MenuMENU

zurück

2019-02-11 06:18:58, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD - Zehn Jahre nach Willi Brandts Thronbesteigung im Zuge einer Sozialdemokratisierung Deutschlands kamen Paare in der SPD in Mode.

Grundlos zufrieden

Im Garten der Großeltern - meine Mutter, meine Schwester, meine Großmutter und ich

Schon als Kind war sie mit den Hühnern aufgestanden. Meine Großmutter liebte es vor allen anderen Kaffee zu trinken, in der Stille ihrer Küche allein zu sein. In der Küche stand ein gemauerter Herd zum Beweis, dass alles so bleiben würde wie in dem ausgedehnten Jetzt einer Jahrzehnte überschaubaren Gegenwart. Meine Großmutter gewöhnte sich daran, mit mir gemeinsam die Stunde vor dem Tag zu genießen.

Mich zog der Kaffeeduft magisch an. Als geborener Schriftsteller brachte ich aus dem Schlaf Text mit in die Küche, um ihn da auswendig zu lernen. Ich empfand das Glück, tätig zu sein.

Meine Großmutter trägt in meiner Erinnerung einen gesteppten Morgenmantel mit einem Blumenmuster in Pastell. Der Kragen liegt dicht am Hals, Stoff und Haut schmiegen sich aneinander so wie die Katze, der Hund und ich mich anschmiegen.

Die Katze hieß Möhrchen und hatte es gut bei meiner Großmutter. Möhrchen war Großmutters letztes Kind. („Das letzte Kind hat Fell.“) Arno war ein sensibler Schäferhund. Hingebungsvoll nahm er an unserer Andacht teil.

Während wir in der Küche den Tag heraufziehen sahen und uns im Konzert der Vögel die Jahreszeit bestätigt wurde, betete meine Urgroßmutter in ihrer Kammer. Sie stand nicht mehr auf, ich habe sie nie auf den Beinen gesehen. Aber sie muss wohl doch einen gewissen häuslichen Radius gehabt haben. Es gab den Augenblick ihrer Begrüßung, wenn ich die Bettpfanne holte.

Alles war mit einer Funktion verbunden.

Die größte Sensation der Vergegenwärtigung kommt aus der Unmittelbarkeit des Gartens. Der Garten drängte in die Küche. Man brachte ihn mit, seine Erde wurde Dreck genannt.

Ich habe viel Zeit bei meinen Großeltern verbracht, insgesamt Jahre der Impfung mit einem Antiprogramm.

Mein Großvater nahm meinen Vater nicht ernst genug, um ihm zu widersprechen. Es kam ihm aber auch nicht den Sinn, mich mit milder Zustimmung auf dem väterlichen Kurs zu halten. Offensichtlich fand er die Parteiarbeit meines Vaters schwachsinnig. Da mein Großvater mir das Gefühl der Gleichrangigkeit gab, rangierte ich in meiner Phantasie über meinem Vater.

Von seiner Geburt bis zu einem Infarkt mit vierundachtzig ist mein Vater nie stationär behandelt worden. Ihm fehlt der Klinikaufenthalt als biografische Konstante. Ich lag schon vor meiner Einschulung mit schwersten Erkrankungen dreimal im Krankenhaus. In der Umgebung dieser Einschnitte tauchen meine Großeltern als versorgende Instanz auf.

Ich will an einer anderen Stelle weitermachen.

Ein unwichtiger Liebhaber

Nach zwei parallel geschalteten Pannen-, Pech- und Pleitenserien finden sich Herta und Alwin in ihren Vierzigern damit ab, dass sie in beschissenen Ehen verschuldet sterben werden. Ohne ihren Verhältnissen einen vernichtenden Tritt zu verpassen, verbinden sie sich in einer heimlichen Liebschaft. Sie geben sich das Nötigste ohne Verzuckerung. Die Liebe erwischt sie kalt. Mit allem war zu rechnen gewesen, nur damit nicht, dass einem prosaischen Arrangement die großen Gefühle folgen würden.

Man lässt sich nicht restlos derangieren. Auch die Liebe ist eine Gewalt und Gewalt gab es längst zu viel im Leben von Herta und Alwin. Nach einem halben Jahr im verschwiegenen Ausnahmezustand kriegt Alwin zu einer Diagnose die Prognose: ein Jahr, wenn es hochkommt. Alwin beschließt die Frist mit zusammengebissenen Zähnen in seiner Ehe abzusitzen, diverser Verpflichtungen wegen. Das ist eine typische contre-coeur-Entscheidung. Kein Finale furioso, sondern Sparflamme bis zum bitteren Ende.

Als Liebhaber ist Alwin bald noch unzulänglicher als der Ehemann. Den Unken zum Trotz lebt er aber noch vier Jahre. In dieser Spanne erkennt Herta, dass sie als Kind von Traurigkeit eine Fehlbesetzung ist. Sie bändelt mit Peter an, er weiß gar nichts von Alwin. Alwin kommt nicht vor in Hertas Erzählungen, noch nicht mal als verdunkelte Gestalt; während Alwin über Peter auf dem Laufenden gehalten wird. Das Informationsgefälle spiegelt ein Bedeutungsgefälle. Peter ist nicht wichtig. Auch nicht unwichtig. Ich will das nicht verzerrt darstellen, bloß um den Kontrast zu schärfen. Herta hellt sich in den Stunden mit Peter auf. Er spricht sie richtig an, versemmelt nichts. Er kommt Herta nicht blöd und kennt seinen Platz als Abstauber.

Er ist ein seltsamer Vogel insofern er verhaltensunauffällig ohne Frau und Kinder lebt. Seinen Eltern gehört die große Gärtnerei im Wiesenweg und das Haus daneben. Peter wohnt aber in den ersten drei Jahren der Beziehung in einem Loft über der Elektrotechnischen Fabrik für Schaltgeräte und Steuerungsanlagen. Ein Prallhang schirmt den graubraunen Komplex ab. Außerhalb der Arbeitszeiten gelangt man mit wenig Geschick unbemerkt auf das Fabrikgelände und in den hermetischen Bau.

Schließlich zieht Peter in sein Großelternhaus. Es steht auf einer Wiese wie auf einer Lichtung und sieht wie eine Försterklause aus. Es gibt einen unterirdischen Gang bis zum Gemeindehaus und zu der Kirche. Das Dorf gehörte zum Kasseler Hof. Es war ein Luftkurort und eine Jagdetappe bereits der vorhessischen Landgrafen. In dem Raum zwischen der Kirche, dem Reiterhof und Peters Haus weitete sich bis in die frühe Neuzeit eine fürstliche Anlage. Eine Reihe ungewöhnlicher Baumaßnahmen wurde zur Sicherheit und Bequemlichkeit der Höchsten durchgeführt. Herta checkt im Gemeindehaus ein, ein vertrautes Gesicht, nebenan ist der evangelische Kindergarten. Sie verdrückt sich ins Untergeschoß und geht in die Kammer mit den Putzsachen. Darin befindet sich die Pforte zur Unterwelt. Das wissen alle Pfadfinder. Zu ihren Geisterbahnerlebnissen gehören Erforschungen der Kellergänge zwischen dem Versammlungsort der Pfadfinder und anderen Räumen des Gemeindehauses. Das System changiert zwischen Bunker und Kühlkeller und wirkt im Taschenlampenschein schön gruselig.

Die Pfadfinder haben einen zweiten Treffpunkt im Glockenturm der Kirche. Ihre Gleichgültigkeit übergeht die Einmaligkeit. Seit die Pfadfinder koedukativ sind, zieht die Knoten- Karten- und Kompasskunde nicht mehr. Ein brennendes Interesse am anderen Geschlecht gibt allem die Richtung vor. Die Pfadfinderführerin heißt Kerstin. Sie hat nichts dagegen, wenn man sie anschmachtet. Sie ist eine Nachbarin von mir. Wir spielen zusammen Gitarre. Sie erzählt mir, dass sie jetzt stets die Badezimmertür abschließt, um ihren Vater davon abzuhalten, sie rein zufällig in der Wanne zu überraschen. Zum ersten Mal höre ich das Wort Spanner.

Zwei Jahre nach Alwins Tod verschuldete Hertas ältester Sohn Björn den Unfalltod der Eltern. Zu diesem Zeitpunkt hatte Peter seit Monaten keinen Kontakt mehr zu Herta. Er steht kurz vor seiner Verlobung mit Andrea, die, zwanzig Jahre jünger als Peter, nach einer gescheiterten Ehe mit zwei Kindern sonst allein dastehen würde. Peter ist nicht verschroben genug, um nicht doch noch auf den Kurs der Normalität einzuschwenken. Er heiratet eine Familie, das ist die Abkürzung. Eines Tages entdeckt Andrea ein Bündel Briefe, zusammengehalten von einem Gummi; abgelegt in der Hollywoodschaukel auf der Veranda, und zwar so, dass sowohl die Verachtung als auch die Gewissenhaftigkeit des Boten sich erahnen lässt. Es kommen nicht viele Leute für den infamen Dienst in Frage.

Andrea wittert Unrat. Sie nimmt die Briefe an sich und stürzt sich in die Lektüre. Sie kann den Informationsschwall nicht arrondieren. Ihr sagt das alles nichts oder zu wenig. Also konfrontiert sie Peter mit den Briefen. Sie schmeißt ihm das Bündel vor die Füße und nennt ihn vorsorglich einen Dreckskerl.

Peter, ein sachlicher Sozialdemokrat mit Festanstellung im öffentlichen Dienst, hat sich nichts vorzuwerfen. Er bittet Andrea zu gehen und ihre Siebensachen mitzunehmen. Mit zwei Kindern und zwei Koffern auf der Straße – das Flüchtlingsschicksal möchte Andrea nicht erleben. Sie zeigt Reue. Peter lenkt ein und zieht sich mit den Briefen zurück.

Herta hielt bis zu Alwins Tod einen Briefwechsel in Gang und ihre Post geheim. Die Zustellung erfolgte persönlich. In einem langen, zäh sich hinziehenden Schlussakt überwanden Herta und Alwin die Hemmnisse schlecht alphabetisierter Leute. Sie brachten sich zutraulich wie angefütterte Eichhörnchen auf den neusten Stand. Kein Geltungsdrang hob die Zeilen. Keine Angst vor Blamage schränkte Herta und Alwin ein.

Das Bedürfnis, im Gespräch zu bleiben, einander nicht zu verlieren, war ein starker Motor. Herta fütterte Alwins Interesse am prallen Leben. Die Krankheit machte Alwin zum Zuschauer. Er blieb ungelenk in dieser Rolle.

Herta erzählte nicht nur Alwin von Peter, „er ist ganz niedlich, einfach gestrickt, grundlos zufrieden, ahnungslos wir alle Männer“. Sie hatte sogar einen Spitznamen für Peter. Ziemlich oft nannte sie ihn „Mogli“. Nie hatte Herta Peter erkennen lassen, dass sie mit einem eigenen Humor bei der Sache war. Ihre Doppelbödigkeit hatte sie ihm vorenthalten. Alwin unterhielt sie damit.

Peter fühlte sich hintergangen. Die unabweisbare Vorstellung, jahrelang Gegenstand konspirativer Betrachtungen gewesen zu sein, riss ein Loch in sein Gemüt. Herta hatte Peter für dumm verkauft, während er sie für dumm gehalten hatte. In Wahrheit waren nur die meisten ihrer Türen nicht aufgegangen.

Paare in der SPD

Herta hatte ihre Briefe an Alwin kurz vor dessen Tod einkassiert und mit ihren zusammen vor ihrem Mann versteckt. Nach Hertas Tod war ein Rollkommando der Verwandtschaft den schmalen Erbschnapp durchgegangen. Hertas Neffe Joachim, Jockel genannt, fand die Briefe. Sie stempelten Herta als Ehebrecherin ab und erklärten die notorische Verstimmung ihres Mannes.

Jockels Vater Willi deponierte dann die Briefe vor Peters Haustür. Peter und Willi waren gemeinsam konfirmiert worden. In ihrer zweiten Lebenshälfte war eine gleichgültige Zuneigung in gleichgültige Ablehnung umgeschlagen. So was passierte ständig. Aus den Geysiren der Jahrgänge und Nachbarschaften schossen Fontänen der Abneigung. Ich konnte Jockel nicht leiden. Er war auf allen Dorfdocks präsent. Nur die SPD mied er.

Eines Tages tauchte Peter zum ersten Mal mit Kerstin in einer Ortsvereinssitzung auf. Zehn Jahre nach Willi Brandts Thronbesteigung im Zuge einer Sozialdemokratisierung Deutschlands kamen Paare in der SPD in Mode. So endete die große Zeit der Klogenossenschaft. Bis dahin hatten es die Genossen immer wieder fertiggebracht, sich in einem, den Notwendigkeiten einer Schule angepassten Klo im Bürgerhaus (vormals Alte Schule) wiederzuvereinigen, nach einer Phase der Kleingruppenbildung zwischen einem umgedeuteten Klassenzimmer, dem kilometerlangen Korridor und dem Klo.

Früher hatten die Frauen keine Zeit gehabt, die sie auf unseren Sitzungen verschwenden konnten. Schon so hatten sie es schwer genug mit Männern, die nicht, wie mein Großvater und Onkel Klaus, ständig mit der Vermehrung ihres Vermögens und der Wahrung ihres Eigentums beschäftigt waren. Eigentum verpflichtet, bedeutete man musste das Eigentum mit Mauern, Zäune und Hecken vor allen Gefährdern schützen. Väter, die das Kapital für ihre Lage verantwortlich machten, und auf Umverteilung spekulierten, anstatt Wert schöpfend zu wirken, durften nicht damit rechnen, genauso ernstgenommen zu werden wie die anderen. Man sah in den Genossen keine Scharlatane, doch gab es eine Tendenz, die sozialdemokratische Suada für eine Tricktünche zu halten, die zumindest Schwachstellen verdeckte.

In meiner Erinnerung spurten alte Jungs vom Depot für die Plakate und Tapezierertische los, um sich im Einkaufszentrum unbeliebt zu machen. Unser Filialleiter des Weltgeistes suggerierte der schweigenden Mehrheit, dass die Sache der Arbeiter am besten von Unternehmern vertreten würde. Er lachte über Wirtschaftswissenschaftler. Wenn die alles besser wissen, warum sind die dann nicht reich?

In mir arbeiteten Zweifel, die mein Großvater mir eingegeben hatte. Waren jene Frauen nicht besser dran, deren Männer unentwegt bauten und schraubten und Grundstücke dazukauften, die nicht größer als Schrebergärten waren. Kleinvieh macht auch Mist. Kam ich aus der Küche in den Garten meiner Großeltern erkannte ich den Mehrwert der Tüchtigkeit. (Ich erkannte ihn schon in der Küche.)