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2019-05-05 06:41:15, Jamal Tuschick

Prosa der Verhältnisse #13 - Das Gefängnis bot Raum für einen digitalen Detox. Das sagte Can Dündar gestern Abend im Gespräch mit Deniz Utlu auf der Studio Я Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters.

Facetime Funeral

Can Dündar im Gespräch mit Deniz Utlu

Von links: Deniz Utlu, Tobias Herzberg, Can Dündar, Übersetzerin

Wissen Sie, was ein Facetime Funeral ist? Das erlebt man im Exil am Bildschirm. Die legale Verwandtschaft beerdigt Oma Ayse und Sie Dissident sind wie bei einer Videokonferenz dazu geschaltet. Wären Sie persönlich gekommen, säßen Sie schon in einem Staatskeller.

Wir senden weiter

Am Tag der Pressefreiheit gefiel es Erdoğan einen Sender verbieten zu lassen, dem Can Dündar Beiträge liefert. Die kleine Interventionseinheit ist schon wieder unter neuem Namen subversiv – im Auftrag der Vielen, die unter totalitären Bedingungen nach regimekritischen Informationen lechzen; die heiß sind auf den Stoff für einen Umsturz.

„Wir senden weiter.“

Verliert Erdoğan gerade die Türkei?

„Die starke Stimme der Solidarität verhindert, dass man im Schweigen ertrinkt.“

Wichtig ist Solidarität. Wichtig sind Patenschaften mit Inhaftierten. Dündar, einst Cumhuriyet-Chef und jetzt ein Exilant, der sich als Kolumnist durchschlägt und Leibwächter braucht, nahm sich die Freiheit Fragen, die Deniz Utlu gestern Abend auf der Studio Я Bühne des Maxim Gorki Theaters mit viel Feingefühl stellte, dahin zu biegen, dass sich Gelegenheiten für Appellationen ergaben.

Man muss Öffentlichkeit herstellen und der Staatsmacht medial ins Gesicht leuchten.

„Falls die Istanbuler Kommunalwahlergebnisse bestätigt werden“, sagte Dündar nicht frei von feierlichem Spott, „wissen Sie, dass die Demokratie in der Türkei noch nicht verloren ist.“

„Die Istanbuler AKP-Verluste können einen historischen Wendepunkt in der Türkei markieren. Im besten Fall ist Erdoğan dabei, die Türkei zu verlieren.“

Istanbul war die erste Festung, die Erdoğan eroberte. Erdoğan macht das organisierte Verbrechen für die Wahlergebnisse in Istanbul und Ankara verantwortlich. In Ankara wurde der Kandidat der von Kemal Atatürk gegründeten Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) trotzdem als Sieger anerkannt.

Die CHP steht für Laizismus, Säkularismus und Nationalismus. Istanbul steht für die Türkei. Wie die mit den Schmerzen der Diaspora vertraute Ece Temelkuran vor ein paar Wochen in einem Gespräch mit Dilek Güngör und im Nachgang einer Aufzählung der von „Erdoğan abgefallenen“ Städte beinah triumphierend erklärte: „Wer Istanbul regiert, dominiert die türkische Politik.“

Auch Ece Temelkuran erlebte, wie in der Türkei plötzlich kein Platz mehr für die kritische Publizistin war. Den weltweiten Durchmarsch rechter und rechtsextremer Parteien nennt Temelkuran ein „moralisches Desaster“. Rechts und rechtsextrem seien im Übrigen nur Euphemismen für Faschismus. Während lange allgemein die Vorstellung vorherrschte, der Westen habe Neunundachtzig gesiegt und nötige seither die Welt mit ihm Schritt zu halten (Francis Fukuyama), gibt sich nicht erst seit gestern das Gegenteil zu erkennen. Unter Druck geratene Demokratien experimentieren mit den Möglichkeiten der Einschränkung von Freiheitsrechten und ernten für Repressionen & Regressionen ausreichend Zustimmung.

Der 1961 in Ankara geborene Dündar berichtete im Sommer 2015 in der Cumhuriyet unter der Überschrift „Hier sind die Waffen, die Erdoğan leugnet“ über einen türkischen Geheimdienst-Lieferando.

Mörser statt Pizza

Beliefert wurden islamistische Milizen mit Munition. Offenbar ohne Beanstandungen. Man legte Dündar den Verrat von Staatsgeheimnissen zur Last und unterwarf ihn dem Freiheitsentzug in Untersuchungshaft. Vorübergehend auf freien Fuß gesetzt, beeilte sich Dündar außer Landes zu kommen.

„Zur Debatte standen zweimal lebenslänglich; nach altem Strafrecht ein Todesurteil.“

Wir, die wir unser Land lieben

Der Patriot, „wir, die wir unser Land lieben“, fühlt sich von dem Vorwurf des Verrats besonders verunstaltet.

„Aus Vaterlandsliebe engagieren wir uns für Recht und Gerechtigkeit.“

In seinem bei Hoffmann und Campe erschienenen Buch „Verräter“ klärt Dündar den Verratsbegriff zum Nachteil Erdoğans. Er beschreibt Bedingungen, in der eine Demokratie verdirbt. Zu der sämtliche Totalisierungsprozesse befeuernden Regression zählt die Fiktionalisierung der Wirklichkeit. In diesem Kontext gewinnen Verschwörungstheorien die Bedeutung von Erkenntnissen. Die Realität wird zur Standortfrage in Abhängigkeit von der Intelligenz. Hat man sich an diesen Vexierspiel gewöhnt, mögen einem Wahlfälschungen als eine aus dem freien Spiel der Kräfte geschöpfte Möglichkeit erscheinen, sich politisch zu positionieren.

Auf der Studiobühne lasen Aylin Esener und Mehmet Yılmaz ergreifende „Verräter“-Passagen.

„Ich befand mich nicht mehr in meinem Land. Ich hatte keine Arbeit, zu der ich hätte gehen können. Alles war auf einmal verschwunden.“

Erdoğans Partei gewordene Bewegung „für Gerechtigkeit und Aufschwung“ nennt sich „die Tugendhaften“. Ihrem Führer folgen die Parteigänger*innen mit religiöser Leidenschaft. Als ihr Präsident sie in der Putschnacht des 15. Juli 2016 auf die Straßen des Landes rief, kamen sie zuhauf und in Scharen. Das waren Scharen in Schlafanzügen. Sie traten gegen die Panzer der Putschisten und verfluchten die zum Umsturz befohlenen Rekruten.

Das Gefängnis bot Raum für einen digitalen Detox, berichtete Dündar.

„Im Gefängnis lässt es sich gut schreiben. Das Schreiben ist Ihr Freund. In der Isolation teilen Sie Ihr Leben mit dem Schreiben.“

„Es geht nicht darum, gefangen zu sein. Sondern darum, sich nicht zu ergeben. Nâzım Hikmet

Das Gefängnis habe eine biografische Lücke geschlossen. Nun darf sich Dündar „zur Familie der Gefängnisautor*innen“ zählen. Als Zellengenosse fühlte er sich Kafkas Gregor Samsa nah.

Wird fortgesetzt.