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2019-04-12 07:11:15, Jamal Tuschick

Ece Temelkuran beschreibt in „Euphorie und Wehmut“ einen Untergang der Wirklichkeit in staatsmärchenhaften Darstellungen.

Die doppelte Buchführung der Diktatur

Ece Temelkurans Betrachtungen vereinen Scharfsinn mit Sendungsbewusstsein und Sentimentalität. Die in der Türkei geschasste und in die Umlaufbahn der Weltbürgerschaft gefeuerte Autorin kassierte die Höchststrafe für Journalist*innen. Hundert Jahre Ruderdienst auf einer Galeere der Wahrheitsfindung. Ich stelle mir vor, wie sie sich fragt: Warum ich? Warum muss ich diesen lausigen Job machen?

Mit kleinen Gegnern kann man nicht groß werden.

Temelkuran findet ein besonders einleuchtendes Beispiel für die doppelte Buchführung der Diktatur. Einerseits erscheint „der Sieg des Kommandanten Mustafa Kemal Atatürk in der Schlacht von Gallipoli“ näher als alles, was eben geschah. Andererseits kann „dasselbe Jahr 1915 … weit zurück in ferner Vorzeit liegen“.

Ece Temelkuran, „Euphorie und Wehmut“, aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel, Hoffmann und Campe, 239 Seiten, 20,-

Gallipoli versus Genozid

Die Gleichsetzung von Staat und Regierungspartei ist totalitär. Der totalitäre Staat erzieht seine Bürger zum Vergessen. Er schafft eine Vorzeit (der unerwünschten Vielfalt) nach seinen Vorlieben. In diesem Zusammenhang suggeriert er Härten (Bereinigungen) als Resultate überpersönlicher, irgendwie erdgeschichtlicher Verwerfungen, beinah so als seien bei der Vertreibung der Armenier kosmische Kräfte zum Einsatz gekommen, um nach einem göttlichen Plan die Türkei (den kranken Mann vom Bosporus) great again zu machen. Das nationale Größenphantasma wirkt wie eine Blende, die sich vor alles schieben lässt, was man nicht sehen und woran man nicht erinnert werden will. Was das Phantasma nährt, gehört zu Erdoğan Erbe und darf von der Gefolgschaft bejubelt werden.

Temelkuran beschreibt einen Untergang der Wirklichkeit in märchenhaften Darstellungen und hält mit ihren Schilderungen von Revolten und Subversionen talentierter Keyboard-Guevaras dagegen. Sie übergeht die Tatsache, dass Erdoğan der größte Subversive zu seiner Stunde war.

Die Bereitschaft, den Korrekturen der Geschichte auf den Leim zu kriechen und an die Staatsmärchen zu glauben, gehört zu einem Erlösungsvorgang. Man entlässt sich aus der individuellen Vulnerabilität und wird grandios im Verein mit allen tugendhaften Türken.

Temelkuran klärt die Motive massenhafter Selbstentmündigung. Auf dem Weg der Tugend ist genug nicht genug. Es bedarf immer neuer Beweise der Einsicht in die Notwendigkeit der eigenen Ohnmacht zugunsten staatlicher Größe.

Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Ihr Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt und erschien 2014 im Atlantik Verlag. Bei Hoffmann und Campe erschien zuletzt Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst (2015) und der Roman Stumme Schwäne (2017).

Temelkuran spricht von einer Amnesie. Die Kombination von einer kunstgewerblich aufgezogenen Gegenwartskulisse und dem Erdoğan im Erlöserkleid gewidmeten Personenkult erzeugt eine Dynamik der Unterwerfung, die gegenläufige Bewegungen leicht unter sich begräbt.

Pyjamas gegen Kampfanzüge

Temelkuran beschreibt an anderer Stelle, wie die in der 2016er-Putschnacht auf die Straße gerufenen Jünger in ihren Schlafanzügen kaum erwachsene Rekruten drakonisch maßregelten. Sie wollten und wollen lieber ein kleiner Teil von etwas Großen sein als etwas Eigenes. Im Rausch des historischen Augenblicks begriffen sie ihr Schicksal noch einmal.

Temelkuran weiß, dass diese Generation für alles andere als Erdoğans Partei gewordene Bewegung „für Gerechtigkeit und Aufschwung“ verloren ist. Auch deren Kinder werden ihre Begriff von nationaler Bedeutung und Größe aus dem AKP-Programm ziehen. Selbst wenn sich die Verhältnisse in Richtung Demokratie normalisieren sollten, lassen sich die für die Demokratie verlorenen Herzen nicht zurückgewinnen.