefunden. Die Bildungsreform griff. Wer zu blöd war, dem konnte auch die SPD nicht helfen. Die klügsten Köpfe verschworen sich im Ringverein der Windsurfer. Ihr Zauberwort hieß „Lebensqualität“. Nun ging es um Gleitzeit und Teilzeit und karibische Urlaubsziele. Aber das waren keine geborenen Mittelständler, die ihre Surfbretter auf den Dächern großer Audis transportierten und Langstreckenflüge aus eigenem Erleben kannten. Das waren Männer, die mit vierzehn in die Lehre gekommen waren und sich sonst wie oder eben auf dem zweiten Bildungsweg flottgemacht hatten. Der zweite Bildungsweg war die Bildungsreform vor der Friedeburg’schen Bildungsreform.