Nicht die Werke der Schwestern Brontë oder eine Schwärmerei für Jane Austen hatten Simone eine romaneske Existenz nahegelegt. Henry James gab ihren Sehnsüchten passende Betonungen. Simone wollte Philologin werden und dem Andenken wenig populärer Schriftsteller dienen.
Einen Vater hatte sie nie gehabt und entbehrt. Simone war als zehnjährige Berlinerin und einzige Tochter der alleinerziehenden Exzentrikerin Sabrina Tuff in den ältesten Siedlungsraum des Kasseler Beckens geraten. Tauchte Sabrina auf, sah man vor allem Zähne. Sie erinnerte mich an den weißen Hai. Die habilitierte Stadtplanerin folgte meinem Vater auf den Thron. Zehn Jahre hielt sie den Vorsitz der Siedlungs- und Dorf-SPD. Das waren die letzten Schmidt- und noch eine Menge Kohljahre. Kein Mensch redete mehr von einem Wandel durch Annäherung. Die UdSSR wurde von einem Schauspieler im Weißen Haus, der sich von George Lucas‘ Krieg der Sterne inspirieren ließ, plattgerüstet.
Reagan bezeichnete das implodierende Imperium als Reich des Bösen. Er dämonisierte den Gegner. Dann fiel die Mauer und Simone kehrte (wie an unsichtbaren Fäden gezogen) zurück in die abgewirtschaftete Mitte Berlins. Alles leiert, schrieb sie. So ein Leben könnte einem zusätzlich geschenkt werden, man müsste es kurzerhand zu anderem Leergut packen. Berlin ist …
Lothar Trolle sagt: „Man hat Adressaten. Wenn man die eines Tages nicht mehr spürt, wird es Wichserei und man muss es lassen“.
Man wird steril und das ist doch steril: „Als wir wieder nebeneinander lagen, schämte ich mich nicht, nicht für …“.
Simone vergewisserte sich eines biografischen Standardtextes unserer Generation. Die Nähe zum bewaffneten Kampf bis zur Verblendung entschlossener Genossen gehörte dazu. So wie der individuelle Abstand zur Gewalt und die Gitarren unter dem Mond von Alabama. Mich enttäuschte Simones Dummheit.
Zehn Jahre zuvor
Simone biss sich gewohnheitsmäßig in die Unterlippe. Sie jobbte im Heimwerkerparadies und guckte Filme im Love Story Stil. Sie bewältigte große Strecken auf ihrem Skateboard. Sie wusste von der Zweifelhaftigkeit der Zweisprachigkeit zu Zeiten Friedrich Schleiermachers (1768 – 1834) schon als Schülerin.
Kurz nach dem Abitur, als alle anderen nach Amerika flogen, holte sie mich an Bord ihres Beruhigungsdampfers. Wir blieben in Kassel, wobei man sagen muss, wir sahen eher aus beträchtlicher Ferne die Stadt unter ihrer Glocke.
Die vorstädtisch wachsenden, auf Buntsandstein, Keuper- und Muschelkalkrücken gesetzten Dörfer sind älter als der historische Kern Kassels an der Schlagd.
Ich leistete meinen Zivildienst mit Essen auf Rädern im Landkreis ab. Ich hatte eine Heimschlaferlaubnis und Anspruch auf Vollverpflegung. Mir stand alles zu, was den Zivildienst angenehm machte. Simone wusste daraus einen besonderen Nutzen zu ziehen. Zu Lasten der öffentlichen Hand bezog sie (mit mir) ein Haus, das zur Försterei Fahrenbach gehörte. Wir sparten hundertzwanzig Mark Miete im Monat. Ich habe nie malerischer gewohnt. Im Garten stand der schiere Knorz in surrealen Verschlingungen.
Die Eingesessenen nannten die Gegend das Alte Land.
Ich verbrachte meine Freizeit in der Söhre, dem Königsforst, der seit Karl dem Großen Erwähnung findet und die längste Zeit als feudaler Wirtschaftsraum genutzt wurde. Die Landgrafen und Kurfürsten jagten da. Ein reiches Revier galt ihnen mehr als die Belange der Bauern, die Wildschweine von ihren Äckern nur harmlos vertreiben durften, was schließlich auch den Verheerenden klar war.
Auch die Wuchsschäden kratzten keinen Fürsten, obwohl er vom Holz nicht zuletzt lebte. Auf der hundert Meter langen Bahn einer Sturmschneise sah ich zum ersten Mal einen Hirsch in seiner natürlichen Umgebung. Ich stand gegen den Wind.
Unsere nächsten Nachbarn waren vietnamesische Flüchtlinge, Boatpeople. Xuan arbeitete in Lohfelden als Koch in dem Restaurant eines Verwandten, den er Onkel nannte. Er lief jeden Tag quer durch den Wald, er war ein leidenschaftlicher Fußgänger. Seine fluffige Art verriet mir, dass er in einer Kampfkunst zu Hause war.
Ich hatte schon mit einigen Vietnamesen trainiert und sie als athletische Pragmatiker ohne den Biss der Besessenen kennengelernt. Ich sprach Xuan auf Bruce Lee an. Praktizierende nahmen Bruce Lee nur als Kampfkünstler und nicht als Schauspieler wahr.
Ip Man tauchte aus den Vermutungen und Legenden weltweiter Eastern-Begeisterung als Lehrer von Bruce Lee auf. Das war in den 1970er Jahren, damals trafen sich Gastarbeiter sonntags auf dem Bahnhof, dem Ort ihrer Ankunft in Deutschland. In den Bahnhofskinos lief Erotik und Gong-fu. Dazu brauchte man nicht viel Deutsch zu können, die Bilder sprachen. Kampfkunstfilme kamen aus Hongkong und folgten unentwegt dem Schema von bösen, blöden und dicken Besatzungsjapanern gegen edelschlanke Chinesen, klassisch mit Zopf. Das war Holzhacker-Karate gegen Peking Oper und Löwentanz, letztlich war das alle gegen Bruce Lee – und Bruce Lee gewann immer. Deshalb stellte sich die Frage: Was trainiert der Bruce? Die Antwort lautete: (Ursprünglich) Wing Tsun/Wing Chun.
Xuan gab den zurückhaltenden, stets abwägenden, niemals aus sich herausgehenden Mann. Er bewegte sich himmlisch statuarisch – in einem Sternentanz von Kraft, um eine Mitte, in der keinesfalls ein betäubter Wille stand.
Xuan und ich hatten uns etwas zu sagen, dass auch Simone ansprach. Im Wald legte sie ihre Zurückhaltung ab und überwand eine Skepsis, die sie lange von Exerzitien abgehalten hatte.
Wing Tsun/Wing Chun folgt vier Prinzipien:
Ip Man verkörperte den effektiven Minimalismus. Geboren 1893 in der Provinz Guangdong, repräsentierte er einen südlichen und weichen (innerlichen) Stil. Ip Man hatte die Muße, sich vom vollendeten siebten Lebensjahr an ununterbrochen in sein Gong-fu zu vertiefen. Nichts anderes interessierte ihn, bis er vierzig war. In der Zwischenzeit gründete er eine Familie und besiegte den nördlichen Großmeister in einem Bordell namens „Goldener Schwan“ im Kuchenkampf, eine Variation des fliegenden Papiertigers.