Die bleierne Zeit lag in den letzten Zügen. Antonia Weber, die Toni aus Im Land der goldenen Honigbirne, verdiente im Tonträger heimlich dazu. Man konnte da stundenlang Platten hören. Ohne Kaufzwang. Wie großzügig ich das fand. Wie ausreichend das als Geschäftsidee war.
Sofort habe ich den Geschäftsführer Bernie Schuster vor Augen: ein kleiner verklebter Typ, ein Krummbein, ein Jockey, ungekämmt, unausgeschlafen, abwesend (nicht abweisend). Doch bestens informiert. Achim Frank, sein Chef saß jeden Abend in der Fiedel und genoss das Unternehmerglück im Kreis der Propheten. Diese Leute hatten Ansagen gemacht und Recht behalten. Sie waren nach dem Abitur ohne Warm-up, Auszeit oder Studium durchgestartet, selbstverständlich unter Umgehung staatsbürgerlicher Pflichten.
Mein Vater zu mir: „Du drückst dich nicht nach Berlin weg.“
Die Väter der Propheten hatten ihre Beziehungen spielen lassen. Sie waren mit ihren Söhnen bei ihnen gut bekannten Sparkassenleitern (Tennisfreunden) vorstellig geworden und hatten Kredite losgeeist: für eine neuartige Dämmstoffproduktion, die Umgestaltung einer aufgelassenen Fabrik in ein Kulturmultiplex und in einen Weinhandel, der vierzig Jahre später als Mutterhaus von zig Filialen dasteht.
Die Propheten kreierten die nächste Generation des bodenständigen Mittelstandes.
Tonis Mutter durfte nicht arbeiten, sie war dem „Haushaltsvorstand“ genauso unterworfen wie ihre Töchter. Tonis Vater, Vinzent Weber, gab den bibelfesten Tyrannen in der Strickjacke. Er hielt sich an eine obsolete Verbotsliste und kritisierte die Manieren der Freundinnen seiner Töchter.
Die Töchter trugen Vinzent die Schlappen nach und hefteten sie an seine Füße. Vinzent war die Fleisch gewordene Blockade, gegen ihn half nur träumen. Die Mutter war schwach, manchmal löste sie das Haar und wollte wieder La Maja aus Grimms Märchen sein.
Hinter jeder Geschichte und den Versen vieler Lieder, denkt an The Little Red Rooster, steckt eine Geschichte, die sagenhafter ist als die populäre Version. So beginnt die Moritat von der deutschstämmigen Hochlandhexe La Maja im 16. Jahrhunderts als ein von Guinea nach in La Matosa in Mexiko verschleppter Königssohn seine Fesseln sprengte und eine Cimarrón (Maroon) Kolonie in den Bergen von Veracruz ausrief. Gaspar Yanga besaß Courage und Geschick. Jahrzehnte hielt er die Stellung. Der Ort existiert noch: San Lorenzo de Cerralvo in der Yanga Municipality. Hochbetagt delegierte Yanga militärische Aufgaben an Francisco de la Matosa, einem Angolaner, der hundert Musketiere und vierhundert Steinschleuderer und Bogenschützen befehligte. Auf den Schauplätzen Schwarzer Siege verfolgt La Maja ihre evangelischen Mysterien …
Toni unterhielt eine vom Vater verbotene Freundschaft, Martin lehnte sich mit Rimbaud gegen die Verhältnisse auf. Er lebte bei einer abgedrehten Oma und einem seit Stalingrad abgeklärten (mit Halluzinogenen vertrauten) Opa in einem Widerstandsnest. Die RAF der ersten Stunde war durch Opas Pforten der Wahrnehmung getreten. Opa prägte das Wort von den Schlussstrichtätern.
Beiß in den Apfel, Schneewittchen, willst du ewig mit Zwergen leben?
Jeder Jahrgang hat seinen Selbstmörder. Wir trugen Martin zu Grabe. Nach der Beerdigung stürmte ich die Kaskaden und lief am Herkules vorbei zu den Elfbuchen. Ich wollte leben.
Immer weiter wurden Schlussstriche gezogen
Die ersten Schlussstriche zog man vor Kriegsende mit dem Bleistift der drohenden Niederlage. Die individuelle Schuld wurde delegiert und beim Hitler-Regime deponiert.
Ahndungsstillstand und kommunikatives Beschweigen
1954 kam es zu einem Ahndungsstillstand „minderschwerer“ Straftaten im nationalsozialistischen Kontext. Die damals (mit SPD-Unterstützung) bereits wiederhergestellte Kontinuität der NS-Funktionseliten entsprach einem selbstversöhnlichen Zug der Gesellschaft. Hermann Lübbe nennt das Pardonieren „kommunikatives Beschweigen“.
„Zur rechten Zeit - Wider die Rückkehr des Nationalismus“, herausgegeben von Prof. Dr. Norbert Frei (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Dr. Franka Maubach (Friedrich-Schiller-Universität Jena), PD Dr. Christina Morina (Universität Amsterdam) und Dr. Maik Tändler (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Ullstein, 232 Seiten, 16,-
Ein Schlussstrich nach dem anderen wurde gezogen, und 1964 die NPD gegründet. Sie zog ab 1966 in die Landtage ein und kratzte im Jahr der Revolte in Baden-Württemberg an der Zehnprozentmarke. Der NPD-Vorsitzende Adolf von Thadden trat als Gegenspieler von Willy Brandt auf. Seine Partei scheiterte 1969 knapp an der Fünfprozenthürde.
Die Autor*innen betrachten den Furor einer Mobilisierung von rechts als einen Erweckungsmoment im nationalen Lager, das nach dem Willen christdemokratischer und christsozialer Strategen nicht mehr Partei werden, sondern in der CDU/CSU seine ständige Vertretung finden sollte.
Allein diese Integrationsbereitschaft gegenüber Holocaust-Leugnern und -Relativierern sowie den Befürwortern einer deutschen Diktatur zeigt, wie tief der Nationalsozialismus in der Gesellschaft wurzelte. Er fand seinen Ausdruck in formelhafter Empörung.
„Einmal muss doch Schluss sein“
„Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“
Zur Empörung gesellte sich die Sehnsucht nach volksgemeinschaftlicher Homogenität.
Eine alte Garde der Konservativen Revolution traute Franz Josef Strauß zu, die „heimatlose Rechte“ wieder mit dem Volk zu versöhnen. Sie führte ihren Kampf vor allem gegen die „Vergangenheitsbewältigung“ und den „Schuldkult“ – und zwar in Konkurrenz zu jenen Nationalsozialisten, für die das Deutsche Reich in seinen Vorkriegsgrenzen weiterbestand, übrigens mit dem von Hitler eingesetzten Admiral Dönitz als Staatsoberhaupt.
„Zur rechten Zeit - Wider die Rückkehr des Nationalismus“ erinnert an bizarr anmutende Ausläufer des Dritten Reichs in der jungen Bundesrepublik und zeichnet die faschistischen Verbindungslinien in die Gegenwart nach.