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2019-03-10 07:21:42, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Einseitige Monogamie

Vergeblich warteten alle auf Ilija Trojanow

Sogar auf den Knien war sie noch zu groß für ihn. Offenbar frustrierte das beide. Jedenfalls sah man Iris Leise und Yves Morand in Holgers jungsozialistischem Raumschiff bald Mühle spielen, und ich hörte, wie sie über den Kellnerkönig sprachen.

Volker Nowak war in der Pächterwohnung über dem Offenbacher Hof zur Welt gekommen, als Sohn der Kellnerin Tereza, eine der berühmtesten Koberinnen ihrer Zeit. Vielleicht saugte Volker mit der Muttermilch die Fähigkeit ein, Leute abzuziehen. Sein Vater war ein Gast gewesen und spielte weiter keine Rolle. Volker erlernte den Beruf der Mutter und übte ihn in Lackschuhen aus. Es war die hohe Zeit des Dollars. Für einen Dollar bekam man fünf Mark.

Progressive Rhetorik und repressive Praxis

Volker rechnete anders. Bei ihm gab es für einen Dollar nicht mehr als für eine Mark. Volker flog nicht auf. Hinter ihm sicherte ein Gremium Volkers Fadenscheinigkeit, dass von der Prellerei profitierte. Das war nicht das organisierte Verbrechen. Es führte kein Weg in den kriminellen Untergrund von Kassel, weil es den nicht gab. Das Gremium setzte sich aus unsoliden Gastronomen zusammen. An der Spitze stand der Denker, von manchen Henker genannt. Ihm verdankte sich die Idee, schwarze US-Soldaten in Bussen kostenlos von ihren Standorten sonst wo in Hessen, denken Sie an Fulda, Hanau, Hersfeld, nach Kassel zu befördern und da in Räumen abzufüllen, die wegen der Zonenrandlage billig zu haben waren.

Das war eine großartige Geschäftsidee. Sie veränderte Kassel in mehr als einer Hinsicht, während nach Jahren der Randale allmählich Ruhe einkehrte.

Die wichtigste Dollarannahmestelle war das „Chicago“ in der Erzbergerstraße. Der Henker verbrachte da seine Nächte im Büro wie in einem französischen Film, die Walther vor sich auf der Platte, eine Flasche Chivas Regal in Reichweite. Ab und zu nahm er einen seiner Erfüllungsgehilfen ins Gebet oder er schäkerte eine Runde mit seiner Personalchefin Ruth Teller.

Jede Nacht gab es Ärger. Der Henker stand den Aufwallungen sagenhaft gleichgültig gegenüber. Er nahm sie hin wie das Wetter und begegnete ihnen mit geeigneten Maßnahmen. Als es in Mode kam, Gegnerkniescheiben zu zerschießen, gab er die Anweisung, auf den Bauch zu zielen. Er schien alles kindisch zu finden, was sich die Clowns aller Colour einfallen ließen, um ermächtigt zu wirken.

Der Kellnerkönig arbeitete für den Henker, wie die anderen auch. Er machte sich auffällig als Fresssack, der vier, fünf Mahlzeiten wie im Akkord in sich hineinschob. Außerdem spielte er sich in den besten Restaurants als Weinkenner auf.

Volker wollte über seinen Stand hinaus. Das machte ihn lächerlich.

Iris und Yves waren dem Kellnerkönig in der „Standuhr“ begegnet. Er hatte das Glamourpaar an seinen Tisch gebeten und in dessen Gegenwart besonders aufwendig Hof gehalten. Die Verehrung, die Volker vom Volk entgegengebracht wurde, inspirierte Yves.

Yves war die Aufgabe zugefallen, Iris zu heiraten. Er leitete die Studentenbühne in G., erwartete aber stündlich einen Ruf aus Stuttgart oder München. Er erklärte mir das Geheimnis der Gastro-Gang des Henkers: „Die covern eine repressive Praxis mit progressiver Rhetorik. So könnten die sich die ganze Stadt unter den Nagel reißen. Ach, würden sie sich nur für etwas anderes als Geld interessieren.“

Der analytische Scharfsinn war ein Tropfen auf dem heißen Stein des großen Begehrens. In Iris verband sich Herkunft und Intelligenz mit Kraft. In Yves verband sich Herkunft und Intelligenz mit Nervosität. Mental stand Yves dem Kellnerkönig näher als dem Henker und das wusste Yves zu seinem Leidwesen, um ein Wort meiner Großmutter in Umlauf zu bringen. Sie bezeichnete sich als Stiergeborene im Ochsenjoch. Sie ging fröhlich unter der Knute meines Großvaters. So sprach sie zum Seltsamsten der Enkel in ihrer Küche, deren Front an den Garten grenzte, der an (von mäandernden Schienensträngen durchzogenen) Felder schloss.

Baal-Baader

Iris hatte vor Yves fast ein halbes Jahr mit dem wüsten Erich die Chancen des Anarchischen ausgelotet. Was heißt Anarchie in der Literatur? Auf der Bühne? In der Politik? Erich war durch die Hölle seiner Entzauberung direkt nach Berlin gegangen, um da vor einem anspruchsloseren Publikum den Baal-Baader zu geben.

Nun war Yves an der Reihe, zu enttäuschen.

Meine Vorsprünge waren das Ergebnis jahrelanger Erforschung seiner künftigen Ehefrau. Mich lockte da nichts mehr. Ich wohnte mit Simone in der Söhre. In einem Jagdhaus der Försterei Fahrenbach. Der Garten hinter dem Haus glich einer Lichtung. Ein Ginkgo ragte als monumentaler Solitär auf. Ein Fürst musste die Pflanzung veranlasst haben. Nicht weit weg stand eine Rotbuche, die als Prinzessinbaum in das kollektive Gedächtnis eingegangen war. Doch nur Wenige wussten sie zu finden.

Unter der Grasnarbe lag einiges, so wie letzte Zeugnisse der Rodung Lobesrode, die erst als Wüstung in die Annalen eingegangen war. Die Aufgabe der Siedlung war von der Pest im 12. Jahrhundert erzwungen worden. Mit solchen Erwägungen riss ich mich selbst zurück, sobald ich etwas dringend fand.

Was konnte denn dringend sein, außer einem schwungvollen Piss in die Wiese?

Die forstwirtschaftliche Hauptstraße lag auf der Strecke eines frühmittelalterlichen Passionsweges. Man war sonst wo in Thüringen zur Wallfahrt aufgebrochen, um sein Ziel in der Söhre zu erreichen. Es gab keinen Hinweis mehr auf den heiligen Ort, der bereits eine ältere Kultstätte überformt haben mochte. Noch vor dem Dreißigjährigen Krieg war Schluss mit jeder Überlieferung. Ende Geländer. Übriggeblieben war allein die Forstmarke Stückkirchen. Sie charakterisierte einen Buchenhain auf dem Grund der Siedlung Hessenhagen, die das 12. Jahrhundert erst wegen Ernteausfällen und dann wieder wegen der Pest nicht überstanden hatte.

Die Leute hielten sich und überlebten wenigstens bis zur Weitergabe der entscheidenden Informationen nahe dem Watten- und dem Fahrenbach.

Abgesehen von wenigen Bauern und Forstleuten arbeitete kein Mensch mehr in der Söhre. Ein aufgegebener Steinbruch und die verwitterten Spuren des Braunkohleabbaus erinnerten daran, wie notwendig eng einmal Arbeit und Leben räumlich miteinander verbunden gewesen waren. In der Gegenwart von 1980 waren die meisten Erwerbstätigen Pendler, die in der Söhre gebaut hatten. Nur einer bewältigte seine Wege zu Fuß. Xuan Phan, der in Lohfelden als Koch in dem vietnamesischen Restaurant eines älteren Verwandten arbeitete, ging in der allgemeinen Betrachtung als Heiliger durch.

Er lebte mit seiner Frau Chau und einem Schock lebhafter, nicht unbedingt leiblicher Nachkommen, in einem mit Eternitplatten verschandelten Fachwerk, dass wie ein Vorposten der nächsten Gemeinde einsam in der Gegend stand.

Das Haus selbst erschien aussätzig, aber die Vorbehalte der Eingesessenen waren im Dauerfeuer der Phan’schen Freundlichkeit vernichtet worden. Die ganze Familie genoss Ansehen.

Einseitige Monogamie

Im Ort gab es nur ein Wirtshaus. Kam Simone von einer Reise zurück, feierten wir das Wiedersehen in der Alten Feuerwehr. Ich aß gern Gulaschsuppe, das Leib- und Standardgericht der Stammgäste so wie der Küche, Simone war in Ernährungsfragen schon so zugespitzt, dass Milchprodukte und Eier zumindest nicht mehr selbstverständlich waren. Manchmal erweiterte Bernd Seiler den Kreis. Er bewältigte als Einzelbetreuer eines Schwerstbehinderten (und Überlebenden des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms) ein ganz anders Pensum als ich mit meinem Essen auf Rädern im Auftrag der Arbeiterwohlfahrt. Bernd hatte einen Bruder beim Bund; einen Zwölfender, der sämtliche Führerscheine auf Staatskosten gemacht hatte und nach seiner Dienstzeit eine Fahrschule aufmachen wollte. Bernhard besaß als Zweiundzwanzigjähriger bereits ein Haus in Wattenbach, das er mit Kameraden gebaut hatte.

Die brüderliche Zielstrebigkeit erlebte Bernd als Angriff. Bei Simone suchte er Deckung. Mich nahm er in Kauf. Ich war zwar Simones Freund, aber nicht der einzige.

Seit Tagen versuche ich das zu erzählen.

Simone war meine erste richtige Freundin. Ich ihr erster richtiger Freund. Daraus ergab sich eine einseitige Monogamie. Mit verrußtem Gesicht, in weiten, vom Schimmel und anderen Naturprodukten imprägnierten Gewändern erschien Simone wie eine tibetische Klosterchefin, in einem antik-lunaren Rahmen, und traf ihre Entscheidungen wie nach Knochenwürfelwürfen.

Ich hatte mein Einverständnis nicht gelernt. Es kam nicht aus der Prägung. Mein Vater hätte Simone was gehustet. Er hätte lange Gespräche mit mir geführt, wäre er im Bild gewesen. Mit der dynamischen Abteilung des SPD-Ortsvereins graste er damals Europas Küsten ab, auf der Jagd nach dem besten Wind.

Die Genossen surften dem Vorruhestand entgegen. Alle Begründungen für die Notwendigkeit politischen Engagements hatten schlagartig ihre Relevanz verloren.

Wenigstens begreife ich das.

Die Gewissheiten der Generation meines Vaters ergaben sich aus proletarischen und halbproletarischen Traditionen und einer politischen Sozialisation der Lehrlinge im Haus der Jugend. Daher rührten der Text und die Ästhetik. Rudi Arndt und Holger Börner verkörperten den sozialdemokratischen Stil der Betonfraktion. Diese Männer flößten meinem Vater Vertrauen ein. Der Aufstieg der Grünen und ihrer Gestalten (Ästhetik) trennten meinen Vater von der Politik. Das war nicht mehr seine Welt. Die Schröder-SPD zeigte später sehr deutlich, wie vorausschauend mein Vater gehandelt hat. Mit dem Genossen der Bosse hatte er nichts gemeinsam. Schröder war die Fleisch gewordene Verhöhnung der alten SPD. Sich überhaupt nicht erst dem Risiko schlechter Laune ausgesetzt zu haben, ist eine Lebensleistung meines Vaters.