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2019-02-16 06:34:29, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Gegnerstrategie

Mittwoch, 8. Februar 1860 - Den Figaro gelesen. Nichts. Kein Duell diese Woche. Journal des Goncourt

Heimlicher Käse

Unter der Woche reichte die Katzenwäsche. Wasser war mit Vorsicht zu genießen, Wasser tat der Haut nicht gut. Selbstgemachte Marmelade hatte einem besser zu schmecken als gekaufte. Die eingelagerten Äpfel und Kartoffeln schmeckten vor ihrer Neige im Frühjahr nach bitterer Not und ließen sich nur mit schwersten Ermahnungen und Hinweisen auf den Kohldampf der Kriegskinder herunterwürgen.

Blumenkohl in Fett geschwenkt. Zu den Schlössern der Armut meiner Kindheit zählten die Vorfreuden auf den Urlaub. Sobald die Reise losging, schwand die Freude dahin. Alles wurde rationiert und portioniert. Ein Stück Schokolade musste man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schmeckte nach mehr. Solche phonetischen Koinzidenzen mehr - Meer, Beeren - Bären beglückten meinen Vater.

Wir hatten alles dabei. Auch einen Campingkocher. Deshalb gab es Blumenkohl fast roh statt Pizza. Es gab ihn nicht ohne den Zusatz gesund.

Im Auto gab es schon mal gar nichts.

Wir waren verwöhnt. So verwöhnt, dass ich mir von selbstverdientem Geld einen Lauterbacher Strolch Camembert kaufte, nur um einmal über den bloßen Hunger hinaus – das ist nur noch Appetit – Käse zu essen. Die selbstverständlich heimliche Zufuhr war ein Vertrauensbruch.

Dann kam die Freiheit der Jugend. Plötzlich war ich vorn mit dabei, wenn auch nur in Kassel, wo sich die Vergangenheit länger hielt als anderswo. Kassel war die letzte Stadt vor der Grenze. Unsere Verwandten in Eisenach lebten in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Verwandten der anderen lebten in der Ostzone.

Holger sagte manchmal Ostzone und manchmal fand er die Worte der Anerkennung. Es kam darauf an, ob er als Pfadfinder- oder als Jungsozialistenführer zu uns sprach.

„Das Dichten darf nicht aufhören“.

Mit diesem Appell von Peter Suhrkamp aus der Frühzeit der alten Bundesrepublik begann ein großer Gesang des SPD-Apachen Holger auf dem „Erlebnisberg“ Hoherodskopf im Vogelsberg. Gezogen von der traurigsten Mähre der Gegend, rumpelten wir in einem lächerlichen Prärieschonernachbau über den Vulkan. Auch der Kutscher sah nach Mistwetter und Alkoholnebel aus, aber auch nach einem verschwiegenen Glück im sozialen Unterholz. Madeleine studierte Soziologie in Frankfurt am Main, Adorno und Horkheimer zu Ehren. Sie war fünf Jahre älter als ich und prunkte mit ihrem Seminar- und Wohngemeinschaftsvokabular. Wir waren in Kassel zu ahnungslosen Adepten der Frankfurter Schule geworden; nicht zuletzt deshalb, weil unsere sozialdemokratischen Eltern über Brecht und Biermann nicht hinauskamen. So konnte man die intelligente Reaktion nicht kontern. Mein humanistisch gebildeter Deutschlehrer vertrat den Standpunkt, dass eine Hochkultur ohne Sklaven nicht zu haben sei. Er führte Mesopotamien, Griechenland und Rom an, um uns Beispiele zu geben. Er sprach von Prädestination und Destination. Der Radikalenerlass fand auf ihn keine Anwendung.

Holger zog ein Bein nach, er sah aus wie ein ramponierter Steve McQueen. Er war in Kämpfe mit Toten, Verletzten und Zerstörten auf zwei Kontinenten verstrickt gewesen. Der politische Anstrich hatte eine private Angelegenheit getüncht. Das Private war in der Gegnerstrategie untergegangen und nie mehr aufgetaucht. In Amerika kostete der Kampf einem Mann das Leben, der für das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in Baton Rouge gearbeitet hatte.

In Afghanistan erschien ein Krieg unvermeidlich. Die Mudschaheddin waren noch die Guten.

Baton Rouge hieß die Band meiner Schule. Gerade war ihr Frontmann tödlich verunglückt auf einer Fahrt im Käfer nach Helsa. Seine Freundin hatte am Steuer gesessen. Wir saßen dann im Wald am Lagerfeuer. Holger deklamierte. Er war spät zum Dichter geworden. Ihm fehlte die Angst, sich lächerlich zu machen. Seine Ode schweifte aus bis zu Bernd Lunkewitz, der 1969 von einem NPD-Ordner in Kassel angeschossen worden war. Das hatte die Stadt zu einem heißen Pflaster gemacht.

Roland zapfte Bier vom Fass. Er war der einzige Kasseler Genosse, der Madeleines Frankfurter Verhältnisse kannte. Er verhehlte den Eingeweihten ein Unbehagen. Inferiorität nagte an ihm. Die Frankfurter spielten in einer anderen Liga. Im Häuserkampf war der Staat aufgemischt worden. Die Danys und Joschkas weilten nicht hinter den Sieben Bergen im Grimms Märchenland.

Roland lebte gern weit vom Schuss. In Kassel konnte er sich ein Auto, ein Motorrad, eine große Altbauwohnung und zwei Garagen leisten. Stets fand er einen Parkplatz direkt vor der Kneipe seiner Verabredung. Sonntags aß er bei den Eltern. Er hing auch an seinen Geschwistern.

Roland hatte alles, was er brauchte, abgesehen von der Gewissheit, Madeleines Eskalationen gewachsen zu sein. Sie war dabei, ihn abzuhängen, so wie sie mich zwei Jahre zuvor aus dem Rahmen ihres Lebens genommen hatte. Ein alter Schmerz fühlte sich wohl in mir. Längst genoss ich das Ziehen der Sehnsucht. Das war mein Vorsprung. Ich kostete die Süße des Liebeskummers aus.

Madeleines Fleecejacke wirkte wie ein Proust’sches Madeleine. Einer von uns lernte in der Berlitz School zusätzlich Französisch, um irgendwann „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ im Original lesen zu können. Einmal war Madeleine etwas wegen mir passiert. Sie hatte sich einen Fuß vor der Martinskirche gebrochen oder zumindest den Knöchel verstaut. Der Wunsch mich zu sehen, hatte sie sich beeilen lassen.

Die Hast trug die Schuld am Unfall und ich war schuld an der Hast.

In der linken SPD gab es unterstützende Verbindungen zu den Spontis und RAF-Derivaten. Von der rechten SPD wurden die Spontis bekämpft. Der Frankfurter Oberbürgermeister Rudi Arndt verantwortete die Baupolitik, die den Häuserkampf provozierte. „Seiner 1965 geäußerten Idee, die bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main zerbombte Alte Oper nicht wiederaufzubauen, sondern sprengen zu lassen, verdankte er den Spitznamen Dynamit-Rudi.“ (Zitiert nach Wikipedia)

Arndt war ein Mann nach dem Herzen meines Vaters und zugleich ein Feindbild der Jusos. Roland und ich schlurften schon in den Puschen der Altvorderen, zufrieden mit den gesellschaftlichen Raumgewinnen im Zuge einer Vermögensumverteilung, der Verbreiterung des Mittelstandes sowie der Bildungsreform. Wir bemusterten den nächsten sozialdemokratischen Prototyp. Das war der Sportlehrer im Karmann-Ghia. Ein Typ wie aus der Camel Filter Werbung.

Am Horizont zeichneten sich Kämpfe in Brokdorf und in Walldorf ab. Die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses war ein SPD-Projekt in nächster Zukunft. In der Partei prallten die Gegensätze aufeinander. Die vermittelnden Instanzen erlagen dem Fieber der Empörung auf allen Seiten.