Gottfried Benn erklärte den evangelischen Pfarrhaushalt zum Hochofen des deutschen Geistesadels. Benns Vater war Pfarrer, Gudrun Ensslins Vater auch. Carl von Linde, Karl Friedrich Schinkel, Friedrich Nietzsche, Benjamin von Stuckrad-Barre - alles Pfarrerskinder.
Milieu und Gesinnung der im öko-pazifistischen Weltrettungs- und Chorleitungswahn abstoßend wirkenden Eltern zwangen auch den heranwachsenden Tillmann „Tille“ Freischmidt auf Gegenkurs. Er wünschte sich konsumorientierte, markenbewusste Versorger*innen.
Tille wollte Nutella und kriegte Verständnis.
Das widerfuhr ihm in einer niedersächsischen Ringburg der Verspätung. Da wurde Udo Lindenberg aus Gronau in Westfalen zum Idol.
Die Weltstadt Göttingen bot sich der gespannten Erwartung des Heranwachsenden als Exil an. Im Café Kadenz traf Tille seinen ersten Mentor, den Herausgeber eines Stadtmagazins für Kassel und Göttingen. Bald meisterte er das hochstapelnde Vokabular des Musikredakteurs von eigenen Gnaden. Die Wunder der Bemusterung erschienen alltäglich.
Peripheria Shifting
Mit Anfang Zwanzig war Tille seine eigene Marke in Borderline County, und das war ich auch in meinen Cowboystiefeln. Wir pendelten zwischen Kassel und Göttingen und übernahmen die kulturjournalistisch brachliegenden Einzugsgebiete bis nach Holzminden, Einbeck, Nörten-Hardenberg und Höxter im Norden und Nordosten und Melsungen, Hersfeld, Alsfeld und Hünfeld im Süden. Wir fuhren abwechselnd und gemeinsam die großen Dorfdiskotheken ab, ich erinnere an die Papiermühle (Adelebsen), das Porträt (Eschwege) und das Treibhaus (Zierenberg).
Als Freunde ländlicher Vergnügungen besprachen wir emphatisch Konzerte, die sonst kein Journalist besuchte. Kein Mensch aus Frankfurt oder Hamburg hätte das auch nur ansatzweise gut gefunden, was Tille und mir gefiel, so wie leergefegte Landstraßen zwischen Rapsfeldern im Licht eines heraufziehenden Tages.
Lebensstilistisch waren wir hinter dem Mond, aber für die Veranstalter, die ihre Landgasthöfe vollkriegen wollten, kamen Tille und ich gleich nach dem lieben Gott. Sie taten, was sie konnten, um uns bei Laune zu halten. Es war kaum noch möglich, auf unseren Pisten eigenes Geld zu lassen.
Tille und ich rezensierten Sonnenaufgänge und nannte das Überlandfahren Peripheria Shifting.
Wir schrieben äußerst kollegial für das AKK, das Neuronal, das Kagö, die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine und das Göttinger Tagblatt. Nebenbei beteiligten wir uns am Rodeo der Wildplakatierung.
In der Munizipalität Göttingens groß erschienen Guntram Vesper und Gunter Hampel. Mir reichte das Personal auf der Bühne. Tille war vielleicht nicht ganz so bescheiden. Vielleicht schätzte er die nordhessische, südniedersächsische und ostwestfälische Provinz mit heimlichen Vorbehalten. Jedenfalls steigerte sich Tille zur Polytoxikomanie. Von Strafverfolgung wurde abgesehen, man schickt den delinquenten Patienten in die Kur. Drei Entzüge gliederten die optimistische Suchtphase und bereicherten Tille mit Chiemsee- und Schwarzwaldstimmungen. Im letzten Durchgang war der Abhängige nicht mehr versichert.
Man brachte Tille im Niedersächsischen Landeskrankenhaus unter. Er litt wie der späte Oscar Wilde. Er zählte Fatalitäten ständiger Nüchternheit auf. Die Drohungen eines Rückfalls quälten ihn wie die Inquisition; Tille lebte an gegen die Sucht, bis er sich dann doch in Hamburg seinen Schwächen ergab, zur Hochform auflief, Chefredakteur wurde und endlich alle Klischees vom Schneemann erfüllte, einschließlich der Kinder in zweiter Ehe mit einer viel jüngeren Frau.
„Wie auch immer - am End wollen‘s alle a lichtdurchflutete Altbauscheiße.“ Helmut Dietl
Zurück auf Los
Ich hatte meinen Zivildienst hinter mir, so wie die Zeit mit Simone Schilling in einem Forsthaus im Kaufunger Wald. Simone und ich waren sang- und klanglos und kaum verstimmt auseinandergegangen. Es war keine Liebe im Spiel gewesen. Das machte sich dann positiv bemerkbar. Auch wenn es etwas Kaputtes hatte, nach der ersten richtigen Beziehung mehr nicht zu empfinden - und auch nicht mehr mitgenommen zu haben als einen sehr hartnäckigen Pilz. Ich fand das defizitär. Es half nicht, dass andere von ähnlichen Erlebnissen berichteten. Ich sehnte mich nach dem Kawumm der große Liebe. Ich fuhr mit einem Renault 6 herum und wohnte an der Weser vor Veckerhagen auf einem Gehöft, das zweihundert Jahre von der Familie Schäfer bewirtschaftet worden war. Im letzten Durchgang vor dem Desaster war der amtierende Baldur Schäfer einem Guru auf der Durchreise verfallen, einem nomadischen Betrüger. Auf Knien hatte er Clyde Gwynedd gebeten zu bleiben, und Clyde hatte sich dazu herabgelassen.
„Gwynedd war eines von vier walisischen Königreichen, die nach dem Rückzug der Römer in Wales im 5. Jahrhundert entstanden.“ Wikipedia
Clyde und Baldur fanden Anhänger*innen. Antonia „Toni“ Weber zählte zur Schar in ihrer dritten Phase des Wahnsinns. Sie war die Pseudowitwe unsers Selbstmörders Martin Freitag und die Muse des obersten Kasseler Anarchos Erich Weinteufel gewesen. Eines Tages, Tille war als herzerfrischende Persönlichkeit noch gut unterwegs, schlug er vor, Toni aus den Fängen der Sektierer zu befreien.
Tille fuhr Jaguar, nobel ging die Welt zugrunde, das Auto war anfällig. Wir fuhren bei Baldur vor, das heißt, wir durchbrachen eine morsche Schranke. Wir störten die InSekten bei einem infantilen Ritual, ich sprang ins Geschehen und zupfte Toni aus dem Ensemble. Sie erschien mir so bekümmert wie desorientiert. Der Guru und sein Stellvertreter machten keine Anstalten, mich von meiner Mission abzuhalten. Ein paar Wochen später war ich als Journalist dabei, als das Anwesen zwangsgeräumt wurde. Eine vernünftige Schäferin, Elvira „Elvi“ Gulliksen, Schwester des dumpfen Baldur, fragte hoffnungslos in die Runde, ob jemand es für möglich hielte, die Sache als Mietgegenstand erfolgreich zu behandeln.
„Was willste haben?“ fragte ich.
„Was meinst du? Sind hundert Öcken zu viel? fragte Elvira zurück.
Wie gesagt, es war alles spottbillig.