Die Erzählerin befindet sich “in medizinischer Untersuchungshaft”. Den hütenden und ordnenden Gewalten der Welt ist sie schon so weit entglitten, dass Hüter und Ordner in ihrem Fall so recht nicht mehr unterscheiden können zwischen delinquent nach Paragraf 96 Absatz 1 und 2 Strafgesetzbuch und dement nach einem langen Leben. Ob sie nun untersucht oder vernommen oder für einen Prozess präpariert wird: so oder so oder so erscheint die Erzählerin mit ihrer greisen Heiterkeit, in dem das Jenseits schon die Bewirtung stellt, anstößig. Auf dem Fluss ihrer Erinnerungen rudert sie zurück in die westpreußische Kindheit der Altvorderen.
“Nur eine schwindsüchtige Sonne stand am Himmel und kämpfte darum, die Eiszapfen zum Weinen zu bringen”, als der Stammhalter im Hause Kohanim seinen von sieben Töchtern eingekesselten Vater mit dem Tod betrügt. Er schleicht sich davon im Eifer der Gründerzeit und weiht im Abgang die Familie dem Untergang.
Man muss sich nicht einlesen. In diesem Roman ist sofort alles da, in Renaissancefarben, die glücklich machen wie synästhetische Wirkungen. Der bedächtig stürmende Neuerer Samuel Kohanim missbilligt zwar jüdische Traditionen, muss ihre Andachten aber aushalten in der Konsequenz häuslicher Machtverhältnisse. Er ist Pantoffelpascha, entrechtet von einem Harem, das jiddisch jodelt, da es jung ist, und in der Überordnung grimmig grau wie ein erloschener Vulkan in der Gestalt von Samuels Frau Mindel mit der bloßen Erscheinung Furore macht. Wörter, die ihrer Bedeutung phonetisch nahestehen, wie japsen, glucksen und gurgeln schäumen den Text auf und verwandeln ihn zu einer Ferne jedweder satzbauamtlicher Frigidität. Dieser Roman ist ein Fest, seine Erzählerin spannt der Fantasie einen Bogen nach dem nächsten und schießt damit auf den Trott.
Die Angelegenheiten der Familie Kohanim haben ihre Schauplätze im Landkreis Schwetz, wo sich “Deutsche, Polen, Kaschuben und Juden” voneinander scheiden in allen Tonfällen des Lebens. Jede polnische Küchenmagd fühlt sich von ihrer Herkunft erhoben im Vergleich zu den in jeder Hinsicht uneinigen jüdischen Gemeindemitgliedern.
Es gibt immer eine, die gesegnet ist, weil Gott an ihrem Geburtstag seine Spendierhosen trug. Hier heißt sie Franziska, genannt Fränze, und auch ihr erster Verehrer, der Opern komponierende und am Flügel überfliegende Klavierstimmerlehrling Zwölffinger-Max kann sich höchstens wegen außerordentlicher Hässlichkeit beschweren. Was solls, im Spiegel seiner Augen brüstet Franziska. Max ist in Berlin schon lange angekommen, als Franziska in der Rolle eines Kindermädchens ihrer Schwester Fanny nachtrudelt. Schwanger wird sie von einem “Schmock”, der vor ihr eine andere Kohanim angrub. Dieser ungemein zweifelhafte Willy stürzt Franziska in die Schande lediger Mutterschaft. Die Kehrseite der Medaille: die Kohanims haben eine Kohanim zum Erhalt des Namens.
Ich finde diesen Erzähleinfall, wie biografisch auch immer erbeutet er sein mag, rasant. Die gefallene Fränze verschafft der Mischpoke eine Zukunft, muss selbst jedoch nachträglich und drittklassig mit ihrem Stecher zwangsverheiratet im brandroten “Weddinger Lumpenproletariat” sich zurechtfinden - “mit der dramatischen Würde einer gestürzten Königin”. Warum nicht auch mit der verblichenen Grandezza einer im Istanbuler Exil zur Trottoirschwalbe heruntergekommenen russischen Gräfin. Zum Glück macht Willy bald endgültig die Biege, der Witwe hinterlässt er noch einen Benno zur Aufzucht. Indes geht Max als Amerikaner unter die Leute. Mehr steht im Buch, ich rate dringend zur Lektüre.