Mit Anfang Zwanzig war ich in Frankreich unterwegs und befasst mit den Chancen, die Kirchenbücher, Auswanderungsgeschichten und die Überlieferungen von Hofmiseren einem Schriftsteller bieten. Darauf gebracht hatte mich John Berger. Berger lebte in den Savoyer Alpen.
Die Kanne hatte den Schwung und die Farbe eines Schwanenhalses. Die kleine Wanne passte dazu wie die Untertasse zur Tasse eines Service. Dass eins zum anderen passte war nicht selbstverständlich in der Tagungsstätte am Fuchstanz im Taunus. Naturfreude hatten das Haus gebaut und bewirtschafteten es mit Freiwilligen, die sich gutmütig zu Diensten einteilen ließen und in ihrem Ehrenamt keinen Stress erleben wollten. Trotzdem war nicht wenig Arbeit mit der Versorgung der Falken-, Jungsozialisten- und Gewerkschaftsjugend-Gruppen verbunden, die in malerischer Lage und fürwahr abgeschieden über die Kämpfe der Arbeiterklasse, die Notwendigkeit einer Revolution sowie über ihre Bausparverträge und andere Geldanlagen sprachen. Die als Herbergseltern Waltenden hatten ihre Gäste mit belegten Broten und Früchtetee abgespeist, das lief unter dem Titel „Fütterung der Raubtiere“, und waren dann nach Oberursel in ihre häuslichen Verhältnisse abgezogen. Mein Vater spielte den Nachtwächter und ich war zu seiner Unterstützung und Unterhaltung dabei. Mein Vater hegte die üblichen Vorurteile der Nordhessen gegenüber dem prallen Leben in der Rheinmainsenke. Jedoch gab es wiederkehrende Termine in Frankfurt, die er dazu nutzte, in die „Schmiere“ zu gehen. Außerdem hatte er mysteriöse Aufgaben in der Strafvollzugsanstalt Rockenberg. Er brachte Leute in Rockenberg unter. Bevor ihn der zweite Bildungsweg in eine andere Umlaufbahn gebracht hatte, war er, nach einer Ausbildung bei Coca-Cola, Vertreter für Zigaretten gewesen. In seinem Volkswagen, noch mit geteilter Heckscheibe, hatte er den Harz abgegrast und da manches Abenteuer in engen Kurven bestanden. Auf eine undurchsichtige Weise hing die Vertreterzeit mit erotischen Aufschwüngen zusammen, die vor allem meine Mutter zu spöttischen Bemerkungen veranlassten. Die Töchter der Gastwirte im Harz, hart an der Zonengrenze, tauchten darin dramatisch wie in einem Stummfilm auf, so als habe sich keine meinem, mit achtzehn kahlen und vermutlich schon damals ermüdend ausführlichen Vater entziehen können. Schließlich konnte er es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, „den Leuten Gift anzudrehen“, während alle außer meinem Vater wie die Schlote rauchten.
Der Nichtraucher als Vertreter für Zigaretten – das war auch eine Schote, die ihren biografischen Ursprung in einem tragischen Schlick hatte. Mein Vater hatte sich seine Lehrstelle nicht aussuchen können und war nur deshalb Einzelhandelskaufmann geworden.
Alles wäre anders gekommen, hätte meine Großmutter nach dem Krieg nicht mit drei kleinen Kindern die Heimkehr ihres Mannes vergeblich erwartet.
Mein sozialdemokratischer Großvater war nicht zurückgekommen. Er war zwölf Jahre nicht wenigen Leuten ein Dorn im Auge gewesen – ein stur-stummer Dissident, der auf das Dritte Reich allergisch reagiert hatte. Das spiegelte mein Vater: eine allergische Abwehrbereitschaft.
Er nahm das Politische persönlich. Ich verstand das nicht. Ich glaubte, die Partei stünde ihm näher als seine Familie. Sein Gerechtigkeitsfimmel ging so weit, dass er mich öffentlich bloßstellte; so als herrschten allgemein Vertrauensverhältnisse. Mein lebender Großvater, das schlanke Gegenteil meines Vaters, fand „diese Scheißnaivität“ abstoßend.
Heute denke ich, dass die SPD meinem Vater als Vaterersatz diente und er eine Kommunion der Redlichen halluzinierte. In seinem Bücherschrank stehen im Anmerkungsrausch gepflügte psychologische Titel, die ihn alle nicht davor bewahrt haben, den Gemeinschaftssinn anderer Leute zu überschätzen.
Als Betreuer einer Jugendgruppe, die sich selbst betreute, war mein Vater in das Naturfreundehaus gekommen. Ursprünglich hatte es da weder Zentralheizung noch fließendes Wasser gegeben. Museale Relikte dieser Zeit waren Kannen und Wannen in den Betreuerkammern. Wir hätten unser Ensemble nicht nutzen müssen. Mein Vater fand es pädagogisch wertvoll, das Waschlappenprogramm mit mir durchzugehen. In der Wohnung seiner Mutter gab es kein Bad und fließend Wasser nur in der Küche. Das war noch so in der Gegenwart von 1970.
Ich trage zwei Erinnerungen nach.
Morgens war der Wasserspiegel in der Kanne vereist.
Die Gruppe brach am dritten Tagungsmorgen auseinander. Zwei Revolutionäre sprengten ein Urinal zur Freude aller Jugendlichen. Der aggressive Schabernack enttäuschte meinen Vater schwer. Er fühlte sich den Junggenossen und ihren Assoziierten familiär verbunden. Ihnen fiel es leicht, ihn herabzusetzen. Sie zeigten schon solche Anflüge von Unmut und Ungeduld, wie ich sie bei Erwachsenen beobachtete, die meinen Vater „zu umständlich“ fanden.
Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will. Cees Noteboom
Jahrzehnte nach der Klosprengung kam ich als Referent in das Naturfreundehaus. Zwischen Küche und Speisesaal gab es keine Trennwand mehr. Die Art, wie Brotscheiben mit Käse und Aufschnitt flott (vielleicht sogar lustvoll) belegt wurden, brachte mir die Platten voller pyramidal arrangierter Käse- und Wurstbrote in Erinnerung, die ich mit neun sehr gern gegessen hatte. Mir fiel auch das Arrangement aus Kanne & Wanne wieder ein und diese unspektakuläre, 1970 längst anachronistische Ansicht organisierte einen Gedankenausflug nach Frankreich. Mit Anfang Zwanzig war ich mit Mara in Frankreich unterwegs und befasst mit den Chancen, die Kirchenbücher, Auswanderungsgeschichten und die Überlieferungen von Hofmiseren einem Schriftsteller bieten. Darauf gebracht hatte mich John Berger. Berger lebte in den Savoyer Alpen, Mara und ich brachen das Unternehmen, ihn zu besuchen auf halbem Weg ab. So dicht vor der Möglichkeit, Berger zu treffen, erschien uns ein Treffen unmöglich. Viel später las ich eine Geschichte von Berger, die seitdem zu meinem inneren Bestand gehört. Er schildert eine homosexuelle Gemeinschaft in bäurischen Verhältnissen. Da sind zwei zusammen in der Schutzbehauptung gemeinsamer Bewirtschaftung/Hofhaltung. Es gibt die Steigerung, dass ein Partner nach außen die weibliche Rolle spielt und das erst nach dessen Tod und auch nur für den Arzt und Wenige erkennbar wird. Der Arzt hält dicht im kleinen Kreis der Mitwisser.
Auf einer langen Bank sitzend, ließ ich einen Versuchsballon steigen. Ich fragte die ebenfalls eingeladene Soziologin S., ob sie mit dem Werk von Berger vertraut sei. Das war sie. Sie war aber nie von der schockhaften Einsicht getroffen worden, jemanden vermeiden zu müssen, dessen Gesellschaft einem kostbar erscheint; während man sich doch ständig von Leuten stören lässt, deren Gegenwart öde ist.
S. sprach dann vor einer Gruppe intensiv interessierter Sozialdemokrat*innen über die Prozesse der Zivilisation (Norbert Elias) und über Entzivilisierungsprozesse wie sie Oliver Nachtwey, sich auf Elias beziehend, darstellt. Etablierte reagieren auf aufsteigende Außenseiter mit der Preisgabe der eigenen Moralstandards an gröbere Formate. Bei Restaurationsversuchen ihrer Ordnung werden sie zu jenen Barbaren, die sie vor sich zu haben glauben. Sie verwechseln sich mit dem Gegner nicht grundlos. Heiner Müller sagt ungefähr: Wenn man keinen Feind mehr hat, dann trifft man ihn im Spiegel.
Die Ankunft der Außenseiter ist ein wiederkehrendes Thema. Der erste Nachkriegskohortenauftritt, der den faulen Frieden störte, den die alten Nazis mit sich selbst geschlossen hatten, gestern las ich, dass ein für die Verfolgung der Sinti und Roma zuständiger SS-Scherge in einem Landesministerium noch bis zur Pension zuständig für die „Landfahrerfrage“ war, sah meinen Vater als Konfliktteilnehmer. Seine Performance war darauf abgestimmt, in dem Kommunisten fressenden Adenauerdeutschland nicht verwechselt zu werden. Mein Vater war ein Punk in der Politik, als er anfing und jeder Ausflug in die DDR Vaterlandsverrat war. Ein Punk mit acht Jahren Volksschule und ein bisschen sozialdemokratischem Gewerkschaftswissen. Auf der Gegenseite standen die Fürsten der Reaktion. Humanistisch gebildete Führungspersönlichkeiten, die den Untergang des Abendlandes mit meinem Vater kommen sahen. Mit Macht kannten die sich aus.
„Was macht der sich mausig?“ fragten sie einander. „Wo nimmt der das Selbstbewusstsein her? Warum hat dieser kleine Soz keine Angst vor uns.“