Viele hatten nach Holgers Anweisungen gelernt, sich im Wald zu bewegen, aber nur in mir war das Verlangen gewesen, mit der Nacht und ihren Schatten zu tanzen. In unserer Nachbarschaft sangen Falken ein Lied der kubanischen Revolution - Hasta Siempre Comandante. Aprendimos a quererte ... Che Guevara war der schönste Held. Die Jugendarbeit war sozialistisch und weit weg von den Leitlinien der erwachsenen SPD. Den Falken erschien Schmidt als Fremdkörper und Parteizerstörer. Se despierta para verte ... Der Nachwuchs chilenischer Exilanten sang richtiger als der Rest. Ein Jahr nach Allendes Sturz hatte die Nelkenrevolution stattgefunden und wir waren alle Portugiesen gewesen.
„Du musst den Gegner delegitimieren“, erklärte Holger spät in der Nacht auf dem Hoherodskopf. Madeleine schmiegte sich an Roland und quittierte die kämpferische Attitüde des alten Jungsozialisten mit den Signalen eines schwachen Interesses.
Ich hörte gespannt zu. Holgers Janusköpfigkeit zählte zu den schönsten Rätseln meiner Jugend. Er hatte mich (wie viele Jungen aus dem Kasseler Osten) mit Karten-, Knoten-, Kompasskunde, Geländespielen und Überlebenstraining Jahre auf Kurs gehalten. Holger war der ewige Hessenmeister im Kraftdreikampf. In der Gesamtschule bot er Kraftunterricht an. Sprach er zu uns als Pfadfinderführer, klang er wie ein Revanchist beim Referat über die verlorenen Ostgebiete. Der Juso Holger gehörte hingegen zu einem semi-konspirativen Netzwerk radikaler Linker, das den Feierabendterrorismus der Roten Zellen zumindest unterstützte. Grauzonenkriminalität ist personalintensiv.
In jeder Rolle erschien Holger so eindeutig, dass niemand an ihm zweifelte.
Ich zweifelte auch nicht an ihm. Ich kannte diese Widersprüchlichkeit von meinem Großvater. In ihm grüßten sich die Extreme. Das fiel mir vor ein paar Tagen noch mal anders ein, als ich bemerkte, wie schwer links- von rechtsradikalen Texten inzwischen zu unterscheiden sind. Linke Trolle der „Mit-allen-Mitteln-gegen-Rechts“-Fraktion produzieren eine Kommentarspalten-Counterprosa, die Rechten suggerieren soll, sie stünden auf verlorenem Posten und könnten einem noch traurigeren Schicksal nur entgehen, wenn sie sich von den Zinnen ihren Burgen und Schlösser stürzen würden.
Holgers Reputation verdankte sich einem unwahrscheinlichen Sieg. Um in den Kategorien der Gegenwart anschaulich zu werden. Stellt euch vor, Jan Böhmermanns Erdoğan-Schmäh sei von einem Ghost geschrieben worden, der Erdoğan bloßstellen sollte. Nach der destabilisierenden Devise: Das kann man über den türkischen Regierungschef ungestraft sagen. Wie mächtig wollt ihr so einen finden?
Wir sagen dem Kaiser, dass er nackt ist.
Stellt euch weiter vor, dass Böhmermann und der Ghost in einer Verbindung stecken, die unabhängig von politischen Standpunkten Tausende in Deutschland zusammenfasst. Ihre Attitüde ist linksradikal, aber ihre Spielräume sind bürgerlich. Sie spielen mit Genres. Ihr Ziel ist die Delegitimierung und Destabilisierung von Personen und Gruppen.
Nehmt an, politische Organisationen, Stiftungen und Theater funktionieren (auch) als Manövriermodule einer Organisation ohne Namen und Anschrift. Was, wenn diverse Interventionen aus einer Kiste voller Brandsätze kommen.
Schon in meiner sozialdemokratischen Jugend unterschied man zwei Typen. Klare-Kante-Kleingärtner, die in allen Verfassungen ihrer Existenz auf einer Linie bleiben, und den changierenden Genossen, Parteibuchkarrieristen und anders Ungeraden. Die einen folgen der Stimme ihres Herzens, die anderen strategischen Überlegungen. Die einen gehören zur Mehrheit, die anderen zu einer Minderheit. Haben die Strategen sich mit ihrem Parteibuch erstmal irgendwo eingenistet, wirkt die Parteizugehörigkeit wie eine Nebelmaschine.
Grundsätzlich eignen sich Parteien als Repräsentanzen von Minderheiten nicht so gut wie meinungsformende Medien. Zu Holgers Zeiten war Westdeutschland von Interventionen aus der DDR betroffen. Ein Staat spielte mit den Bausteinen der Außerparlamentarischen Opposition und blieb juristisch ungreifbar.
„Wenn du gegen einen Staat antrittst, erkennst du erst mal nichts“, erklärte Holger am Lagerfeuer.
„Der Gegner erscheint konturlos in seinen vielen Gestalten.“
Madeleine machte es sich noch ein bisschen bequemer auf Rolands Rumpf. Die Helden des Häuserkampfes und die akademischen Erben der Frankfurter Schule standen vor ihrer Attraktivität Schlange. Doch noch gehörte Madeleine zu uns Nordhessen.
„Was macht man, wenn man einen Staat zum Gegner hat?“
„Du brauchst einen Günter (Guillaume). Sobald er sich bloßstellen lässt, lässt man ihn fallen.“
Holger legte Holz nach. Außerhalb des Feuerscheins ging es im Sekundentakt um Leben und Tod. Es roch nach Kien.
Wir hörten den kräftigen Piss des alten Kutschers. Ein Furz löste sich in der Erleichterung. Holger zeigte mich mit dem Finger an.
„Woran erkennt man den Günter?“
„Er dreht sich schneller als die anderen.“
„Was machst du?“
„Ich schalte mich ab und nehme nur, was er gibt. Ich überlasse ihm das Weitere und beschleunige nichts.“
Selbstverständlich sozialistisch
Ich bemerkte einen Ausdruck väterlichen Stolzes. Viele hatten nach Holgers Anweisungen gelernt, sich im Wald zu bewegen, aber nur in mir war das Verlangen gewesen, mit der Nacht und ihren Schatten zu tanzen.
In unserer Nachbarschaft sangen Falken ein Lied der kubanischen Revolution - Hasta Siempre Comandante.
Aprendimos a quererte
Che Guevara war der schönste Held. Die Jugendarbeit war sozialistisch und weit weg von den Leitlinien der erwachsenen SPD. Den Falken erschien Schmidt als Fremdkörper und Parteizerstörer.
Se despierta para verte
Der Nachwuchs chilenischer Exilanten sang richtiger als der Rest. Ein Jahr nach Allendes Sturz hatte die Nelkenrevolution stattgefunden und wir waren alle Portugiesen gewesen. Es gab immer Grund zur Hoffnung so wie es immer einen Günter geben würde. Man kann nicht Speichellecker eines Granden sein, ohne den Trabantenstatus süchtig zu lieben. Guillaume war ein Brandtmann gewesen. Er hatte dem Willy der Herzen zu einer Dolchstoßlegende verholfen, die es Brandt erlaubte, über seinen Verhältnissen ehemaliger Kanzler der Bundesrepublik zu sein. Mein Vater hatte ihn schon mit Brigitte Seebacher zusammen gesehen, die Seebacher arbeitete in der Pressestelle des Parteivorstandes im Erich-Ollenhauer-Haus.
Das Gerücht kursierte. Iris Leise, die Astronautin werden wollte und jeden Tag im Park Wilhelmshöhe etwas für ihre Gesundheit tat, hatte mir zuerst von Brandts Neuer erzählt. Ihr Vater war der Ben Witsch auf der Landesebene – ein Mann mit Missionen. Er koordinierte die Beziehungen zu den Palästinensern auch in einer Art Studienwerk, das es israelischen Palästinensern ermöglichte, in Deutschland zu studieren. Iris kannte Jordanien, schwärmte vom Mittleren Osten und der Geschwindigkeit, mit der Araber Deutsch lernen. Von ihr wusste ich, dass der SPD-Sicherheitsdienst stets über den Trainingsstand der RAF-Leute informiert war, die zuerst in Jordanien, dann im Jemen und endlich im Libanon Feuerzucht gelernt hatten. Interessen und Neigungen kreuzten und querten sich. Iris wurde von palästinensischen Studenten wie eine Prinzessin behandelt. Die Hochachtung genoss sie mit gemischten Gefühlen.