Verlorene Siege
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.
Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen. Ihr Verdruss ist ein Fass ohne Boden. Vor der schlurfenden Invasion zieht sich die Bevölkerung wie an einem Band zurück. Die ersten, die glauben, sich zeigen zu dürfen, werden wie Spione behandelt. Für eine genauere Untersuchung fehlt die Kraft.
Ausgehobene verfluchen die ehrgeizigen Kosaken. Die Kavallerie erschöpft nichts. Ständig provoziert sie Scharmützel.
Jeder geschotterte Weg ist eine Chaussee.
Die Gegend ändert sich bis nur noch Wald die Wege säumt. Unbekanntes Gelände ist eine Sache, in einem fremden Wald kämpfen zu müssen, eine andere. Die Fußkranken fürchten das Varus-Schicksal, ohne es zu kennen. Sie erwartet die Niederlage von Allenstein, die als „Schlacht bei Tannenberg“ historisch wurde. Die Falschbenennung sollte eine deutsche Niederlage des 15. Jahrhunderts tünchen, die dem polnischen und litauischen Nationalstolz Nahrung gab.
Das erklärte uns Gernhardt, ich weiß den Vornamen nicht mehr, an einem Samstagvormittag im Herbst 1978 in der Tagungsstätte auf dem Hohen Dörnberg. Der Referent suchte das Interesse seines Publikums an der falschen Stelle. Die Jungsozialisten wollten siegreiche Russen. Gernhardts Versuch, uns mit dem Sujet der verlorenen Siege vertraut zu machen, scheiterte an der Zuversicht jugendlicher Genossen, die von der Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlauf zu Gunsten ihrer Ideale überzeugt waren.
Wer die Deutungsmacht besitzt, stellt die Weichen. Das war Gernhardts Lektion. Der deutschen Generalität gelang es mit einem Propagandacoup den polnisch-litauischen Sieg von 1410 in den Schatten zu stellen. Es folgte eine effektive Deklassierung Polens als Pappkameraden zwischen Deutsch- und Russland.
Gernhardt gehörte zu der Generation, für die der Marsch durch die Institutionen (lange vor den Achtundsechzigern) so selbstverständlich war, dass sie davon keinen Begriff entwickelt hatten. Nun sahen sie sich mit einer Entwicklung konfrontiert, die in Subkulturen und auf Außenbahnen führte. Austeiger*innen verzichteten freiwillig auf gesellschaftliche Teilhabe. Sie schlossen sich selbst aus, wie zum Hohn jener Ohnmächtigen vergangener Tage, deren Nachkommen wir waren.
Sektierer waren Verlierer. Sie arbeiteten der Reaktion in die Hände. Darin sah Gernhardt (so wie mein Vater) die größte Gefahr. Mein Vater predigte die Politik des kleineren Übels. Der Nachwuchs sah die Welt mit anderen Augen. Es durfte nicht sein, dass wir nur mit einem Kanzler regieren konnten, von dem es hieß, er sei in der falschen Partei. Schmidts schneidige Art und sein Genossen-Sie wirkten auf viele Jungsozialisten abstoßend. Der hochmütige Auftritt sicherte ihm mehr Akzeptanz auf der Gegenseite (und heizte Prozesse an, die zur Gründung der Grünen führten).
Was haben wir von der Macht, wenn wir keine sozialdemokratische Politik machen können, ohne den Kanzler zu verlieren. Das fragten sich Leute, die sich Sozialisten nannten und die Mutterpartei hart angingen.
Noch war die Bombe des Tages nicht geplatzt. Keine Tagung ohne Tränen.
Es war die hohe Zeit der Strickerinnen und der passiv aggressiven Abwehr. Alle hatten das Gefühl, sich zu wenig zu engagieren. Im Iran, in Afghanistan und in Nicaragua standen die Zeichen auf Revolution. Bei uns tat sich nichts. Nachmittags widmete sich Madeleine Wieland der Frau im Sozialismus. Der Veranstaltungstitel zitierte ungenau August Bebels theoretischer Vorstoß „Die Frau und der Sozialismus“. Außer Madeleine und mir hatte das Buch keiner gelesen.
„Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein.“
So knackig beginnt Bebels hunderttausend Auflagen starkes Grundlagenwerk „Die Frau und der Sozialismus“.
Bebel untersucht das Wesen und die Ursachen der Unterdrückung. Er erklärt, dass „naturgemäß“ erscheint, was „immer schon so war“. Er räumt mit dem Aberglauben von den ewigen Werten auf.
„Ewig ist nur der Wechsel.“
Er erkennt: Sitte kommt aus den sozialen Bedürfnissen einer Gesellschaft. (Nicht aus göttlichen Verordnungen.)
Bebel interessiert zunächst die „Stellung der Frau in der Urgesellschaft“. Die Frau rangiert unter dem Arbeiter. „Sie ist das erste Wesen, das in Knechtschaft kam. Die Frau wurde Sklavin, ehe der Sklave existierte.“
Wildheit, Barbarei, Zivilisation
Bebel übernimmt eine dreistufige Unterscheidung. Die Wildheit spricht er als Kindheit der Menschheit an. Einen Begriff von ihrer Verfassung geben ihm ethnologische Studien. Er skizziert in kolonialen Kategorien „rückständige Familien- und Verwandtschaftssysteme, die von unseren grundverschieden sind“. Dem Autor kommt es darauf an, seinen Lesern klarzumachen, dass ihre Lebensbegriffe vielmehr aus der Kultur als aus der Natur geschöpft sind. Er sucht Wege zu mutterrechtlichen Organisationen, um einen angenommen „Urzustand“ von allen Kontaminationen des Jetzt befreit schildern zu können.
„Unter dem Mutterrecht herrschte im Allgemeinen ein Zustand verhältnismäßigen Friedens.“
Worauf er hinauswill: das ist eine Zeit, in der die Frau eine hervorragende gesellschaftliche Rolle spielte. Er nimmt dies als Voraussetzung dafür an, dass sie die einstige Höhe wiedererlangen kann. Sie bringt aus der Urzeit ihre Qualifikation mit.
Bebel weist auf Fehler in der Bibel hin. Er fragt: Wo hat Kain das Weib her, das ihm einen Sohn gebar. Er gelangt vom Inzest über die Promiskuität in endogamen Urzeithorden zu Blutverwandtschaftsfamilien.
Schließlich muss der Pool erstmal gefüllt werden, bevor Differenz bis zum Dissens ausgebildet werden kann.
Bebels Emanzipationsvorleistungen binden sich an den europäischen Kulturkreis. Die höchste Kulturstufe erscheint in diesem Kontext als Voraussetzung dafür, die (Frauen nicht „zur Haushüterin degradierende“) Ur-Form des Zusammenlebens im Sozialismus zu reaktivieren.
Bebel erkannte die geringsten Unterschiede zwischen Mann und Frau in archaischen Gemeinschaften kleinerer, leichterer und dümmerer Menschen im Vergleich zu den Zivilisierten, denen der Autor sich mitteilte. Er geht soweit, es in diesem Zusammenhang bemerkenswert zu finden, dass auch bei den Russen „was Körperlänge anbetrifft, kein so großer Unterschied zwischen den Geschlechtern wie bei Engländern und Franzosen“ besteht. Ich sende der letzten Feststellung ein russisches Sprichwort zu: Der Deutsche kann nicht ohne Eisenbahn, aber der russische Adler schafft es auch zu Fuß.
Abends beschwerte sich Madeleine über meine Zurückhaltung. Ich hatte es vermieden, mit den richtigen Fragen und Einwürfen die Diskussion in Gang zu bringen. Das hatte sich Madeleine selbst zuzuschreiben. In einer Troika gemeinsamer Interessen und Idiotien war es Madeleine, Roland und mir zwei Jahre gelungen, unsere Freundschaft nicht der Liebe wegen aufs Spiel zu setzen. Nun hatten Madeleine und Roland fadenscheinig nicht die Freundschaft, wohl aber ihre Liebe zu etwas Unverbindlichem und Vorübergehendem erklärt. Schon bald wolle man wieder in das ursprüngliche Kerngehäuse der Vertraulichkeit zurückkehren; ich möge mich nur gedulden.
Ich empfand Madeleine und Roland als Abtrünnige, obwohl ich der Abgesprengte war. So bizarr funktioniert Wahrnehmung. Das muss ich ausbauen. Schon im Kindergarten war mir aufgefallen, dass es Prinzessinnen und Schleppenträgerinnen so wie Prinzen und Steigbügelhalter gibt. Nie stand außer Frage, dass ich kein Prinz war. Das wurde so deutlich angezeigt wie die Uhrzeit am Kirchturm. Ich strebte ohne Vorbildung in die Rolle des Beraters einer Prinzessin. Waren die Konstellationen fixiert, vergaßen alle die Bedingungen ihres Zustandekommens. Dann war man befreundet und hatte Rechte. Es musste einem zugehört werden. Man war in der elternhäuslichen Umgebung der Freundin (zumindest halbwegs) willkommen und genoss Anspruch auf einen Platz am Esstisch. Ich habe oft und mit gutem Appetit in der Gesellschaft unzufriedener Väter gegessen. Ihnen war ich nicht unterlegen. Sie waren schon dabei, Sediment zu werden.
Ich wusste nicht, ob Madeleine und Robert ihre Liebe oder unsere Freundschaft herunterspielten. Ich verstand nicht, wie sie nach all den Freundschaftsbeweisen im Nagelbett der körperlichen Nähe so heiß aufeinander sein konnten. Ich ignorierte meine eigene Strategie. Jeder Versuch einer körperlichen Annäherung hätte die Freundschaft zerlegt. Andererseits durfte ich nicht nur, sondern sollte sogar in der riskanten Zone Zelte der Zurückhaltung aufbauen. Genau wie Roland, nur anders.
…
Die erste Tagungskatastrophe begann mit einem Blechschaden; verursacht von einem Fahrer ohne Führerschein. Der widerrechtlich geführte VW-Variant gehörte dem Freund einer Tagungsteilnehmerin, die politisch nicht gebunden war. Nennt sie Silvia. Silvia hatte Jürgen ans Steuer gelassen. Sie war in Jürgen verliebt, aber mit Variant zusammen. Variant studierte Maschinenbau, verbrachte seine Freizeit in Kneipen und gehörte zu einer Horde Anti-Intellektueller, die mit ihrer Grobschlächtigkeit deutlich in Erscheinung trat. Das waren aus (selbst im Vergleich mit Kassel) kleinen, vor allem westfälischen und niedersächsischen Städten Zugezogene, ich denke gerade an Paderborn und Höxter. Sie kultivierten abseitige Vorlieben für lokale Bands, Bildgeschichten und Kreisligaereignisse. Einer besaß einen Schrebergarten, das war ein schräger Gipfel. Manche übten handwerkliche Berufe aus, unverbunden mit den Abitur-Gärtnern und -Schreinern, die das Programm der Grünen vorwegnehmend auf der Verzichtschiene unterwegs waren.
Kein Variant übte freiwillig Verzicht. Die meisten waren mit Anfang Zwanzig aufgeschwemmt und konditionsschwach und trotzdem von sich so eingenommen wie die Spitzenkräfte der Subkultur.
Zwischen Variant und Jürgen klaffte es gewaltig. Wie kam dieses Dreieck zustande? Wieso war Silvia mit Variant zusammen? Er hatte ihr das Auto, sie Jürgen das Steuer überlassen. Jürgen hatte den Volvo von Freimuts Vater auf dem Parkplatz der Tagungsstätte touchiert. Ein emotionaler Blowout trieb die Mannschaft und ihre Empfindungen ins Freie. Die vierzig Tagungsteilnehmer*innen schlugen sich wie ein Mann auf Jürgens Seite. Niemand warf ihm Leichtsinn vor. Keiner ließ sich über seine Fahrtüchtigkeit aus. Man verlangte von Freimut, bei der Schadensmeldung Silvia als Fahrerin anzugeben. Das Politische war privat, und Jürgen einer von uns.
Wir bemerkten den Wanderer erst, als er sagte: „Ich habe alles mitangesehen.“