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2019-02-23 06:32:44, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD - 1978 sagte Günter Grass: „Die Lyrik bietet eine Möglichkeit, sich genau in Frage zu stellen.“

Dornenkronen des evangelischen Verzichts

Günter Grass © Jamal Tuschick 

„Den Sitz der Seele mit dem Messer suchen.“ Heiner Müller

Günter Grass war die zentrale Figur des sozialdemokratischen Glasperlenspiels. Er saß bis in alle Ewigkeit mit Willy Brandt beim Wein auf dem gelben Wagen im Kanzlerzug. Seine Gleichungen waren einfach. Einerseits: „Nach elf Jahren noch Spaß gehabt zu haben an der Brandt-Sache“. Andererseits: „Unser Hass ist witterungsbeständig.“

Mit ödipaler Gereiztheit gingen ihn Jungsozialisten an. Sie witterten den glänzend geprägten falschen Fuffziger. Grass sprach von „bärtigen Brustkindern, an Zigaretten gelehnt“. „Ab vierzig sollten alle Männer wieder gesäugt werde - und zwar öffentlich“, verlangte er. Die Studien-Rätinnen kicherten im Chor, sie hatten ihre alten Säuglinge in Pullundern dabei.

Eingebetteter Medieninhalt

Auch die alte Leise hatte einmal den dritten Preis in einer poetischen Konkurrenz gewonnen. Damals war Walter Höllerer der literarische Ansager gewesen.

Höllerer sagte an, wo es lang ging in der kaputten Republik Westdeutschland.

Nun las Iris‘ Mutter Margarete aus ihrem Frühwerk, dem keine Aufwallungen gefolgt waren. Der Mann, die Kinder, die amtliche Pädagogik und der Haushalt hatten ihre künstlerische Produktivität lahmgelegt. Das war auch ein später Triumph des Patriarchats. In der nächsten Generation würden Frauen nicht mehr so einfach klein zu halten sein.

Das Wohnzimmerauditorium sah aus wie das Volk von Grassland. Da waren lauter Kapitäne mit König Ahab-Bärten sowie Erhard Epplers und Siegfried Lenze mit ihren knochigen Gattinnen aus dem höheren Schuldienst, die ihre Dornenkronen des evangelischen Verzichts trugen - zur Feier des Abends.

Aus Jux hatte sich Magarete an dem Lyrik-Wettbewerb beteiligt, es kamen bald die Lektoren in Legion, ihr die Gedichte aus der Hand zu reißen: „Mir war so, als müsse das Goldene Zeitalter nun anbrechen“.
Noch vor dem Debüt endete der Hype in einer grassierenden Verstimmung. Ein Verleger, „ihr wisst wohl wer“, verstand die Freundlichkeit der höheren Tochter falsch. Danach wollte keiner mehr etwas mit ihr zu tun haben.

Margarete rückte ihre Erzählung in ein Blendwerk der Unerschütterlichkeit. Es war die hohe Zeit von Günter Grass, der als Ehrengast sich im maurischen Schloss der Leises eingefunden hatte und zu seinem Verdruss auch mit Wolf Biermann vorliebnehmen musste.

Margarete Leise war eine geborene Dupont. Ihre hugenottischen Vorfahren hatten die Gunst des Landgrafen Carl, der über fünfzig Jahre Hessen regierte, genossen. Sie erwarben sich ihre Plätze im Gedächtnis der Stadt als Baumeister. Unter Landgraf Friedrich II. wurden die Nachkommen protestantischer Religionsflüchtlinge katholisch. Das war ein Treppenwitz der Weltgeschichte – und obwohl der Katholizismus dem evangelischen Geiz vorzuziehen ist und die Rekatholisierung Kassels zu den vatikanischen Geheimprojekten zählt – erklärt die Merkwürdigkeit doch vortrefflich, warum Margarete eine Verdrehte war, so verdreht, dass sie mich angemacht hatte in der geerbten Bibliothek des Privatgelehrten Salamander Leise, einem Zeitgenossen der Brüder Grimm.

Margaretes Mann Heinrich war Holger Börners Ben Witsch. Der handfeste Ministerpräsident (Dachlatten-Börner) bediente sich eines großbürgerlichen Emissärs, der ein Phänomen verkörperte, das ich körperlichen Schwachsinn nannte. Heinrich war ein Koloss, konnte sich aber nur durch die Gegend schleppen. In dem mächtigen Leib steckte keine Kraft. Die Zeugung seiner Kinder war ihm abgerungen worden. Das wusste man in der Familie. Iris fühlte sich von den Modalitäten düpiert. Margarete entschuldigte ihr Begehren mit Heinrichs bizarrer Indolenz.

Heinrich liebte das Arabische, er half den Palästinensern, zumal den israelischen, indem er der künftigen Elite die Wege in Deutschland bahnte. Nicht wenige Araber verloren in Deutschland ihre akademischen Interessen und Verpflichtungen aus den Augen. Die Sexchancen absorbierten sie. Sie übernahmen Diskotheken und Imbisse, heirateten Deutsche und kehrten aus Scham nicht in die erste Heimat zurück. Um solche Verluste zu reduzieren, hatte Heinrich ein nahezu unsichtbares Gatter errichtet, in dem sich die Studierenden vom Tag ihrer Ankunft bewegten. Natürlich brachen welche aus, aber es gab diese listigen Vorkehrungen.

„Ich wollte früh vollendet und genial sterben“, verriet Grass. Er verbreitete Vitalität.

Grass war die zentrale Figur des sozialdemokratischen Glasperlenspiels. Er saß bis in alle Ewigkeit mit Willy Brandt beim Wein auf dem gelben Wagen im Kanzlerzug. Seine Gleichungen waren einfach. Einerseits: „Nach elf Jahren noch Spaß gehabt zu haben an der Brandt-Sache“. Andererseits: „Unser Hass ist witterungsbeständig.“

Mit ödipaler Gereiztheit gingen ihn Jungsozialisten an. Sie witterten den glänzend geprägten falschen Fuffziger. Grass sprach von „bärtigen Brustkindern, an Zigaretten gelehnt“. „Ab vierzig sollten alle Männer wieder gesäugt werde - und zwar öffentlich“, verlangte er. Die Studien-Rätinnen kicherten im Chor, sie hatten ihre alten Säuglinge in Pullundern dabei.

Iris zog mich aus dem Trubel. In ihrem Zimmer wartete unser SPD-Apache, Juso-Greis und ewiger Hessenmeister Holger voller Hass auf Grass. Unfähig, zu altern, trieb ihn ein einzigartiges Schicksal um. Er war der Liebhaber anspruchsvoller Gymnasiastinnen aus den besten Familien. Er wurde immer nur in dieser Rolle besetzt. Obwohl Holger durchgereicht wurde und abgenudelt war, folgte der Letzten noch eine und noch eine in vollkommener Monotonie.

Wir türmten auf den Brasselsberg. Grass stand hoch auf den Hügeln. Vereinzelt überragten Villendächer die Wogen. In einem Garten trennte Iris den Schlauch vom Sprenger und duschte sich und uns in lächerlicher Exaltation. Iris reagierte exorzistisch und ängstlich auf das Versagen der Mutter. Margarete hatte es nicht geschafft. Was sie nicht geschafft, blieb unklar in der performativen Betrachtung.

Beim Steinernen Schweinchen erreichten wir den Habichtswald. Wir passierten das letzte Haus vor den Steinbrüchen. Wieland Steinfelde lebte da allein. Er baute untüchtige Holzfahrzeuge, die wie Relikte des 19. Jahrhunderts aussahen und völlig sinnlos waren.

Iris hakte sich bei Holger und mir ein und befleißigte sich eines ausholenden Schrittes, der uns nötigte. Wir waren Kasper in ihrem Kabinett.