Bei Aristoteles gibt es eine Gleichsetzung von Einsamkeit und Krieg. Auf dem Schlachtfeld geht der Einsame dem Gemeinwesen endgültig verloren. Jacques Rancière spielt mit dem Einfall und verknüpft die Kampfbereitschaft mit einem Mangel an erotischen Chancen; man könnte auch sagen, mit einem Mangel an erotischer Einsicht: als einer Mäßigungspraxis, wenn auch nicht nach Rancière.
Die Entgrenzung ist in Wahrheit eine Einfriedung. Die Erfahrung verschweigt sich in der Wirkung. So erkläre ich mir eine besonders monotone Paarbildung. Ein halbes Dutzend jungsozialistischer Bräute wechselte sich in der Rolle der Geliebten eines Mannes ab. Eine nach der anderen trat als Gastgeberin in Holger Müllers Raumschiff auf.
Damals erschien die Konstellation exklusiv, als eine Separation von den blinden Kundgebungen jener Masse, in der ich steckte und in der ich mir vier Wochen lang Nadines Zuneigung gefallen ließ, bevor ein anderer an meine und eine andere an Nadines Stelle trat. Gemeinsam führten wir ein Boulevardstück auf. In den Prozessen der Objektivierung des Begehrens verleibten wir uns einander kategorisch ein. Wir nahmen uns fest in Projektionen der eigenen Unfreiheit auf den anderen. Vorgestern hätte ich noch gesagt, wir lernten unsere Vorlieben. Heute denke, wir lernten Anpassung unter den kapitalistischen Grundbedingungen Ausbeutung und Herrschaft. Wir machten uns verwandt mit (anderen) Tieren und Pflanzen und begriffen die Vulnerabilität des Bodens (der Tatsachen) so wie des Tanzbodens der Möglichkeiten.
Holger sagte: „Die einen haben Angst vor dem Ende des Monats, die anderen vor dem Ende der Welt.“
Zurück auf Los
Als mich Holger Müller zu seinem politischen Sohn machte, war ich zehn. Er war mein Sport- und Kunstlehrer, ein Terrier, sagte mein Vater. Ein Terrier war einer, der dranblieb, Zähigkeit und Ausdauer bewies und sich nicht abschütteln ließ.
Für mich war Holger der erste Solitär (so wie Rancière ihn konstruiert), an dem ich Maß nahm. Die kindliche Einschätzung erscheint mir noch nicht abwegig. Holger hat in einem einigermaßen kurzen Leben nie geheiratet. Er blieb allein in den Funktionen eines Vorbildes für einzelgängerische Jungen und als erotischer Dummy für junge Frauen. Begabung interessierte Holger nicht. Er holte die Kunst vom Podest und gab den Bilderstürmer vor Gleichgültigen. Er haute die Kunst Leuten um die Ohren, denen Kunst nichts sagte. Er kerbte mit Kunst die Panzer einiger Dorf- und Siedlungskinder. Sie wurden mit dem Erweiterungsprogramm nicht glücklich. Der Kunstunterricht passte zu nichts anderem im Dorf- und Siedlungsgeschehen. Im Gegensatz zu anderen Lehrern ließ Holger seine Schüler nicht einfach gewinnen. Er bot sich ihnen im Sportunterricht als Ringkampfgegner an und zerlegte sie auf der Matte. Das gab zu denken und bietet bis heute Erzählstoff.
Holger trug einen Django Bart, zeigte die Wolle auf der Brust. Er unterhielt eine künstlerische Produktion, die er allein (ihrer Nichtigkeit wegen) preiswürdig fand, war politisch hyperaktiv und trieb Rasenkraftsport. Niemand (in meiner Umgebung) hatte vor Holger von dem Dreikampf gehört. Niemand erwärmte sich dafür. Selbst mich, den Bewunderer, kriegte Holger nicht dazu, mit Hammer, Gewicht und Stein zu hantieren. Mir war das zu urtümlich. Die Wettkämpfe fanden ohne Publikum statt. Allein die Leicht- und Schwerathleten, die sich nachmittags auf dem KSV-Sportplatz in Holgers Nähe aufhielten, goutierten das Beharren auf antike Kraftrituale.
Acht Jahre später war Holger ein Mann, der nicht normal älter wurde. Seine Wohnung war ein Jugendzentrum und Falkennest, und Iris Leise seine Freundin.
Bataille schreibt: „Bei Urin muss ich stets an Salpeter denken und bei einem Blitzstrahl - ich weiß nicht warum - an ein altes Nachtgeschirr aus brüchigem Ton.“
Der Autor greift aus, er treibt das Bild in Herbst und Regen. Er will Überschreitung und Verschwendung. Das eintönige Geklapper der Reproduktion erträgt er kaum. An der Grenze zwischen Sexualität und Erotik zieht er eine Textmauer hoch. Inzwischen erscheint das (Obszöne) Werk so historisch wie der Limes.
Iris fand bei Holger genug informierte Bewunderung. Sie konkurrierte mit ihren Vorgängerinnen und ihren Nachfolgerinnen genauso wie sie in der Schule mit ihren Notenrivalinnen konkurrierte. Sie stellte Fragen, deren Antworten auf der Hand lagen.
„Wirst du mich immer begehren?“
Die Handlung war so dünn wie Klarsichtfolie, die Manöverkritik bewies intellektuelles Versagen.
„Es wäre ungerecht zu behaupten, dass Frauen schöner oder auch nur begehrenswerter seien als Männer.“ (Bataille)
Im (zwanghaften) Streben nach Verbesserung interessierte Iris eine bessere Handhabung der Fetische Jugend und Natürlichkeit im Geist der Aufklärung. Von der Französischen Revolution hatte man sich eine Erhebung des Eros versprochen. Spekuliert worden war auf größere Kühnheit im Gespräch. Das besser gekleidete Volk sollte besser essen. Der strotzende Pächter sollte das gnädige Fräulein glücklicher machen als seine Indolenz, der Marquis. Die solcher Ehe entsprungenen Kinder wären gewiss tätig, einsichtig und frei (vom Rauchfass der Kirche). Bei gleicherer Verteilung der Glücksgüter waren weniger schweflige Begierden und sklavische Dekadenz zu erwarten.
Iris verlängerte solche Optimierungsketten.
Hat man einmal damit angefangen, den inneren Haushalt zu ökonomisieren, gibt es keinen Halt mehr.
Iris verbesserte sich in ihren Beziehungen. War das Potential erschöpft, wurde mit viel Schmu Schluss gemacht.
Es gab keine Position außerhalb des Wettbewerbs. Man muss sich sehr sicher (überlegen) fühlen, wenn man so ein scharfkantiges System verschärft und herausfordert. Iris heizte Holgers Hölle („die Hölle, das sind die anderen“, Sartre) wie jede Quartiermacherin des Satans an.