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2019-03-12 08:13:08, Jamal Tuschick

Nachrichten aus dem Bauch der alten SPD

Im Neoprenanzug

Trauerspiel im Waschsalon © Jamal Tuschick 

Im Emanzipationsdiskurs nach dem Ersten Weltkrieg war „Kameradschaft“ ein progressiver Begriff. Die künftige Gattin begrüßte man mit „Neuer Sachlichkeit“ als „Kamerad“. „Die Frau von morgen wird instinktvoll und klug die guten von den bösen Komponenten der „neuen Sachlichkeit“ zu scheiden haben“, postulierte Max Brod. Das adressierte ein Ideal – die Kombination einer Schönschrift der Wirklichkeit mit männlicher Tüchtigkeit. Letztlich war das Verbesserungspornografie im Geist nicht transpirierender Multifunktionalität und von androgynem Chichi. In der nationalsozialistischen Gleichschaltung des weiblichen Kameraden dominierten andere Facetten. Die Frau als Kamerad näherte sich der Ebenbürtigkeit allein auf dem Feld körperlicher Belastbarkeit.

In der Depression von Neunundzwanzig nahm die emanzipierte Frau selbstverständlich einen Platz in der städtischen Öffentlichkeit ein und fungierte als Antagonistin der von archaischen Arbeitszwängen Unterworfenen, die noch Luft des 19. Jahrhunderts atmete. Die Emanzipation fand ihre Symbole auf den Fließbändern der Automatisierung. Meinungsbildende Zeitgenossen synchronisierten ihre Erwartungen an die neue Frau mit dem Maschinentempo ihrer Gegenwart.

Auch meine Großmutter (die Mutter meiner Mutter) war eine Kameradin ihres Mannes. In ihren Siebzigern schlug sie noch Räder und bewies sonst wie Fitness und Unverwüstlichkeit. Ungezuckert und ohne Schmand servierte sie Salate, die wie Blumensträuße aussahen. Sie trug Fröhlichkeit zur Schau. Das war eine Masche. Ich erkannte ein Muster. Ihre Freundinnen zwitscherten genauso. Schlechte Laune gehörte sich nicht. Die alten Bienen schwirrten vor einem Himmel voller Geigen durch den Postbalzkosmos. Jede eine Marika Rökk oder Liselotte Pulver. Alle waren ihren Männern gute Kameradinnen, und mir gegenüber nachsichtig.

Mit hochgezogenen Brauen und beredtem Schweigen nahm meine Großmutter zur Kenntnis, dass ich die Wehrmacht verweigern würde. Die Bundeswehr nannte sie Wehrmacht. Ich bezweifle, dass die Ignoranz ohne Absicht war. Meine Großmutter brachte damit meinen Vater auf die Palme, der solange ein Kriegsdienstgegnerultra und eine Einmannfriedensbewegung war, bis die Hippielehrer, die sich gegen die Nachrüstung auflehnten, ihn verstimmten und er nicht nur den Vorsitz im SPD-Ortsverein abgab, sondern auch die öffentlich bekennende Rede einstellte.

Er wechselte sich selbst aus und kam als ein anderer im Neoprenanzug aus der Kabine an den Strand. Von da an ging es um Wind und Wellen auf allen Weltmeeren.

Meine Großmutter nahm mir meine Ansichten nicht übel. Bei dem Vater war Pazifismus schließlich kein Wunder. Grundsätzlich war ich von den Amis umerzogen worden. Man hatte mich einer Gehirnwäsche unterzogen. Deutschland kannte ich gar nicht. Die Bundesrepublik hatte mit Deutschland nichts zu tun. Das Land schlief hinter den Sieben Bergen unter einer Daunendecke, die von Frau Holle ab und zu aufgeschüttelt wurde.

Ich tat Gutes, indem ich viel Kuchen aß, überhaupt viel aß. Meine Großeltern hintertrieben das pädagogische Programm meiner Eltern. Ich habe die ersten Lebensjahre in Obhut der Renegaten verbracht und etwas von der Verachtung übernommen, die meinen Vater aus dem engsten Kreis heraushielt.

Meine Großeltern feierten Orgien der Verdrängung. Die eifrige und manchmal eifernde Verweigerung von Schuld und Einsicht teilten sie mit ihren Freunden, die sich in getäfelten Reiter- und Jägerstuben begegneten und einer Vorliebe für Sporthotels vor allem im Schwarzwald nachkamen.

Wie oft war ich mit auf der Bühler Höhe. Und stets war einer zugegen, dem die Nazis übel mitgespielt hatten, der aber eine Verbindung zu meinem Großvater legitimierend nachweisen konnte. So dass die anderen (die Untergebenen) Zurückhaltung walten ließen.

Der Familie besonders nah stand der Ingenieur Josef Suriz. Seine gutturale Aussprache suggerierte ein Vertriebenenschicksal. Sein Name hinderte mich nicht daran, ihn selbstverständlich für einen Deutschen zu halten.

Suriz fuhr 1979 den einzigen Pontiac LeMans mit Kasseler Landkreiskennzeichen. Er war absurd untersetzt und stark kurzsichtig. Obwohl er selbst Chef war, zeigte er eine Bereitschaft, sich meinem Großvater unterzuordnen. Dessen Bauwahn wäre ohne Suriz engere Grenzen gesetzt gewesen.

Suriz konnte alles.

Er hatte gerade wieder eine Mauer hochgezogen. Als sein Bauhelfer oblag es mir, den Kornkorken im richtigen Augenblick von einem Flaschenhals zu sprengen. Suriz klopfte die Flasche gegen seine Stirn, setzte an, pumpte ab und stieß auf. Dann fragte er ansatzlos:

„Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, wo ich herkomme?“

Ich fühlte mich überrumpelt.

Suriz, so hoch wie breit, ein männliches Quadrat, besuchte mit seiner Frau Konzerte. Ab und zu verriet er Bildung und höhere Interessen. Außerdem schien er mehrsprachig zu sein; das kam selten vor.

Suriz hatte Kinder und Enkel. Ihm fehlte nichts.

„Ich komme aus Daugavpils, sagt dir das was?“

Natürlich nicht. Ich hatte den Namen noch nicht mal phonetisch kapiert. Ich hielt Daugavpils für eine verlorengegangene Stadt. Das war ein Reflex. Bei mir stellte sich keine Überraschung ein, als Suriz seiner Geburtsstadt auch einen deutschen Namen zuordnete; eine ständige Praxis älterer Leute, die merkwürdig Deutsch sprachen.

Daugavpils hieß mal Dünaburg.

Im Mittelalter zählte Dünaburg zum Besitz des Ordens der Brüder vom Deutschen Hospital Sankt Mariens in Jerusalem. Eine ursprüngliche Spitalgemeinschaft war dazu übergegangen im Baltikum Kolonien zu gründen. Da war er wieder, der Lebensraum im Osten als deutsche Idee und geplatzter Lebenstraum meines Großvaters. Der Deutsche Orden folgte einem Konzept, dass nach Wünschen Lübecker Kaufleute und einer päpstlichen Innovation zuerst nebenan in Livland umgesetzt worden war: die von Militärmönchen durchgesetzte Missionierung mit dem Schwert. Siehe Schwertbrüderorden.

Das wusste ich 1979 nicht. Mit Suriz‘ Biografie hatte der Deutschherrenorden auch nichts zu tun. Suriz war nicht nur in der Sowjetunion geboren. Er stammte aus einer russischen Familie. Der Vater erfüllte in Lettland Herrschaftsaufgaben. Mit der sehr interessanten Geschichte von Daugavpils verband die Familie nichts.

Suriz war als Rotarmist in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Er hatte sich nach dem Krieg der Rückführung in die Sowjetunion entzogen und es fertiggebracht, Deutscher zu werden. Nie zuvor hatte ich von solch einem Fall gehört.

Suriz verschwieg seine Beweggründe. Ich glaube nicht, dass er einer Aufforderung meiner Großeltern gefolgt war, mein in sozialistischen Stein gemeißeltes Geschichtsbild zu erschüttern.

Ich nehme an, Suriz wollte Verwirrung stiften, mich irritieren. Er hatte aber zu wenig Präsenz in meinem Leben, um mich auch nur neugierig zu machen. Erst vor ein paar Tagen fiel mir sein Sonderweg wieder ein, als ich Fabian Georgis Studie über „Managing Migration? Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM)“ las. Die IOM war eine Gründung im Kalten Krieg. Amerika fürchtete die Überhandnahme des Sozialismus in Europa infolge allgemeiner Unzufriedenheit. Die Unzufriedenen sollten dem Kontinent abgenommen und transatlantisch in gefestigt-antikommunistischen Milieus eingesetzt werden. Der IOM-Vorläufer diente der Repatriierung. Auf der Konferenz von Jalta hatte Stalin durchgesetzt, dass die Rückführung alle sowjetischen Staatsbürger*innen und Personen russischer Herkunft einschloss. Sie betraf ehemalige Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene, Kollaborateure, Emigranten und Leute mit russischen Vorfahren, die nie in Russland gelebt hatten.

Vom KZ in den Gulag

Stalin betrachtete jeden Sowjetmenschen als Verräter, der ohne Auftrag die Kriegszeit außerhalb sowjetischer Grenzen verbracht hatte. Bis September 1945 übergab, so Georgi, westliches Militär 2.75 Millionen sowjetische Staatsbürger*innen der Roten Armee. Viele wurden gegen ihren Willen repatriiert. In DP-Lagern kam es zu Zusammenstößen zwischen dem Personal und den Internierten. 1946 schoben noch rund sechshunderttausend Sowjetbürger*innen ihre Abschiebung hinaus. Nach Georgi brach eine Allianz aus Antikommunisten, zivilgesellschaftlichen Streitern und jüdischen Überlebenden „die restriktive Abschiebepolitik“ der Alliierten.

Georgi wirft der IOM vor, bis heute Regierungspolitik zu betreiben. Hier noch mal meine vorläufigen Bemerkungen zur Studie:

Albträume aus Stacheldraht

„Auf der ganzen Welt werden dystopische Großtechnologien installiert, monströse Anlagen“, die Migranten aufhalten (sollen). Die ökonomische Verwertung von Migrationsprozessen beeinflusst die Politik.

Seit Jahrzehnten etablieren sich nicht-staatliche Akteure mit den Insignien demokratisch legitimierter Instanzen. Fehlende Mandate ersetzen sie mit Funktionskategorien. Sie spielen Rollen im doppelten Sinn. Der Politikwissenschaftler Fabian Georgi weist in seiner Studie „Managing Migration? Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM)“ nach, wie eine antikommunistische Einrichtung des Kalten Krieges in dem dystopischen Komplex der gegenwärtigen Migrationsindustrie Geflüchtete zu Geiseln von Profitinteressen macht.

Globale Apartheid

„Auf der ganzen Welt werden dystopische Großtechnologien installiert, monströse Anlagen.“

Auf den Märkten der Migration werden Menschen nach den Spielregeln eines „autoritären Festungskapitalismus“ entrechtet, verschoben und in Albträumen aus Stacheldraht und Beton interniert. Die Infrastrukturen der Ölstaaten im Mittleren Osten, einschließlich der Prunk- und Rekordbauten, entstanden unter den Bedingungen der Sklaverei im Rahmen „globaler Apartheit“.

Fabian Georgi, „Managing Migration? Eine kritische Geschichte der Internationalen Organisation für Migration (IOM)“, Bertz + Fischer, Kritische Wissenschaft, 25,-

Private Konzerne setzen sich mit progressiver Rhetorik für eine repressive Migrationspolitik ein, um im Business zu bleiben. „Die IOM unterstützt staatlich erwünschte Migrationsbewegungen.“ So überlebt sie als Steuerungselement in einer weltweiten Regression des Menschenrechtsstandards.

Aus der Verlagsvorschau

Jährlich sterben tausende Menschen bei ihrem Versuch, die Grenzen des Globalen Nordens zu überschreiten, um dort Schutz zu finden, Arbeit, ein besseres Leben. Zugleich überziehen Regierungen die Erde mit Zäunen, Kontrollen, Lagern und träumen davon, menschliche Mobilität effizient zu regulieren. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Warum werden Grenzen abgeschottet, obwohl dies zu so viel Tod und Elend führt? Diese Fragen – aus schockierter Verwunderung geboren – sind Ausgangspunkt des Buches. Im Mittelpunkt steht die Geschichte eines zentralen Akteurs: der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Gegründet 1951 als Gegeninstitution zum »Flüchtlingshilfswerk« der Vereinten Nationen (UNHCR) fungierte die IOM im Kalten Krieg als antikommunistische Migrationsagentur des westlichen Blocks. Heute ist sie Teil des UN-Systems, hat 169 Mitgliedsstaaten und ein Jahresbudget von 1,5 Milliarden US-Dollar. Mit ihrem Motto »Migration for the Benefit of All« behauptet sie, die Widersprüche der Migration ließen sich aufheben, wenn diese nur umfassend »gemanagt« würden. Tatsächlich aber wird die IOM immer wieder heftig kritisiert. Amnesty International und Human Rights Watch warfen ihr vor, als Handlanger des Nordens die Menschenrechte von Geflüchteten und Migrant*innen zu verletzen. No-Border-Gruppen griffen IOM-Personal als »Menschenjäger« und »Schreibtischtäter« an und attackierten ihr »Migrationsmanagement« als neoliberal. Gut lesbar rekonstruiert der Autor die fast 70-jährige, spannungsreiche Geschichte der IOM im Kontext geostrategischer Konflikte, kapitalistischer Krisen und migrantischer Kämpfe. Aus kritisch-materialistischer Perspektive macht er so Triebkräfte und Dynamik europäischer und globaler Migrationsregime seit dem Zweiten Weltkrieg verstehbar.

Die IOM operiert als Entwicklungshelfer. So tarnt er einen propagandistischen Abschreckungsfeldzug, die systematische Drosselung der Auswanderungsbereitschaft und die Aufklärung von Fluchtrouten. Sie segelt unter falscher Flagge im Dienst von Regierungen, die dazu übergegangen sind, Migration da zu bekämpfen, wo keine kritischen Instanzen Verstöße protokollieren.

Die IOM dient „freiwilligen Rückführungen“ als Transportunternehmen. Sie verdient in der Not einer Freiwilligkeit, die den Namen nicht verdient. Die Alternative erschöpft sich in der gewaltsamen Abschiebung.

Georgi zeigt, wie im IOM-Migrationsmanagement die Kampfzonen bis zu den Ursprungsländern der Migranten geweitet werden. Die IOM bietet „migrationspolitische Dienstleistungen“ an, die Restriktionen indirekt internationalisieren. Personen und Gruppen werden zu Betroffenen von Regelungen, die sie gar nicht erreichen dürften.

Folgt man Georgi, dann verteidigt die IOM in den Migrationsregimes der westlichen Welt nicht Menschenrechte, sondern Marktanteile – ohne das schlechte Gewissen infolge einer Überschreitung moralischer Grenzen. Vielmehr dreht sich der Regimediskurs um Angebot und Nachfrage in der globalen Gegenwart. Der Ansatz suggeriert eine Neutralität gegenüber Migranten, so als seien sie grundsätzlich nicht anders gestellt als günstig gestellten Wettbewerbern. Man argumentiert mit wirtschaftlichen Zwängen, um zu verschleiern, dass der politische Wille im Rahmen nationalstaatlicher Souveränität fehlt.

Georgi erkennt darin weit mehr als eine semantische Exkulpationsstrategie. Vielmehr bereite man mit progressiver Rhetorik einer repressiven Praxis den Boden.