Ständig waren wir im Wald
Sozialdemokratische Sonnenverehrung
Ein Ortsverein der SPD liefert der Geschichte das Zentrum. Im Bürgerhaus einer Siedlung, die ein tausend Jahre altes Straßendorf seit den frühen 1960er Jahren mit erheblichen Störungen der vertrauten Abläufe erweitert, kommen Arbeiter, Angestellte und Handwerker auch deshalb zusammen, um ihrem nicht selbstverständlichen sozialdemokratischen Selbstverständnis einen geselligen Rahmen zu geben. Sie tragen nach außen, was die meisten für sich behalten: ihre politischen Überzeugungen. Als Sohn des Ortsvereinsvorsitzenden erlebt der Erzähler eine waschechte sozialdemokratische Sozialisation in einem Klima hart geführter gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Nach dem Abitur leistet er Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt in der Abteilung Essen auf Rädern. Erst jetzt hat er seine erste richtige Freundin, die Tochter der Nachfolgerin seines Vaters. Simone Schilling wurde in Berlin geboren und kam im Schlepp der Mutter, die einen akademischen Ruf erhalten hatte, nach Kassel. Sie verliebte sich in die nordhessische Landschaft. Zwei Jahre lebt sie mit dem Erzähler in einem ehemaligen Jagdhaus der Försterei Fahrenbach im Kaufunger Wald. Nach der Trennung des Paars zieht der Erzähler nach Veckershagen auf das Gehöft der Familie Schäfer. Der letzte männliche Nachkomme musste in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden. Der Erzähler hat eine neue Freundin, Gerda aus Helsa. Sie spielt die Wäscheruffel in einer Southernrockband, die aus einer evangelischen Hausmusikgemeinschaft hervorgegangen ist. Der beste Freund des Erzählers ist Tille Freyschmidt, ein frei umherschweifender Regionalreporter. Auch der Erzähler macht Provinzjournalismus.
Vor jedem Anfang abgehalfert
Giorgio de Chirico, gesehen im Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto
„Auch das ist ein Negativprodukt von Aufklärung - daß die Leute ständig meinen, sie müßten etwas verstehen.“
„Der Kopf gehört nicht ins Theater ... Erfahrung kann man nur blind machen.“ Heiner Müller
Im siebten Jahrhundert verlor das oströmische Reich Syrien, Mesopotamien, Nordafrika und viel von Kleinasien an den Islam. Konstantinopel musste Belagerungen widerstehen. Slawische Völker wanderten in den Peloponnes ein. Byzanz schien weder leben noch sterben zu können (Jacob Burckhardt) - und doch währte die römische Resterampe tausend Jahre. Tausend Jahre vergebliche instauratio imperii Romani. Byzanz hielt sein Leben der äußersten Verteidigung für Wert. Ja, es träumte von Wiedergewinnung des Okzidents noch, als es schon ganz und gar dem Orient anheimgefallen war. Tillmann „Tille“ Freischmidt meinte, das könne man sich auch immer mal wieder klarmachen, anstatt über dem Frühstücksei zu kollabieren.
Tille und ich kreisten (als vor jedem Anfang abgehalferte Provinzjournalisten und Möchtegernpoeten) um Gott, diesen uralten Turm (Rilke), im Bermudadreieck zwischen Holzminden, Hofgeismar und Höxter und knallten die Stadtmagazine in unserem Revier mit verkappter Lyrik voll.
Wir verzweifelten an der Kunst und verachteten unsere Gebrauchsprosa. Alles hatte ein höhnisches Echo, selbst die Verehrung des sozialdemokratischen Dichtergreises und Ex-DLRG-Rettungsschwimmers Wenker R. Umland. Jeden Tag schwamm Wenker pathetisch in den Schmerz, wenn er seine tausend Meter im Kasseler Stadtbad Mitte absolvierte, als gäbe es nichts Wichtigeres auf Erden. Er mobilisierte sich und hielt sich an seiner Form fest. Er betrachtete sich, wie man eine vom Einsturz bedrohte Baracke betrachten könnte.
Ein Radau der losgelassenen Pubertät
Wenker spielte mit der Gedankenlosigkeit und Fetzenhaftigkeit von Spruchweisheiten und den ihnen verwandten stereotypen Halbsätzen, die aus den Ätzbädern der Niederliegen keinesfalls zum Trost, wohl aber betäubend aufstiegen. Alles halb so. Es wird nichts so. Morgen ist auch noch. Früh krümmt sich. Was du heute kannst. Es ist wahr, das weiß ich inzwischen, so läuft das ab in einem alten Kopf. Fast nichts mehr formuliert sich zu Ende. Fast nichts mehr ist der individualisierenden Rede wert, es sei denn die Konsistenz des Frühstücksei. Jederzeit könnte man, was auch immer, ebenso gut lassen.
„Ein alter Mann, der immer noch denkt, ist eine Groteske. Greise müssen fertig sein“, sagt Gottfried Benn. In der räumlichen und zeitlichen Umgebung der ertüchtigenden Praxis nährte Wenker eine trockene Geilheit. Er lockte die unschön geschrumpfte Libido hinter dem Ofen hervor. Er animierte den Restposten mit jungen Müttern, die zuhauf unter sich und den Rentner*innen waren, bis am frühen Nachmittag ein Radau der losgelassenen Pubertät den nächsten Umsturz ankündigte. Hallende Wasserklangbilder untermalten die Stunden des geschwätzigen Ausschlusses elementarer Störungen.
Wenkers vom Chlor und von der Anstrengung getrübter Blick schnappte sich aus Versehen eine Mutter mit dem Bewegungsbild eines Kampfhundes. Sie guckte auch bissig zurück. Bald darauf erwachte Wenker aus einer Ohnmacht und fand nicht mehr zurück in den aufgeräumten Trott seines Alltags. Er fuhr heim und verwechselte da den letzten Saft mit seinem Blut. Er gönnte sich ein Essen vor dem Fernseher. In dem totalitären Fürsorgeregime, das bis zum Ablauf von Wenkers weltlicher Verweildauer herrschen würde, konnte das nicht zur Gewohnheit werden. Matilde Kornmeyer hielt TV-Lunch für schädlich. Wenkers Herrin meldete sich von einer Konferenz, klärte das greise Mündel fernmündlich ab und hatte weiter ihren Spaß in weiter Ferne.
Wenker verlor den vertrauten Kurs, sein halbwirres Selbstgespräch wurde als innerer Monolog zur unverstandenen Kunstform. Kein Mensch bemühte sich, Matilde war auf der Konferenz oder lag mit Tille im Kornfeld ihrer verlorenen Jugend. Der Badeunfall hatte Wenkers Bewusstsein zersplittert. Die Matrix war im Eimer. Wenker machte Klimmzüge an biografischen Seitenästen. Er grimassierte vor Anstrengung.
Ich weiß das, weil ich bei ihm war in seiner letzten Stunde. Ich nahm das Album mit, in dem Herbert Wehner als junger Mann auf einem Foto mit gezacktem Rand zu sehen ist – ein sozialdemokratischer Schatz; sowie zwei Schulhefte, die Wenkers Kritzelexistenz bargen. Der letzte Romanversuch zog sich über vierzig Seiten titellos hin. Ich raffe die Handlung.
Wenker zum Letzten
Am Ende sind die Guten tot oder so gut wie tot. Am Anfang recherchiert die Journalistin Solitaire in irgendeinem Armutsverhau und lässt sich dazu hinreißen, mit einem Hempel auf dem Singlesofa Spaghetti zu essen, selbstverständlich Convenience Food. Die Geschmacksverstärker tanzen auf den Nudeln den Ćevapčići. „Deutschland, deine Menschen“ könnte der Beitrag heißen. In seiner zerfleischenden Genügsamkeit wird Hempel zum Menetekel. Solitaire, phantastisch fassungslos und fabelhaft fahrig, erlebt Hempel als brutal passiv. Sie lässt sich über Hempel (neun Stunden Fernsehen täglich) am Küchentisch ihrer Zweisamkeit aus. Solitaire ist mit einem perversen Bundesnachrichtendienstler zusammen. Stumpf schwärmt sie für Antonioni und ligurische Weißweine, der Nachrichtenmann geht als Teddybär auf Kuscheltierpartys.
Ich fragte mich, wie Wenker auf dieses Setting gekommen war. Fast alles lag außerhalb seiner Spielräume.
Ein Grand cru-Schnösel tritt auf. Die Schnöselsippe heißt Schenck zu Schweinsberg. Angehörige des Geschlechts waren ursprünglich Burgmannen zu Marburg und Vögte des Reichsstifts Essen zu Fronhausen. Der Ritter und Vogt Gunthram, der sich auch „von Grünberg“ oder „von Marburg“ nannte und 1199 bis 1236 urkundlich genannt wird, erbaute die Burg Schweinsberg, die seine Nachkommen als Geschlechternamen übernahmen. Gunthrams Bruder Ludwig war der Stammvater der Vögte von Fronhausen, die 1584 im Mannesstamm ausstarben. Bereits im 12. Jahrhundert bildete sich eine Nebenlinie, „von Ulfa“ genannt, die aber schon um 1306 mit Gunthram III. von Ulfa erlosch. Wikipedia
Herr und Frau Schweinsberg ergeben eine eigene Subkultur voller harsch-heikler Ansichten und exklusiver Gewohnheiten. In ihrer Blase ist kein Platz für die Brut. Sie haben den Sohn in einer Art Salem-Sonderschule abgeschoben. Eine Seniorin zu Schweinsberg steckt im Stift. Die Sieche hält sich einen jungen Mann zur Fußpflege. Die Ausgeburt des Schleims als Fußfetischist wird zum Hoffnungsträger. Maurice zwitschert die „Vogelhochzeit“ – „Fiderallalla“ avec „Sim sa la bim, bam ba, sa la du, sa la dim“. Er beschwört den Geschmack von „Werthers Echte“ und verklärt abgehobelte Hornhaut zum Sternenstaub seiner Sehnsucht nach betagten Füßen.