Bloß keine Dicke. Ich wollte eine Frau, die wenigstens annähernd so athletisch war wie ich, mit dezent definierter Muskulatur, ohne Bauchspeck. Nach meinen Beobachtungen eignete sich eine Kombination aus Weltraumgymnastik und leichtem Hanteltraining am besten, um diese Form zu erreichen.
Ich ging natürlich anders vor, zerrissen von den Prämissen meiner primären Prägung als Gewichtheber, Läufer und Schwimmer und der kampfsportlichen Sekundärprägung. Ein Schlüsselsatz der Boxer lautete:
„Eisen macht langsam.“
Ich hatte aber die Eisensucht der Kraftverrückten.
Ich war hin- und hergerissen zwischen antiken Formeln und einer Zukunft im Weiß des Keigogi. Die Zukunft meiner Eltern hieß Windsurfen. Die Vitalen des SPD-Ortsvereins, dem mein Vater lange vorgestanden hatte, bauten sich in einer Kooperation mit der DLRG ein Vereinsheim. Die Buchstabenfolge DLRG garantierte wie ADAC, HB und BMW die Vernunft in allen Dingen. Die Vernunft schlief in den Dingen. Sie musste nicht geweckt werden, weil alles in Ordnung war.
Meine Mutter war in der DLRG. Meine Großeltern waren rundum Allianz versichert. Ein Onkel fuhr Audi-NSU. Das war ein großer Fortschritt zum Messerschmitt-Kabinenroller, doch immer noch eine Winzigkeit im Vergleich mit den Straßenkreuzern der Amerikaner, die unsere Freunde waren, auch wenn ihre Chefs ständig darüber nachdachten, wie sie uns als Nuklearkaninchen experimentell nutzen konnten.
Es ging um den begrenzten Atomschlag.
Vor mir auf dem Schreibtisch liegt ein Trainingsheft, das ich mit zwölf geführt habe. Man baute Pyramiden. Auf der Bank stieg ich mit dreißig Kilo und vierzehn Wiederholungen ein, ging hoch auf zehn x vierzig, sieben x fünfzig, vier x fünfundfünfzig. Ich war kaum älter als mir ein alter Meister die technischen Abläufe des Kraftzweikampfs (Reißen und Stoßen) offenbarte. Anabolika kam aus spanischen Apotheken. Die ausgewachsenen Athleten röhrten wie Hirsche. Ihre Sprengrufe vertrieben keine Nebenbuhler. Es herrschte allgemeine Hypertrophie. Ich erinnere kein weibliches Wesen in dieser Sphäre; noch nicht mal eine abholende Mutter oder wartende Tochter.
Die „Folterkammer“ lag auf Fuldahöhe tief unter dem städtischen Geschehen.
Meine Überlegungen wurden von der Realität allenfalls gestreift. Die Erlebnisse mit Iris vollzogen sich Jahre später in einem Rahmen, in dem ich nichts bestimmte. Ob ich Iris attraktiv fand oder nicht, spielte keine Rolle. Es ging nur um sie. Die Einseitigkeit wirkte wie Nebel. Sex widerfuhr dem Anfänger auf einer vorbewussten Stufe. Die bleierne Müdigkeit zur ersten Stunde des nächsten Schulmorgens, gepaart mit gruppendynamischem Stress und Iris‘ heftigen Gefühlsschwankungen, führte zu Amnesien.
Buddhistischer Esel
Plötzlich waren wir neunzehn. Stiefel mit hauchdünnen, sichelförmigen Absatzeisen machten aus dem letzten Armleuchter einen gemachten Mann. Ich erschien damit auf einem Seminar in der Tagungsstätte Biedenkopf. Zwar hatte es noch die gemeinsame Anreise mit Iris gegeben, doch in der Stunde unserer Ankunft traf Erich ein und zog Iris in seinen Baal-Baader-Bann. Da kam Simone um die Ecke wie gerufen und sagte:
„Ich kann mir vorstellen, dass das für dich nicht leicht ist.“
Simones Mutter war vor langer Zeit einem akademischen Ruf nach Kassel gefolgt. Die Stadtplanerin hatte nie einen Vater für Simone bereitgehalten. Simone war bis zu ihrem zehnten Lebensjahr in einer politischen Berliner Kommune involviert gewesen und dann von ihrer Mutter in das Dorf versetzt worden, dass zu meiner Siedlung gehörte.
Simone lebte in einer Villa Kunterbunt mit ungeheuren Freiheiten. Gemessen daran war ihr Radius läppisch. Simone nahm mich in dem Augenblick ein: als Iris sich dazu entschloss, mit Erich ihr letztes Jahr in Kassel krachen zu lassen.
Erich distanzierte mich bis dorthinaus. Viele nannten mich Skelett, er nannte mich die muskulöse Jungfrau.
Schon damals wurde alles besprochen. Vorlieben und Abneigungen standen in der Kritik. Die Floskeln der Empörung unterschieden sich nicht vom aktuellen Repertoire. Ich wusste wenig von meinen Vorlieben und Abneigungen und ich kannte keine Empörung. Ich besaß den Langmut eines buddhistischen Esels.
Der Geruch von Holzbrand spielt in der Wurlitzer Gedächtnis-Jukebox alte Titel an. Sonnenacker hieß ein Flecken nahe der Försterei Fahrenbach, wo Simone eine magische Köhlerklause im Alten Land für uns zu mieten mir riet. Ich war als Zivildienstleistender bei der AWO mit Heimschlaferlaubnis in der glücklichen Lage, die hundertzwanzig Mark Miete der öffentlichen Hand entnehmen zu können.
Ich transportierte Simone und ihre Sachen in einem Renault 4 zum Knusperhäuschen. Simone summte im Auto vor sich hin.
Ich holte meine Siebensachen. Simone erwartete mich kiffend im Garten, wir hatten weder Telefon noch Fernseher. Mir graute vor so wenig Abwechslung.
Halbrund gesäumt von Bäumen und gekreuzt von einem Bach mit steinigem Ufer lag eine Wiese vor dem Garten. Weiden bogen sich über den Lauf. Eine Buchenkohorte strebte zweireihig zum Bach.
Die offene Seite schob ein Tal vor sich her. Die äußerste Linie bildeten Dächer. Ihnen vorgesetzt war ein Haus, zu klein für einen Aussiedlerhof. Es stand insular auf einem Acker. Vor dem Haus spielten Kinder aufeinander bezogen wie Ausgeschlossene.
Vier Hochsitze waren auf der Wiese so angeordnet, dass sich freie Schussbahnen ergaben - Jagdgeometrie.
Simone übersah mit ihren schiefergrauen Augen das Schlachtfeld, so idyllisch wie es da lag. Ihr neues Zuhause hatte Lustschießern als Jagdhütte, Tanzdiele und Absteige gedient. Selbstverständlich waren sie in ihren Daktari-Geländewagen vorgefahren. Solche Leute gingen nicht zu Fuß. Sie versammelten sich niemals in der sonntäglichen Spaziergängerrepublik. Das waren Anwälte, Ärzte, Architekten, die auf Tennis-, Golf- und seit Neustem auf Squash-Plätzen ihr Pensum abrissen. Kein Sport ohne kostspieliges Equipment.
Die Fürsten der Gegenwart begriffen sich als Erben landgräflicher Ansprüche. Der Wald war ihre Domäne. Sie züchteten den Bestand hoch. Riesige Suhlen und zu viele abgeäste Jungbäume bewiesen es.
Luderhaken ragten aus Balken. Ein gemauerter Grill stand im Garten.
Die Vegetarierin Simone ging wie im Traum in ihrem Garten herum, unberührt von den Zeichen einer Parallelgesellschaft. Sie sah den baumstarken Flieder, eine Seltenheit; die bizarr verknorzten Obstbäume, die mich an ein Jethro Tull Cover denken ließ.
Kein Strom aus der Steckdose. Der Regenspeicher war eine Tonne, Marke altes Ölfass. Das Scheißhaus stand fast schon im Wald. Über kurz würden Simone und ich so wie alle unsere Gegenstände nach dem Moder in den Hauswänden riechen. Der natürliche Zugriff war an allen Ecken zu spüren. Man muss ein Dutzend Zivilisationsschichten aufeinander kleben, will man verhindern, dass die Natur nicht sofort hereinschneit.
Im Haus wird Erde zu Dreck.
Simone war zu breit, um sich nicht himmlisch zu fühlen. Ich überließ sie ihrer Seligkeit und fuhr (als Anlieger legal) mit dem Renault auf der Jägerjeepspur über die Wiese. Ich nahm das freistehende Haus ins Fernglasvisier. Ein Asiate turnte auf dem Vorplatz. Noch wusste ich das nicht, da bewegte sich mein zukünftiger Lehrer. Xuan Phan wurde auch für Simone wichtig. In seinem mit Eternit hässlich verkleideten Haus kam das Wasser aus Hähnen. Simone verabredete bald ihren Alltag mit Xuan und seiner Frau Chau. Es gab gemeinsame Fernseh- und Spieleabende sowie kulturell diverse Kochstunden. Simone buk im Küchenwohnzimmer der Vietnamesen Haschisch in Kuchen. Das Ehepaar Phan nahm halbwegs sorglos Drogen. Nur die jungen Verwandten, nicht alle waren Kinder der Eheleute, sollten nichts mitkriegen.
Es wundert gewiss keinen, dass Simone und ich in unserer Sonnenackerzeit ein Paar wurden. Es war für uns beide die erste richtige Beziehung. Jetzt habe ich so viel um den heißen Brei herumerzählt. Ich finde keinen Dreh, den Kern dieser Episode aus meiner Geschichte zu ziehen.
Simone und ich fanden uns okay, das wollte ich die ganze Zeit sagen. Obwohl Simone dem Ideal meiner ausgreifenden Pubertät nicht entsprach. Mit meinen dreißig Kilo zu viel büße ich die jugendliche Hybris.