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2019-03-08 07:49:37, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Zentrale Randerscheinung

Monika Zeiger war eine zentrale Randerscheinung in der Gegend meiner Kindheit. Sie verkaufte Frikadellen, die sie Buletten nannte, und Currywürste in einem Imbiss an der Nürnberger Straße. Sie war in der SPD als unruhiger, frei assoziierender Geist. Ich erinnere mich an eine mutterwitzige Paraphrase von Fjodor M. Dostojewskijs „Ohne Mensch ist Gott allein“:

„Was würde Gott ohne uns machen.“

Über Gott sprach man nicht in der SPD. Monika repräsentierte im Ortsverein das prekäre Milieu. Obwohl sie in ihrer Fettbude mehr verdiente als andere im öffentlichen Dienst oder bei VW. Sie war weit und breit die einzige Genossin, die nicht von einem Gatten politisch konfirmiert worden war. Sie hatte keine Zeit, an Vereinssitzungen teilzunehmen.

Bis 1978 waren das reine Männerveranstaltungen. Als mein Vater zwei Jahre später den Vorsitz an Simones Mutter abgab, verkörperten zwei Frauen: Simones Mutter und Peters Kerstin (vormals Pfadfinderführerin) erst als neue und dann als vertraute Gesichter die neue Zeit.

Mein Vater stieg aus der Lokalpolitik so aus wie später aus dem Berufsleben. Knall auf Fall. Er machte keine halben Sachen, auch nicht als Windsurfer. Eine Abspaltung der örtlichen SPD kannte bald an Europas Küsten die besten Surf-Reviere. Wie auf Italienfahrt in den Sechziger- und Siebzigerjahren fuhr man Kolonne, nur eben jetzt mit schweren Volkswagen und Audis; die Bretter auf dem Dach. War man nicht auf Achse, hielt man sich zuhause fit. Die Vermögensumverteilung hatte stattgefunden. Nun ging es um Gesundheit und Ernährung.

Meine Eltern leben noch. Sie haben gute Renten. Für sie sind die Rechnungen der alten Republik aufgegangen. Das Rattenrennen war für sie schon zu Ende, bevor sich die Konturen der Berliner Republik und eine Erosion des Demokratischen im neoliberalen Furor zu erkennen gaben.

Die Geschichte als Brummkreisel

1978 zog die Besatzung eines deutschen Frachters vierhundertfünfzig Vietnamesen aus dem Südchinesischen Meer. Die Landesflüchtlingsverwaltungen, bis dahin vor allem für Aussiedler zuständig, hatten ein neues Thema. Der Motor einer neuen Migrationsdebatte war Ernst Albrecht. Der niedersächsische Ministerpräsident regierte gern aus seinem Dorf Beinhorn bei Hannover in die Welt hinein. Er holte gleich mal tausend Bootflüchtlinge in sein Bundesland und deklarierte das als Folge einer Familienratsentscheidung. Albrecht schickte Wilfried Hasselmann nach Malaysia, um die malaysischen Behörden auf Trab zu bringen. Die Geschichte ist ein Brummkreisel. Hasselmann diktierte der Presse dem Sinn nach: Jetzt könne man sich wieder gut fühlen als Niedersachse.

Tausend Mark zum Verjubeln

Xuan Phan, der zwei Jahre später mein Lehrer werden sollte, gehörte zu jenen an Land Gezogenen, die am 3. Dezember 1978 in Hannover-Langenhagen eine Maschine der Luftwaffe verließen. Nach der Kapitulation 1975 hatten die Sieger Xuan vorübergehend in einem Umerziehungslager untergebracht und den Betrieb seiner Familie enteignet. Insgesamt kamen zweiunddreißig nahe Verwandte in Deutschland an. Sie konzentrierten sich in Lohfelden im Landkreis Kassel, wo ein Onkel von Xuan ein vietnamesisches Restaurant eröffnete, in dem Xuan kochte. Er lebte mit seiner Frau Chau und einer Schar leiblicher Kinder so wie Nichten und Neffen in einem freistehenden Haus nahe einer Gemeinde im Kaufunger Wald (der Söhre). Nach den örtlichen Maßstäben waren wir Nachbarn. Simone und ich wohnten in einer Jagdbaracke der Försterei Fahrenbach. Simone verabschiedetet sich „nach und nach in (ihre) Abgelöstheit … den Kameraden (Genoss*innen) von jeher so unähnlich“. Dostojewskij charakterisiert so Wassili Michailowitsch Ordynoff in der „Wirtin“, einem Werk aus dem Jahr 1847.

Simone kiffte von früh bis spät. Ab und zu verschwand sie, um nach Tagen seltsam gekleidet wieder aufzukreuzen.

Ich schaffte Vorräte in den Wald, hackte Holz und mähte den Rasen. Ich kümmerte mich um die Bäume im Garten und um den Zaun. Simone kümmerte mich um die Beete. Sie versorgte uns mit großen Brocken. Mit tausend Mark zum Verjubeln und teurem dies und das. Simone beschenkte die Phans.

Stippvisiten im Hotel Mama

Simone baute ihre Position bei den Phans aus. In Xuans Haus kam Wasser aus Hähnen. Es gab Strom. In unserem Hexenhaus gab es das nicht. Wasser aus der Regentonne eignet sich kaum besser als Schlamm zur Reinigung. Simone badete bei den Phans oder in der Villa Kunterbunt ihrer Mutter. Im Übrigen beschränkte sie sich auf Katzenwäsche.

Da ich tagsüber im Kurierdienst der Arbeiterwohlfahrt „Greise & Gnome“ (Zivi-Jargon) mit warmen Mahlzeiten versorgte, hatte ich genug Gelegenheiten, Hygiene walten zu lassen. Manchmal stieg ich im Stadtbad Mitte ab und schwamm schnell drei-, viertausend Meter. Regelmäßig duschte ich bei meinen Eltern und nahm frische Wäsche mit, oft auch fertige Mahlzeiten in Tupperware.

„Stippvisite im Hotel Mama“, nannte meine Mutter das. Sie hätte mich gern ganz zu Hause gehabt. Sie hatte selbst noch als Dreißigjährige die Reservoire ihrer Eltern ausgeschöpft, mich ausstaffieren lassen und Kohle eingesackt.

Ich besuchte auch meine Großeltern und nahm Maß am künftigen Erbe. Ich schleppte ab, was ich oder Xuan brauchte, vom Bosch Schlagbohrer über Sägen und Äxte bis zur Betonmischmaschine. Mein fast blinder Großvater baute manisch weiter. Er hielt jeden erreichbaren Mann dazu an, mitzubauen. Nach der schweren Ölkrise von Neunundsiebzig strebte er vollkommene Autonomie an.