Es ist ein Naturschauspiel. Im Mondtakt geflutet, teilt ein Priel, der bei Ebbe trockenfällt, eine küstennahe Insel des Lamu-Archipels vor Kenia. Ayaana wächst in der Marsch von Pate vaterlos und einzelgängerisch auf. Sie ist die asthmatische Heldin in Yvonne Adhiambo Owuor neuem, noch nicht auf Deutsch vorliegenden Roman „The Dragonfly Sea“ (Penguin, 2019). Die Autorin las gestern daraus im InterKontinental, der ersten auf afrikanische Literatur spezialisierten Berliner Buchhandlung. Man findet sie in der Friedrichshainer Sonntagstraße. Über einem Regal hängt Chimamanda Ngozi Adichies Postulat und Buchtitel:
„We should all be Feminists“.
Clementine Burnley zitierte die Forderung in einer Rede beim African Book Festival 2018 mit dem niederschmetternden Fazit: „Wir haben uns auf der Strecke vom Kolonialismus zum Nationalismus nicht verbessert.“
Die Seele ist ein Fremder: So lautet das Motto von „The Dragonfly Sea“
„The Dragonfly Sea“ ist aber ein optimistischer Roman. Ayaana und ihre Mutter Munira treten in eine Beziehung zu einem Seemann namens Muhidin, der dem Mädchen den Vater ersetzt und es ermutigt, seinen Mutimpulsen zu folgen. Später bereist Ayaana die Türkei (von Katzen verfolgt, die Hagia Sophia nicht auslassend, den Ruf des Muezzins registrierend) und China, wo ein Stipendium ihre Existenz sichert.
Kolumbus der Ming-Dynastie
China spielt im Roman eine Hauptrolle. Owuor zieht Spannung aus den Abenteuern des chinesischen Admirals Zheng He. Der Kolumbus der Ming-Dynastie erforschte zwischen 1405 und 1433 im kaiserlichen Auftrag den Pazifik und den Indischen Ozean. Der Herr der Drachenflotte und seine Dschunken-Navigatoren gaben nautisches Wissen weiter. Als die Briten in Afrika aufkreuzten, wunderten sich ihre Kapitäne über die seemännische Kompetenz der Ostafrikaner.
Das erzählte Owuor in Vignetten, befragt von Karla Kutzner, die gemeinsam mit Stefanie Hirsbrunner das Berliner African Book Festival initiiert und in diesem Jahr zum zweiten Mal gemanagt hat. Die InterKontinental Buchhandlung ist aus einer Agentur gleichen Namens hervorgegangen. So geht Zukunft.
Vor dem Hintergrund historischer Expansionen erscheinen die aktuellen chinesischen Interventionen in Afrika, die übrigens auch einen Gegenstand in Sibylle Bergs jüngstem Roman GRM – Brainfuck abgeben, im Licht einer Kontinuität. Viele Verbindungen zwischen Ostafrika und China seien im Verlauf der Jahrhunderte verlorengegangen, erklärte Owuor. Ihr chinesisches Lieblingsrestaurant auf Sansibar würde in der fünfzehnten Generation von einer Familie geführt, deren Stammvater aus China einwanderte.
Ayaana sucht in China Wurzeln. Ein DNA-Test suggerierte die Verwandtschaft mit einem Matrosen der Ming-Zeit.
Die Autorin sagte zu ihrer Heldin aus: „Sie entwickelte sich selbst gegen die Laufrichtung meiner Pläne. Ich hatte anderes mit ihr vor, folgte ihr dann aber.“
Wenn auch nicht freiwillig.
„Wann immer ich versuchte meinen Willen gegen Ayaana durchzusetzen, bestrafte sie mich mit einer Schreibblockade.“
Owuor lebt zurzeit in Berlin und schreibt gern in Berliner Bussen. Ein besonderes Faible hat sie für die Geister von Berlin. Angeblich haben alle großen Städte ihre eigenen Anderswelt-Kohorten – und jede hat ihre eigene Dunkelheit. Das ist die Diversität der Unterwelt.