MenuMENU

zurück

2019-02-03 13:50:53, Jamal Tuschick

Es war die Zeit der Ölkrise, der abflauenden Entspannungspolitik und der Verschärfungen auf dem Arbeitsmarkt. Willy Brandt erreichte seine Grenzen als einziger Visionär der regierenden Klasse. Das Ansehen des vierten Bundeskanzlers schwand. Seine Gegner, die ihn Jahrzehnte als Vaterlandsverräter denunziert hatten, witterten Morgenluft. Die schweigende Siedlungsmehrheit und die Wutbürger von damals nannten ihn „Asbach-Willy“ ...

Sozialdemokratische Sonnenverehrung

Revolutionärinnen störten SPD-Ortsvereinssitzungen mit Waffengewalt.

Im März 1974 wurde die Volljährigkeitsgrenze herabgesetzt. Das ging als Reform durch, der in Kassel geborene und in Immenhausen aufgewachsene Gerhard Jahn zeichnete verantwortlich. Der soziale Rückstoß war gewaltig. Was vorher mit achtzehn möglich war, erschien nun in Reichweite der Vierzehnjährigen. Sie verwandelten ihre Elternhäuser in Wohngemeinschaften – im Geist einer grandiosen Verspätung. Ästhetisch waren wir noch auf dem Stand von Easy Rider, als die Sex Pistols ihren ersten Auftritt hatten.

Es war die Zeit der Ölkrise, der abflauenden Entspannungspolitik und der Verschärfungen auf dem Arbeitsmarkt. Willy Brandt erreichte seine Grenzen als einziger Visionär der regierenden Klasse. Das Ansehen des vierten Bundeskanzlers schwand. Seine Gegner, die ihn Jahrzehnte als Vaterlandsverräter denunziert hatten, witterten Morgenluft. Die schweigende Siedlungsmehrheit und die Wutbürger von damals nannten ihn „Asbach-Willy“, während die Molle zum Bauarbeiter gehörte wie die frische Luft, und Führungskräfte sich vormittags mit Sekt und Likör in Form brachten.

Selbst die größten Pessimisten vermochten noch keine multikulturelle Dystopie zu entwerfen. Das um eine Waschbeton- manche sagten sehr zu Unrecht Hochhaussiedlung erweiterte Dorf meiner Kindheit lag hinter den Sieben Bergen der Zukunft wie in einer besonderen Zeitzone fest in deutscher Hand. Es gab eine großflächige landwirtschaftliche Produktion, noch war der Einkauf beim Erzeuger nicht schick. Die Genossen kauften aus politischen Gründen ihre Kartoffeln im Konsum.

Ich war verwandt mit drei sozialdemokratischen Familien vor Ort. Das waren die Familien des Bruders und der Schwester meines Vaters. Meine Tante war zwar nicht in der SPD, aber ihr Mann. Deutlich vor Augen steht mir, dass mein Vater unter seinen Geschwistern der mit dem kleinsten Auto war, und wir zuhause die wenigstens technischen Geräte hatten und sowieso nie das Neuste. Mein Vater war ein schlechter Verbraucher.

Ich nahm ihm das übel. Die Statusnachlässigkeit forderte mich heraus. Wir hatten lange im Rückstand gelegen, wegen des beruflichen Anlaufs, den mein Vater genommen hatte, und weil meine Mutter mit ihren Halbtagsbeschäftigungen nie glücklich wurde, wie vermutlich auch nicht die Zeitungsausträgerinnen und Putzfrauen in der Nachbarschaft glücklich wurden; immerhin hatte meine Mutter eine Ausbildung zur Stenotypistin gemacht. Außerdem konnte sie halbwegs Englisch. Das war superselten.

Auto & Fernseher hatten wir erst ab den frühen Siebzigerjahren. Jetzt hätten wir aufholen und überholen können. Mein Vater sagte: „Das Wichtigste im Leben, Liebe und Gesundheit, kann keiner kaufen.“

Im Mai wurde das Idol meines Vaters endgültig vom Thron gestoßen, kurz nach der offiziellen Enttarnung von Günter Guillaume. Nun sei die anbiedernde Ostpolitik zu Ende, hieß es überall. Auch in der SPD waren kalte Krieger, die Brandt Führungsschwäche vorgeworfen hatten und den Sturz begrüßten.

Vor allem ging es darum, innenpolitisch Profil zu beweisen; sich gegen eine aggressive Opposition zu behaupten. Der ehemalige Wehrmachtsoffizier Schmidt fand für seine Ansichten martialische Bilder und manchmal auch eine bellizistische Diktion. Das nahm man ihm nicht übel. Ich konnte den Sozialdemokraten in Schmidt nicht entdecken. Für mich war Pazifismus eine SPD-Tugend, weil ich die Wiederbewaffnungsgegner und Ostermarschierer durch die Bank für Genossen hielt. Da fehlte Wissen. In der ersten Friedensbewegung überlebten viele Sektierer, die in weit zurückreichenden Traditionen standen und später in den Grünen noch einmal etwa anthroposophische Standpunkte repräsentierten. Der Demeter-Dunst, die Reformhausbewegung – zudem gab es Splitterformationen, die in der dritten Generation zwischen heilenden Steinen, Animismus und Verschwörungstheorien eingemauert im Grunde so links wie rechts waren. Jedenfalls in der oberflächlichen Betrachtung. Sah man genauer hin, waren sie mehr rechts als links. Man erkannte sie an ihren verschrumpelten Äpfeln und ihren hitzigen Apfelgesichtern.

Mein Vater vermied Esoteriker. Er hinderte mich nicht, als ich von einem Guru und seiner Gang heraufgebeten wurde in die Sphäre des wahren Wissens. Um nicht in Teufels Küche zu kommen, nenne ich ihn Johannes Täufer.

Täufer war ein promovierter Spinner, der wusste, was geht. Deshalb war er in der SPD. Er verdiente sein Geld mit Bildungsarbeit bei freien Trägern und parteinahen und parteieigenen Organisationen. Das ist ein Kosmos für sich. Die Verdienstmöglichkeiten da zogen Leute an, die so neben der Spur lebten, dass sie unter der ständigen Aufsicht in normalen Verhältnissen nicht klargekommen wären. Sie brauchten Freiräume und Grauzonen und sie umgaben sich klerikal mit einer jugendlichen Anhängerschaft. War irgendwas im Busch, sagten sie SPD und appellierten an das Einer-von-uns-Gefühl. Das war wie ein Kode- oder Triggerwort. Ohne den SPD-Mantel wäre Täufer als falscher Fuffziger und Scheinheiliger von den Hilfskräften der Vernunft, die in der lokalen SPD den Ton angaben, sofort entlarvt worden.

Die magische Dimension der Massage

Schmidt war gerade vereidigt worden, als ich meinen ersten Liebesbrief bekam. Er fände keine Erwähnung, wäre meine Verehrerin nicht eine der berufensten Anhängerinnen gewesen, auf die sich Täufer verlassen konnte. Ich nenne sie Rhea nach einer titanischen Gestalt aus der griechischen Mythologie. Rhea stammte aus einem familiär aufgebauten Kreis – verbunden mit den Komplexen Naturheilkunde, Ökologie, Pazifismus, Sozialismus, Geisterglaube und Sonnenverehrung. Rhea hielt magische Heilungen für möglich. Sie spürte Strahlenfelder und nutzte Wünschelruten. Sie wurde von ihrer Mutter ausgebildet. Die Seniorheilerin genoss als Physiotherapeutin einen Ruf wie Donnerhall. Sie machte Hausbesuche und half Migräne- und Hexenschussopfern besser als jeder Arzt. Sie stand gemeinsam mit Täufer an der Spitze der Bewegung, die via Täufer in die SPD hineinragte. Der neue Bundeskanzler sagte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“

Ich fragte meinen Vater, ob eine sozialdemokratische Sonnenverehrung für ihn akzeptabel sei. Er schloss das aus. Ich durfte mir mein eigenes Bild machen. Ein halbes Jahr besuchte ich Schulungstermine in einem Haus nahe dem Steinernen Schweinchen. Heute ist das ein Tagungszentrum, in dem man auch alternativ heiraten kann. Einer von Täufers Jüngern brachte sich um, eine Jüngerin wurde zwanzig Jahre später Täufers letzte Frau.

Was mich davor bewahrte, mich in der Spiritualität zu verlieren oder auch nur in Rhea bis an die Schmerzgrenze zu verlieben? Vielleicht waren es harte Konfrontationen mit der Siedlungsrealität, die meine Unempfänglichkeit garantierten und nach etwas anderem verlangten. Nach einem anderen Stoff und anderen Erregungen.

Noch gab es die Bewegung 2. Juni als massive Bedrohung. Mein Vater und ich wurden von Leuten bedroht, die sich für Revolutionäre hielten und meinen Vater für einen Reaktionär auf der Ausbeuterseite. Ich war dreizehn und entging dem Vorwurf, reaktionär zu sein, gehörte aber zu den Ausbeutern.

Wie konnte das sein?

Nach meinen Begriffen war Franz Josef Strauß reaktionär, doch nicht mein Vater. Seine Überzeugungen wurden von keinem Genossen der Dorf- und Siedlungs-SPD links überboten. Die Kirche musste im Dorf bleiben, Verkehrsberuhigung war ein Thema. Revolution war kein Thema in den Ortsvereinssitzungen. Man kam zusammen, man kannte sich, man hatte schon schlechtere Zeiten erlebt, jeder für sich.

Wir waren „endlich auf Bundesebene“ an der Regierung, auch wenn ich Schmidt nicht mit diesem „Wir“ zusammenbekam. Dabei waren alle Genossen mehr Schmidt als Brandt. Das Wir vor Ort ergab sich aus der Nachbarschaft, der bloßen Parteinahme; womöglich nur aus einem Lippenbekenntnis in einer von der SPD reagierten Stadt, in einem von der SPD regierten Land.

Im CDU-Ortsverein saßen die Eingesessenen … Grundbesitzer, Selbständige wie der Edeka-Wagner gemeinsam mit Habenichtsen, deren Selbsthass sich selbständig gemacht hatte. Die Nichtse profitierten nicht von ihren politischen Entscheidungen so wenig wie viele Trumpwähler ein halbes Jahrhundert später. In ihrem Homogenitätsschema waren wir die Protagonisten einer Hybridisierung.

In der Aktentasche meines Vaters lauerte ein Hasenbrot auf mich. Ich würde ihm nicht entgehen.

Wir saßen an zusammengeschobenen Schulbänken, lauter Männer (und ich) ohne Abitur und Migrationshintergrund. Die Einwanderung war in vollem Gang, doch keiner hatte sie auf dem Schirm.

Der erste Mensch mit Migrationshintergrund im sozialdemokratischen Alltag war kein Grieche - und kein Chilene, der Allende persönlich gekannt hatte; es war der ursprünglich korsische Adoptivsohn 1975 zugezogener Genossen. Andira war ein SPD-Kind, einfach zu prägen nach den Überzeugungen der Nähreltern und trotzdem rebellisch nach seinem eigenen Kopf. Er fiel auf bei allen möglichen Gelegenheiten, er konnte nicht unauffällig vorhanden sein. Man fand ihn hübsch und aufgeweckt. Mein Vater fühlte sich von ihm an Piraten erinnert, die ihm in seiner Kindheit in einem Buch begegnet sein könnten. Vielleicht auch in einem Film. Mein Vater sagte: „Bei dem kann man sich das Messer zwischen den Zähnen gut vorstellen.“

Im gleichen Jahr tauchte Alberto auf, ein Italiener, der den ganzen Bella Napoli Quatsch abkriegte. Mein Vater hatte vor seiner Hochzeit acht Mal in Italien gezeltet, das Zelt liegt heute noch in seinem Sack im Keller, der zwischendurch Hobby- und Partyraum war. Da stehen Sachen aus dem Haushalt der Mutter meines Vaters, so wie die Vitrine mit dem Plattenspieler. Ich sage nur Capri Fischer.

Ab Zweiundsiebzig fuhren wir jedes Jahr nach Italien.

Alberto kam aus Mailand, arbeitete bei VW und hob Gewichte beim KSV Hessen. Er hatte das, was mein Vater „eine gesunde Einstellung“ nannte. Alberto integrierte nicht sich, sondern uns mit überlegener Lebensart und universellem handwerklichen Geschick. Er war ein Geschenk des Himmels in der Ära der Umzüge aus den Mietwohnungen der Siedlung in die Reihenhäuser am neusten Dorfrand. Mit jedem bebautem Acker näherte sich das Dorf der Autobahn. Redete schon jemand über Schadstoffausstoß und Lärmschutz? Ich weiß es nicht mehr.

Migration war kein Thema. Stattdessen drehte sich viel um Terrorismus und Inflation. Auch der kalte Krieg, der jederzeit heiß werden konnte, stand zur Debatte. Uns („der unbelehrbaren Menschheit“) blühte der Atomkrieg. Dazu kamen erste Pläne für eine Bundesgartenschau direkt vor der Haustür des Dorfes.

Amerikanischer Mist

Ich springe ins Jahr 1977. Den Kreis der Unentwegten erweiterten zwei Lehrer, ein angehender Sozialarbeiter und ein Künstler. Ich nenne den Künstler Paul. Er hatte eine schöne Frau. Ihr gefiel die Siedlung. Das war eine neue Perspektive. Das Paar wohnte in dem halben Hochhaus an der Waldemar Straße, Paul malte seine eigene Tapete auf Raufaser. Ich konnte einfach vorbeikommen. Paul bot Bier an, seine Frau lächelte. Alles war easy. Auch so konnte man leben. Wer hätte das gedacht.

Das Haus diente negativen Projektionen als Gegenstand. Der Mist, der in Amerika passierte, zeichnete sich da angeblich zuerst ab.

Ich beobachtete die ersten Anzeichen kultureller Heterogenität als Signale einer Aufwertung meines Territoriums. Andere hörten die Signale der Verdrängung. Ihre Intoleranz verwies auf ein körperliches Versagen. Sie entwickelten eine soziale Intoleranz auf biologischer Basis. Ihre Abwehr kam zu spät. Auf der Brache zwischen der Gesamtschule und Waldemar Straße entstand eine Siedlung in der Siedlung nach dem Matroschka Prinzip. „Wir“ hatten damit nichts zu tun. Es gab kein gewachsenes Wir vor Ort, in dem Neusiedler aufgegangen wären. Deren Raummarkierungen waren nach den Maßstäben der Altsiedler Dominanzerklärungen, die alles marginalisierten, was in der um 1960 entstandenen Hauptsiedlung einst Bedeutung gehabt hatte. Den Altsiedlern war es nicht gelungen, ein eigenes Kraftfeld zu erzeugen. Meine Eltern waren Dissidenten dieser Schwäche. Sie entzogen sich ihr an einen Rand, der nicht nur die Gemeinde vergrößerte, sondern auch deren soziales Spielfeld. Sie waren Pioniere. Einem neuen Gebiet erschlossen sie den Zuzug. Andere Familien, die den Entwicklungsschritt mitvollzogen, bauten außerhalb der Stadt auf weitläufigen Arealen wesentlich großzügiger als meine Eltern. Meine Eltern dachten an ihre Zukunft als altes Ehepaar mit idealer Verkehrsanbindung und dem Supermarkt vor der Haustür. Ihre Erwartungen folgten der sozialdemokratischen Machbarkeitslogik.

Als Besitzer auf dem Weg zu bescheidenem Eigentum rückten meine Eltern nicht nur räumlich ans Dorf. Es ergab sich ein neues Zugehörigkeitsparadigma, bei dem die potenten Aspekte der Siedlung dem Dorf zufielen. Ich glaube, der stärkste Motor solcher Verschiebungen ergibt sich konkret aus dem Entspannungsgrad, mit dem jemand seinen Alltag bewältigt. Die Sieger sind keine Überflieger. Sie verhalten sich wie Autofahrer, die immer auf der mittleren Spur bleiben.

Politische Zungenküsse

In der erotischen Nachwuchsarena trennte sich die Spreu vom Weizen sofort. Die Schönsten und Besten bildeten die attraktivsten Paare. Dahinter stellten wir uns an, vereint im „Wir“ der Unzulänglichen. Jeder kriegte seine Portion auf den Teller geknallt. Ich wurde von einer angehenden Sozialarbeiterin, die im Rahmen der Schulsozialarbeit zur Hausaufgabenbetreuung bestellt war, aus dem Wettbewerb genommen. Maria kam aus einer Familie, die seit Friedrich II. Staatsaufgaben erledigte. Maria lehnte ihr preußisches Erbe ab. Sie hielt auch nichts von Hausaufgaben. Stattdessen spielte sie mit den Schüler*innen Flaschendrehen. Sie war mit dem sorglosesten Vergnügen an der Verletzung ihrer Pflichten beteiligt. Ihre Handlungen hielt sie für subversiv. Sie verknallte sich ein bisschen in mich, gerade genug, um mir Hoffnungen - und mich gleich nach meiner Initiation rasend vor Eifersucht zu machen, wenn sie vor meinen Augen einen Kommilitonen küsste, der die Schulsozialarbeit genauso ernst nahm wie sie. Mit dem denkbar geringsten Einsatz trug Maria mehr zu meinem Klassenbewusstsein bei als alle anderen Erfahrungsspender*innen. Mit der Lässigkeit der herrschenden Klasse wilderte Maria gewisse Aspekte ihrer Persönlichkeit da aus, wo sie sich vor Zeugen sicher wähnte.